Sozialrecht

Eine posttraumatischen Belastungsstörung steht einer Abschiebung nach Sierra Leone nicht entgegen

Aktenzeichen  Au 4 K 17.30807

Datum:
26.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Die Tatsache, dass unterschiedliche Einzelentscheider die Anhörung vorgenommen und die Entscheidung verfasst haben, führt nicht bereits grundsätzlich zu einer Rechtswidrigkeit des Bescheides (vgl. VG München BeckRS 2016, 50961). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Tatsachenvortrag zu den Reisemodalitäten kann ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines Verfolgungsschicksals und der Glaubwürdigkeit eines Asylsuchenden darstellen (BayVGH BeckRS 2001, 24889). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine posttraumatische Belastungsstörung kommt nur zum Entstehen, wenn ein belastendes Ereignis stattgefunden hat, dessen Nachweis bei der fachärztlichen Begutachtung weder zu erbringen noch zu leisten ist; somit muss das behauptete traumatisierende Ereignis vom Schutzsuchenden gegenüber dem Tatrichter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden (BayVGH BeckRS 2017, 111545). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes oder die Feststellung von Abschiebungsverboten. Die Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind nicht zu beanstanden. Der Bescheid vom 6. Februar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der streitgegenständliche Bescheid leidet nicht deshalb an einem Rechtsfehler, weil keine Identität zwischen Anhörer und Entscheider vorlag. Die Tatsache, dass unterschiedliche Einzelentscheider die Anhörung vorgenommen und die Entscheidung verfasst haben, führt nicht bereits grundsätzlich zu einer Rechtswidrigkeit des Bescheides (vgl. u.a. VG München, U.v. 21.6.2016 – M 12 K 16.31088 – juris Rn. 43 m.w.N.). Die Trennung könnte hier auch nicht tatsächlich zu einem Rechtsfehler geführt haben (vgl. VG München, a.a.O. m.w.N.). Auf den persönlichen Eindruck vom Kläger kam es ausweislich des streitgegenständlichen Bescheids nicht an. Sein Asylantrag wurde nicht wegen fehlender Glaubhaftigkeit seines Vorbringen oder seiner Glaubwürdigkeit abgelehnt; vielmehr ist die Entscheiderin von den Angaben des Klägers ausgegangen. Eines persönlichen Eindrucks vom Kläger bedurfte es auch nicht in Bezug auf seine Angabe, er habe bereits in Sierra Leone an Depressionen gelitten. In der Sache macht der Kläger nunmehr geltend, bei den vor dem Bundesamt geschilderten „Depressionen“ in Sierra Leone handele es sich nicht um einen medizinischen Fachausdruck; seine Angaben unterschieden sich damit qualitativ von den Diagnosen, die nunmehr durch Ärzte in Deutschland ausgestellt worden seien. Allerdings ist weder vorgetragen noch ersichtlich, aus welchem Umständen sich dem Anhörer des Bundesamts hätte erschließen sollen, dass der Kläger mit der von ihm mehrfach angesprochenen „Depression“ lediglich die nunmehr geltend gemachte -gleichsam „allgemeine“ – Traurigkeit, Perspektiv- / Ausweglosigkeit und Entwurzelung gemeint hat. Vielmehr hat der Kläger zur Untermauerung seines Asylantrags offensichtlich bewusst von erheblichen Beeinträchtigungen durch
„Depressionen“ bzw. einer „seelischen Erkrankung“ berichtet; dies hat dann auch zu einer expliziten Nachfrage des Bundesamts geführt, ob der Kläger wegen seiner psychischen Probleme in Behandlung sei. Zudem hat der Kläger – worauf noch näher einzugehen ist -ärztliche Bescheinigungen erst nach der Anhörung durch das Bundesamt vorgelegt. Der Anhörer hätte also zu der Frage, inwieweit sich die von Kläger geschilderten psychischen Probleme in Sierra Leone mit den in Deutschland ausgestellten ärztlichen Diagnosen decken, den Kläger nicht befragen können. Schließlich stellt der streitgegenständliche Bescheid nicht allein darauf ab, dass der Kläger seine Erkrankung bereits vor der Ausreise gehabt habe und es keinen Unterschied mache, wo der Kläger lebe. Vielmehr würdigt der Bescheid zusätzlich das vom Kläger vorgelegte Attest von … vom 7. November 2016 (das weiter vorgelegte Attest der Frau … vom 23.12.2016 ging erst nach Bescheiderlass beim Bundesamt ein, vgl. Bl. 112 der Bundesamtsakte) und stellt zutreffend fest, dass der Kläger seit seinem Aufenthalt in Deutschland erst zwei Mal bei einem Arzt vorstellig gewesen sei. Ferner wird auf -freilich sehr eingeschränkte – Behandlungsmöglichkeiten in Sierra Leone verwiesen. Insgesamt kam die Entscheiderin unter Würdigung des Klägervorbringens, der von ihm vorgelegten Schriftstücke sowie eigener Erkenntnisse zu der Wertung, dass die Erkrankung des Klägers nicht derart schwerwiegend ist, dass ein Abschiebungsverbot festzustellen sei. Es ist nichts dafür ersichtlich, weshalb für eine solche Würdigung sämtlicher Umstände ein persönlicher Eindruck des Klägers erforderlich gewesen wäre.
