Sozialrecht

Einstweiliger Rechtsschutz bei Aufhebung der ursprünglichen Leistungsbewilligung

Aktenzeichen  L 11 AS 742/16 B ER

Datum:
22.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 86b Abs. 1, Abs. 2
SGB II SGB II § 22 Abs. 1, § 39 Nr. 1, § 40 Abs. 2 Nr. 4
SGB III SGB III § 331 Abs. 1 S. 1
SGB X SGB X § 45

 

Leitsatz

1. Wird nach einer vorläufigen Zahlungseinstellung mit einem Rücknahmebescheid die ursprüngliche Leistungsbewilligung aufgehoben, kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht mehr in Betracht, da dann ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines gegen den Rücknahmebescheid eingelegten Widerspruchs vorrangig ist. (amtlicher Leitsatz)
2 Bei der Zahlungseinstellung handelt es sich um die Statuierung eines Zurückbehaltungsrechts, das die Fälligkeit des sich aus dem Bewilligungsbescheid ergebenden Anspruchs aufhebt und nicht durch Verwaltungsakt geltend gemacht zu werden braucht. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 9 AS 676/16 2016-10-13 Bes SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 13.10.2016 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

I. Streitig ist die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld – Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Hinblick auf das tatsächliche Bewohnen einer Wohnung.
Der Antragsteller (ASt) bezog vom Antragsgegner (Ag) Alg II. Zuletzt waren ihm auf seinen Antrag vom 10.05.2016 mit Bescheid vom 10.05.2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 16.06.2016 und 28.06.2016 Leistungen für die Zeit vom 01.06.2016 bis 31.05.2017 unter Berücksichtigung eines Bedarfs für Unterkunft und Heizung für seine Wohnung A-Straße in A-Stadt bewilligt worden. Mit Schreiben vom 15.08.2016 stellte der Ag vorläufig die Zahlung der Leistungen ein. Nach den Feststellungen des Außendienstes würde der ASt seine angemietete Wohnung nicht bewohnen. Hierfür spreche auch, dass kaum Energie für Strom und Heizung verbraucht würde. Mit Bescheid vom 14.10.2016 nahm der Ag sodann die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 01.09.2016 bis 31.05.2017 vollständig zurück. Aufgrund des sehr geringen Stromverbrauchs und der geringen Heizkosten sei festgestellt worden, dass die angegebene Wohnung nicht bewohnt würde. Soweit man den ASt bei verschiedenen Außendienstbesuchen – nach Vorankündigung – überhaupt angetroffen habe, sei dabei ersichtlich gewesen, dass er dort nicht wohne. Es seien im Antrag vom 10.05.2016 insofern zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht worden. Dagegen hat der ASt am 20.10.2016 Widerspruch eingelegt, über den nach Aktenlage bislang nicht entschieden worden ist.
Bereits am 02.09.2016 hat der ASt beim Sozialgericht Bayreuth (SG) beantragt, den Ag im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verpflichten, ihm vorläufig für September 2016 Alg II iHv 504,86 € und ab Oktober 2016 iHv 643 € monatlich zu zahlen. Das SG hat darauf den Ag mit Beschluss vom 13.10.2016 verpflichtet, für die Zeit vom 02.09.2016 bis 30.09.2016 vorläufig Alg II iHv 312,43 € und vom 01.10.2016 bis 31.05.2017 iHv monatlich 323,20 € zu zahlen. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Nur hinsichtlich der Gewährung von Regelbedarfen sei ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden. Es seien die Voraussetzungen für eine teilweise vorläufige Leistungseinstellung, die nicht durch Verwaltungsakt geltend gemacht werden müsse, gegeben. Die Bewilligungsbescheide könnten im Hinblick auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Vergangenheit nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) teilweise aufgehoben werden, da der ASt die Wohnung nach den vorliegenden Hinweistatsachen nicht bewohne. Bei der Gewährung des Regelbedarfs könne im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ein Abschlag von 20% vorgenommen werden.
Dagegen hat der ASt am 20.10.2016 Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren beantragt. Unter Abänderung des Beschlusses des SG sei der Ag zu verpflichten, vorläufig für September 2016 Alg II iHv 492,74 € und für Oktober 2016 bis Mai 2017 iHv monatlich 593,60 € zu zahlen. Eine Kürzung des Regelbedarfs komme nicht in Betracht. Es bestehe ein Anspruch auf Gewährung der Kosten der Unterkunft, da er unter seiner Meldeanschrift seinen eigenen Haushalt führe.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 SGG), aber nicht begründet. Eine Änderung des Beschlusses des SG zugunsten des ASt kommt nicht in Betracht, da der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Erfolg ist.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist vorliegend der Antrag des ASt, den Ag zu weiteren vorläufigen Zahlungen im Rahmen einer einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG) zu verpflichten. Dies ergibt sich aus dem bisherigen Streitgegenstand vor dem SG und den vom ASt gestellten Antrag in seiner Beschwerdeschrift.
Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Form einer einstweiligen Anordnung, wie sie hier beantragt ist, stellt § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG dar. Insofern hat das SG den Ag zur vorläufigen, teilweisen Fortzahlung der mit Bescheid vom 10.05.2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 16.06.2016 und 28.06.2016 bewilligten Leistungen gem. § 86b Abs. 2 SGG verpflichtet, da die vorläufige Zahlungseinstellung (§ 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 331 Abs. 1 Satz 1 SGB III) keinen Verwaltungsakt darstellt und in der Hauptsache damit eine allgemeine Leistungsklage, nicht aber eine Anfechtungsklage statthaft wäre (vgl. auch Düe in Brand, SGB III, 7. Auflage, § 331 Rn. 7). Bei der Zahlungseinstellung handelt es sich insofern lediglich um die Statuierung eines Zurückbehaltungsrechts, das die Fälligkeit des sich aus dem Bewilligungsbescheid ergebenden Anspruchs aufhebt und nicht durch Verwaltungsakt geltend gemacht zu werden braucht. Damit soll eine Aufhebungsentscheidung als endgültige Leistungseinstellung vorbereitet und im Fall des Wegfalls der gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen das Auflaufen einer Erstattungsforderung vermieden werden (vgl. dazu im Einzelnen: Beschluss des Senates vom 15.07.2015 – L 11 AS 353/15 B ER – juris – m. w. N.).
Insoweit ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 – BVerfGE 79, 69; vom 19.10.1997 – BVerfGE 46, 166 und vom 22.11.2002 – NJW 2003, 1236). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 15.01.2007 – 1 BvR 2971/06; vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 und vom 22.11.2002 – NJW 2003, 1236; weniger eindeutig BVerfG, Beschluss vom 04.08.2014 – 1 BvR 1453/12).
Ein Anordnungsanspruch ist aber nicht mehr gegeben. Mit dem Erlass des Bescheides vom 14.10.2016 hat der Ag die Leistungsbewilligung ab September 2016 bis einschließlich Mai 2017 vollständig zurückgenommen. Dies steht aber einem Leistungsanspruch (derzeit) entgegen, da der Bescheid trotz des dagegen vom ASt eingelegten Widerspruchs vom 20.10.2016 nach § 39 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG – unabhängig von dessen Rechtmäßigkeit – sofort vollziehbar ist. Der ASt kann damit aus dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid keine Leistung verlangen.
Anderes gilt erst dann, wenn in Bezug auf den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.10.2016 die aufschiebende Wirkung angeordnet würde. In den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, § 86b Abs. 1 Satz Nr. 2 SGG. Ein solcher Antrag ist im Hinblick auf § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG vorrangig vor einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, da ein letzterer nur zulässig ist, soweit nicht ein Fall nach § 86b Abs. 1 SGG vorliegt.
Bislang wurde ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 20.10.2016 gegen den Bescheid vom 14.10.2016 nicht gestellt. Als Gericht der Hauptsache iSv § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG wäre hierfür das SG zuständig. In einem solchen Verfahren wäre insbesondere zu prüfen, ob der Bescheid vom 14.10.2016 rechtmäßig ist. Dabei wäre zu beachten, dass den Ag zunächst die Feststellungslast für das Nichtbestehen eines Anspruchs auf den Regelbedarf und das Nichtbewohnen der vom ASt angemieteten Wohnung trifft, da er sich insofern auf diese Tatsachen beruft. Von Belang könnten dabei die Angaben des ASt bei seiner Befragung am 23.11.2015 sein, wonach er sich bei seiner Freundin wegen deren Kindern nicht über Nacht bzw. länger aufhalten könne. Ggf. wären in einem etwaigen Hauptsacheverfahren weitere Ermittlungen wie die Befragung von Zeugen notwendig. Fraglich erscheint auch, ob der ASt tatsächlich grob fahrlässig falsche Angaben gemacht hat.
Die Beschwerde war nach obigen Ausführungen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Aus den oben dargelegten Gründen ist die für die Bewilligung von PKH erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht der Beschwerde gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 ZPO nicht gegeben. Der Antrag auf PKH war somit abzulehnen.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

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