Dem Kläger steht – selbst unter Zugrundelegung seines eigenen Vorbringens – kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. §§ 3 ff. AsylG oder des subsidiären Schutzstatus gem. § 4 AsylG zu. Das Vorbringen des Klägers umfasst (Leben auf der Straße) eine wirtschaftlich besonders schwierige Lebenssituation und (Verletzungen durch einen Bandenangriff) Erlebnisse durch kriminelles Unrecht. Verfolgungsgründe gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG zeigt er damit ebenso wenig auf wie die Verfolgung durch einen gem. § 3c AsylG beachtlichen Akteur. In Bezug auf § 3c AsylG gilt im Rahmen des subsidiären Schutzes nämliches (§ 4 Abs. 3 AsylG). Auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids wird im Übrigen Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG. Zunächst ist das Gericht auf Grund von Unstimmigkeiten und Widersprüchen im Vortrag des Klägers nicht der notwendigen Überzeugung, dass sein Vorbringen zu dem vom ihm in Sierra Leone Erlebten den Tatsachen entspricht. So hat der Kläger vor dem Bundesamt angegeben, er habe sich eine Geburtsurkunde aus Sierra Leone nachschicken lassen. Eine solche befindet sich mit dem Datum „1. Juni 2016“ auch in den Bundesamtsakten (Bl. 74). Allerdings hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, nur ein Mal nach Sierra Leone Kontakt gehabt zu haben und dort über Facebook erfahren zu haben, dass der Onkel seines Freundes gestorben sei. Damit liegt ein unauflösbarer Widerspruch 14 vor, denn mit der Beschaffung der Geburtsurkunde hat der Kläger zumindest ein weiteres Mal Kontakt nach Sierra Leone gehabt. Dass es dem Kläger möglich war, im Jahre 2016 eine Geburtsurkunde zu beschaffen, zeigt überdies, dass der Kläger entgegen seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung noch über derart ausgebaute Kontakte nach Sierra Leone verfügt, dass er in der Lage ist, sich ein amtliches Dokument zuschicken zu lassen. Der Kläger hat noch bei seiner ersten Befragung durch das Bundesamt am 14. Februar 2014 angegeben, keine Geburtsurkunde zu besitzen. Sonach ist es ihm offenbar von Deutschland aus gelungen, die Zusendung einer Geburtsurkunde zu organisieren. Damit wird auch einem wesentlichen Aspekt des klägerischen Vortrags die Grundlage entzogen, er sei in Sierra Leone praktisch auf sich alleine gestellt gewesen. Die Glaubwürdigkeit des Klägers wird ferner durch die unglaubhaften Angaben zur Einreise erschüttert. Der Tatsachenvortrag zu den Reisemodalitäten kann ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines Verfolgungsschicksals und der Glaubwürdigkeit eines Asylsuchenden darstellen (BayVGH, B.v. 24.9.2001 – 19 ZB 01.31192 – juris Rn. 8; OVG NRW, U.v. 3.12.1998 – 25 A 361/98.A – juris Rn. 32). Dies gilt auch im vorliegenden Fall, da der Kläger bei der Anhörung durch das Bundesamt die Flucht aus Sierra Leone per Schiff als letztliche Konsequenz des von ihm Erlebten, insbesondere des Mordes an seinem Freund und der Ausweglosigkeit – beides Umstände, die der Kläger auch im Klageverfahren und ausweislich der vorgelegten Bescheinigungen auch gegenüber den Ärzten angeführt hat – geschildet hat. Der Kläger hat angegeben, mit einem Containerschiff nach Deutschland gereist zu sein. Er habe jedoch nicht gewusst, wo das Schiff hinfahre; ebenso wenig hat er einen Ankunftshafen angeben können. Durch die ausweichenden Antworten des Klägers kann nicht näher überprüft werden, ob seine Angaben zum Reiseweg zutreffen. Damit hat der Kläger in Bezug auf einen Reiseweg Beweis vereitelndes Verhalten gezeigt. Dieses Verhalten kann zu seinen Lasten gewürdigt werden (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.1999 – 9 C 36/98 – BVerwGE 109, 174 – juris Rn. 10). Zudem ist das Vorbringen des Klägers nicht nachvollziehbar. Gerade wenn der Kläger, wie er angegeben hat, unter schwierigen Bedingungen vier Jahre auf der Straße gelebt und offenbar trotz seines jungen Alters den entsprechenden Widrigkeiten weitgehend standgehalten hat, ist nicht erklärlich, dass er, gleichsam arg- und ahnungslos, auf ein Schiff gestiegen sein und sich ihm nicht nä her bekannten Personen anvertraut haben will, ohne zuvor jedenfalls ansatzweise in Erfahrung zu bringen, welches Ziel dieses Schiff hatte.
Soweit sich der Kläger zur Begründung eines Abschiebungsverbots auf die von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen sowie die sich daraus ergebenden Behandlungsnotwendigkeiten beruft, vermag das Gericht diesen nicht zu folgen. Auszugehen ist dabei davon, dass der Grundsatz der dem Tatrichter obliegenden freien Beweiswürdigung sowohl die Würdigung des Vorbringens der Partei im Verwaltungsund Gerichtsverfahren einschließlich der Beweisdurchführung als auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste sowie die Überprüfung der darin getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit umfasst (BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Nicht nachvollziehbar ist zunächst, weshalb nähere ärztliche Bescheinigungen erstmals nach der Anhörung durch das Bundesamt am 26. Oktober 2016 vorgelegt wurden, insbesondere eine erstmalige fachärztliche Untersuchung erstmals am 21. Dezember 2016 erfolgt ist. Zwar ist ausweislich des Attests von … vom 7. November 2016 bereits im Jahre 2014 in der Kinderklinik der … eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden; auch hat 2014 ein Termin bei einem Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche, Herrn, stattgefunden. Die Klägerbevollmächtigte hat ferner einen „Nervenzusammenbruch“ des Klägers am 26. Mai 2014 angeführt. All dies hat jedoch über etwa zwei Jahre offenbar nicht zu weiteren Konsequenzen, insbesondere näheren ärztlichen oder therapeutischen Maßnahmen, geführt. Zwar mag es aus Sicht der vernommenen sachverständigen Zeugin richtig gewesen sein, für eine Therapie zunächst ausreichende Deutschkenntnisse und eine Stabilisierung des Klägers abzuwarten. Gleichwohl sind keine nachvollziehbaren Gründe erkennbar, weshalb eine nähere Behandlung des Klägers erst in Aussicht genommen wurde, als der Anhörung durch das Bundesamt stattgefunden hatte und ein Bescheid zu erwarten war. Der Kläger wurde bei der Anhörung durch das Bundesamt ausdrücklich gefragt, ob er bezüglich seiner psychischen Probleme in ärztlicher Behandlung sei. Der Kläger hat insoweit lediglich auf den Termin 2014, wohl bei Herrn, hingewiesen, nicht aber auf eine anstehende weitere ärztliche Untersuchung. Der Kläger hat ferner bei der Anhörung durch das Bundesamt angegeben, er wolle seine Ausbildung als Altenpfleger fertig machen. Bereits zu diesem Zeitpunkt (26.10.2016) können sich also mangelnde Deutschkenntnisse des Klägers und eine fehlende Stabilisierung keine Gründe mehr gewesen sein, eine ärztliche Behandlung nicht zumindest in Aussicht zu nehmen. Auch hiervon hat der Kläger jedoch nicht berichtet. Eine nachvollziehbare Erklärung für diese unschlüssige Abfolge ergibt sich, auch aus den von Klägerseite vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen sowie den Erläuterungen der sachverständigen Zeugin in der mündlichen Verhandlung, nicht.
Ferner nicht nachvollziehbar sind die für den Kläger gestellten ärztlichen Diagnosen deshalb, weil an die Substanziierung eines Vorbringens einer Erkrankung an einer posttraumatischen Belastungsstörung (sowie eines entsprechenden Beweisantrags) angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptomatik regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests zu stellen sind (BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris Rn. 15). Aus dem Attest des Allgemeinarztes … vom 7. November 2016 ergibt sich daher schon deshalb nichts zu Gunsten des Klägers, weil dieser kein Facharzt für die vom Kläger geltend gemachten psychischen Erkrankungen ist. Aber auch unter Berücksichtigung der Bescheinigung der sachverständigen Zeugin Frau … und deren Angaben in der mündlichen Verhandlung sind die notwendigen Substanziierungsanforderungen nicht erfüllt. Auch aus einem fachärztlichen Attest muss sich unter anderem nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt (BVerwG, U.v. 11.9.2007, a.a.O.); für die von der sachverständigen Zeugin angenommene komplexe posttraumatische Folgestörung kann nichts anderes gelten, weil diese offenbar auf die Diagnose (Überschrift in der ärztlichen Bescheinigung vom 23.12.2016) „Posttraumatische Belastungsstörung“ zurückzuführen ist bzw. diese voraussetzt. Die ärztliche Bescheinigung vom 23. Dezember 2016 ist jedoch insoweit unstimmig, als dort unter „Diagnosen“ von einer Untersuchung in der Kinderklinik … 2014 und „im Anschluss“ eine ambulante Psychotherapie bei Herrn … die Rede ist; auch war ein Abdruck der Bescheinigung nachrichtlich an „Herrn, Psychotherapie“ vorgesehen. Tatsächlich hat eine solche Psychotherapie bei Herrn … jedoch nicht stattgefunden. Dies mag, wie die sachverständige Zeugin in der mündlichen Verhandlung einge räumt hat, auf einem Missverständnis beruhen. Gleichwohl geht die Bescheinigung offenbar davon aus, dass im Anschluss an eine Untersuchung bei der … – gleichsam als Reaktion darauf – eine Psychotherapie erfolgt ist. Damit fehlt es an der Berücksichtigung des, wie ausgeführt, wesentlichen Umstands, dass es im Anschluss an die Untersuchungen im Jahr 2014 gerade zu keinen weiteren ärztlichen oder therapeutischen Maßnahmen gekommen ist. Auch fehlt in der Bescheinigung jeglicher Hinweis darauf, dass der Kläger nach eigenen Angaben bereits in Sierra Leone über mehrere Jahre mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen gelebt hat, gerade auch unter den Umständen, die die Fachärztin (auch) zur Grundlage ihrer Diagnose gemacht hat. Bei der Bescheinigung bzw. den Erläuterungen durch die sachverständige Zeugin wird auch der Gesichtspunkt nicht gewürdigt, dass in dem Onkel des getöteten Freundes eine Bezugsperson bestand, bei der der Kläger gerade nach dem Tod des Freundes eine Zeitlang bleiben konnte und bei der er – nach eigenen Angaben mehrere Monate – Schutz fand. Wenn der Kläger vor dem Bundesamt angegeben hat, der Onkel habe ihm nicht helfen können, so hat er damit lediglich seine psychische Situation in Bezug genommen. Die sachverständige Zeugin hat zwar angegeben, der Kläger habe ihr auch erzählt, dass er zu dem Onkel gegangen sei. In der Bescheinigung vom 23. Dezember 2016 findet sich jedoch derartiges nicht. Vielmehr ist hier davon die Rede, dass der Kläger „nur einen Kumpel“ gehabt habe, der aber umgebracht geworden sei; er habe „keine Beschützer“ gehabt. Da die sachverständige Zeugin als Ereignisse für die posttraumatische Belastungsstörung maßgeblich auch den Mord an dem Freund und das Alleingelassen anführt, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass der Kläger sowohl allgemein betrachtet als auch gerade in Bezug auf den Mord an dem Freund gerade nicht allein gelassen war, sondern eine Person hatte, bei der er sich – nach eigenen Angaben einige Monate – aufhalten konnte.
Überdies gilt, dass eine posttraumatische Belastungsstörung nur zum Entstehen kommt, wenn ein belastendes Ereignis stattgefunden hat, dessen Nachweis bei der fachärztlichen Begutachtung weder zu erbringen noch zu leisten ist; somit muss das behauptete traumatisierende Ereignis vom Schutzsuchenden gegenüber dem Tatrichter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden (BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 10 m.w.N.). Das Gericht erachtet jedoch das traumatisierende Ereignis nicht in diesem Sinne als nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht. Dem Kläger war es, wie ausgeführt, möglich, von Deutschland aus eine Geburtsurkunde aus Sierra Leone zu beschaffen. Die damit noch offenbar zu Sierra Leone vorliegenden Bezüge sprechen dagegen, dass der Kläger in seiner Heimat in einer solchen Weise allein gelassen war, wie sie zur Grundlage der ärztlichen Bescheinigung gemacht wurde. Außerdem ist, wie ebenfalls ausgeführt, das Vorbringen des Klägers in diesem Zusammenhang widersprüchlich, weil er von einem einzigen Kontakt nach Sierra Leone (nach dem Tod des Onkels) berichtet hat, aber nichts von der offenbar notwendigen Kontaktaufnahme zur Beschaffung der Geburtsurkunde. Ferner kann dem Vorbringen des Klägers, wie ebenfalls ausgeführt, in Bezug auf seine Situation in Sierra Leone angesichts der Mängel und Widersprüche im Vortrag zum Reiseweg nicht gefolgt werden.
Daneben führt der streitgegenständliche Bescheid (S. 4) zutreffend aus, dass nach höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung eine Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu werten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen können. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Zu Recht weist der streitgegenständliche Bescheid insbesondere darauf hin, dass der Kläger nach seinem eigenen Vortrag von einer bereits in Sierra Leone bestehenden „Depression“ berichtet hat. Dahin stehen kann, ob dieser Begriff, was der Kläger nunmehr der Sache nach in Abrede stellt, deckungsgleich ist mit dem bei ihm in Deutschland diagnostizierten Krankheitsbild. Entscheidend ist, dass die Umstände und Grundlagen der „Depression“ in Sierra Leone denen entsprechen, die Grundlage der ärztlichen Bescheinigungen in Deutschland gewesen sind, nämlich der Tod der Mutter, das Leben auf der Straße und die Ermordung des Freundes. Zwar mag die Ermordung des Freundes erst wenige Monate vor der Ausreise geschehen sein; dass gerade dieser – relativ neue – Aspekt maßgeblich für die psychische Situation des Klägers gewesen ist, lässt sich den von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und den Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung nicht entnehmen. Vielmehr hat die sachverständige Zeugin in einer Art Gesamtschau mehrere einzelne oder länger andauernde traumatisierende Ereignisse zu Grunde gelegt; auch in der Bescheinigung vom 23. Dezember 2016 wird nicht auf das Ein zelereignis „Mord an dem Freund“, sondern, gerade bezüglich einer „komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung“ auf eine „jahrelange Belastung im Kinder-und Jugendlichenalter“ abgestellt. Wenn aber der Kläger vor seiner Ausreise in Sierra Leone, auch mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen, leben und seinen Lebensunterhalt (durch Be- und Entladen von Containern) bestreiten konnte, ist nichts ersichtlich, was dem in Zukunft entgegenstehen könnte (vgl. BayVGH, U.v. 21.7.2006 – 25 B 05.31119 – juris Rn. 17). Die von Klägerseite vorgetragenen allgemeinen Daten zu Sierra Leone vermögen dies nicht in Frage zu stellen; dass die humanitären Bedingungen in Sierra Leone nicht die rechtliche Grenze für ein Abschiebungsverbot überschreiten, hat der streitgegenständliche Bescheid zutreffend ausgeführt; hierauf, wie auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid zu § 60 Abs. 5 AufenthG wird gem. § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 AufenthG Auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids wird erneut Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Soweit sich der Kläger auf die von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen (sowie die ärztlichen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung) beruft, gelten die obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG entsprechend. Insbesondere liegt auch kein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen vor. Gem. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen – wie hier vom Kläger geltend gemacht – nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Aus den vorgelegten ärztlichen Diagnosen in Deutschland (sowie deren Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung) ergibt sich solches – auch unter Berücksichtigung des selbstverständlichen Umstands, dass die Bescheinigungen nicht an Wortlaut und Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG orientiert sind – jedoch nicht. Zum einen erfüllen die Bescheinigungen, wie ausgeführt, nicht die rechtlich notwendigen Voraussetzungen bzw. sind die ihnen zu Grunde liegenden tatsächlichen Annahmen nicht nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht. Auch berichten die Bescheinigungen nicht von einer lebensbedrohlichen Krankheit. Zudem sollte nach dem Willen des Gesetzgebers durch die Präzisierung des Art. 60 Abs. 7 AufenthG klargestellt werden, dass nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben nach Satz 1 darstellen. Eine solche schwerwiegende Erkrankung kann in Fällen posttraumatischer Belastungsstörungen regelmäßig nicht angenommen werden. In solchen Fällen soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine Abschiebung regelmäßig möglich sein, es sei denn, die Abschiebung führt zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung (BT-Drs. 18/7538, S. 18). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Gegen eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der Vorschrift spricht, dass beim Kläger – nach einer ärztlichen Vorstellung im Jahre 2014 – mindestens zwei Jahre vergangen sind, bevor erneut ärztliche Stellungnahmen vorgelegt wurden. Eine nähere fachärztliche Betreuung hat erst Ende 2016 begonnen, wobei es insoweit zunächst nur zu einem weiteren Termin gekommen ist. Auch für eine wesentliche Verschlechterung bieten die ärztlichen Stellungnahmen keine ausreichenden Anhaltspunkte. Zwar geht die sachverständige Zeugin von einer (massiven) Retraumatisierung aus; insoweit ist jedoch erneut von Relevanz, dass der Kläger über Jahre mit nach seinen Angaben ebenfalls erheblichen psychischen Beeinträchtigungen in Sierra Leone gelebt hat, ohne dass es offenbar zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung gekommen ist. Dies gilt folglich auch bezüglich der von der sachverständigen Zeugin genannten „komplexen posttraumatischen Folgestörung“, die gerade auch auf jahrelange Belastung im Kinder-und Jugendlichenalter zurückzuführen ist, also der Situation, der der Kläger bereits in Sierra Leone über Jahre ausgesetzt war.
Insoweit ist auch nicht entscheidend, inwieweit in Sierra Leone Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Im Übrigen gilt, dass auch nach dem streitgegenständlichen Bescheid zwar ein Problem u.a. in Bezug auf Personen mit Traumata besteht; der Bescheid geht jedoch – in dieser Konkretheit nicht von der Klage in Zweifel gezogen – davon aus (S. 5), dass Unterstützungsdienste durch einige internationale und lokale Agenturen angeboten werden; auch beim Sozialministerium gebe es ein entsprechendes Zentrum. Gem. § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG muss die medizinische Versorgung im Zielstaat nicht der in der Bundesrepublik entsprechen und liegt eine ausreichende medizinische Versorgung regelmäßig auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
Auch die übrigen Entscheidungen des Bescheids (Ziffern 5 und 6) sind nicht zu beanstanden. Auf die Begründung des Bescheids wird gem. § 77 Abs. 2 AsylG erneut Bezug genommen.
Die Klage war damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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