Sozialrecht

Erwerbsminderung, Rentenversicherung, Erkrankung, Rente, Behinderung, Krankenkasse, Bewilligung, Leistungen, Bescheid, Krankheit, Lebensunterhalt, Versicherungsschutz, Arbeitslosengeld, Eingliederungshilfe, Rente wegen Erwerbsminderung, gesetzliche Rentenversicherung, behinderte Menschen

Aktenzeichen  L 19 R 72/16

Datum:
13.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 41549
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1
SGB VI § 43 Abs. 2
SGB VI § 43 Abs. 6
SGB VI § 53 Abs. 2 S. 1
SGB XII § 95 Abs. 2

 

Leitsatz

Der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung erstreckt sich grundsätzlich auch auf sogenannte eingebrachte Leiden. Die Versicherten werden mit allen Krankheiten und Behinderungen in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen; es gibt keinen Ausschluss aus der Versicherung wegen so genannter eingebrachter Leiden (BSG Urteil vom 10.12.2003 – B 5 RJ 64/02 R).

Verfahrensgang

S 12 R 1010/13 2015-11-12 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 12.11.2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 12.11.2015 ist zulässig. Insbesondere ist der Kläger nach § 95 Abs. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) befugt, den Rentenanspruch der beigeladenen Versicherten in gesetzlicher Prozessstandschaft geltend zu machen (vgl. hierzu BSG Urteil vom 26.01.2000 – B 13 RJ 37/98 R – nach juris).
Die Berufung ist unbegründet. Denn die Beklagte hat zutreffend mit Bescheid vom 04.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2013 die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung an die beigeladene Versicherte abgelehnt, so dass im Ergebnis das Urteil des Sozialgerichts vom 12.11.2015 nicht zu beanstanden ist.
Gemäß § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI demgegenüber Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Die allgemeine Wartezeit im Sinne der § 43 Abs. 1 und 2 Nr. 3 SGB VI ist gemäß § 50 Abs. 1 S. 1. Nr. 2 i.V.m. §§ 51 Abs. 1, 54, 55 SGB VI erfüllt, wenn vor Eintritt der teilweisen oder vollen Erwerbsminderung eine Versicherungszeit von 5 Jahren zurückgelegt ist.
Dies zu Grunde gelegt hat die Versicherte keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung. Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. J. und Dr. D. ist die Versicherte zwar aufgrund der bestehenden psychiatrischen Erkrankungen und Einschränkungen auf Dauer außer Stande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein und somit voll erwerbsgemindert. Allerdings hat die Versicherte die für einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung erforderliche allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Ausweislich des unstreitigen Versicherungsverlaufes hat die Versicherte nur 43 Monate und nicht die erforderlichen 60 Monate an Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt (31 Monate vom 03.09.2007 bis 06.03.2010 wegen beruflicher Ausbildung und 13 Monate vom 10.03.2010 bis 31.12.2010 sowie vom 01.01.2011 bis 08.03.2011 Pflichtbeitragszeiten bei Bezug von Arbeitslosengeld).
Auch eine vorzeitige Erfüllung der allgemeinen Wartezeit kommt nicht in Betracht. Nach § 53 Abs. 2 S. 1 SGB VI ist die Wartezeit erfüllt, wenn Versicherte vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden oder gestorben sind und in den letzten zwei Jahren vorher mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben. Richtig ist zwar, dass bei Annahme eines Eintritts des Leistungsfalls bereits im März 2010 (06.03.2010, Ende der Berufsausbildung), 14.03.2011 (Aufnahme in die RPK-Maßnahme) oder am 20.02.2012 (letzter Tag der Kostenträgerschaft der Beklagten für die RPK-Maßnahme) die Voraussetzungen der vorzeitigen Wartezeiterfüllung nach § 53 Abs. 2 S. 1 SGB VI grundsätzlich erfüllt wären. Es wäre jeweils die volle Erwerbsminderung vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung der Schulausbildung am 20.07.2007 eingetreten (6-Jahreszeitraum vom 21.07.2007 bis 20.07.2013). Dies ergibt sich auch, falls – entgegen BSG (Urteil vom 21.06.2000 – B 4 RA 14/99 R – nach juris) – hinsichtlich des Begriffes der Ausbildung iSv § 53 Abs. 2 S. 1 SGB VI auf die versicherungspflichtige Berufsausbildung (6-Jahreszeitraum vom 07.03.2010 bis 06.03.2016) abgestellt wird. In den jeweiligen maßgeblichen Zweijahreszeiträumen wären auch mindestens 12 Pflichtbeiträge vorhanden gewesen. Auf die oben genannten Pflichtbeitragszeiten wird Bezug genommen.
Allerdings ist die Versicherte nicht vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden. Denn sie war nach Überzeugung des Senats schon vor Beginn der Berufsausbildung voll erwerbsgemindert. Der Senat geht mit Dr. D. davon aus, dass die Versicherte bereits bei Eintritt in die Rentenversicherung mit dem Beginn der Ausbildung am 03.09.2007 aufgrund des psychiatrischen Störungsbildes voll erwerbsgemindert war.
Indes bedeutet dies nicht, dass die Versicherte allein aufgrund des Vorbestehens der psychischen Störungen von der Geltendmachung des Rentenanspruches ausgeschlossen wäre. Vielmehr erstreckt sich der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich auch auf sogenannte eingebrachte Leiden. Die Versicherten werden mit allen Krankheiten und Behinderungen in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen; es gibt keinen Ausschluss aus der Versicherung wegen so genannter eingebrachter Leiden (BSG Urteil vom 10.12.2003 – B 5 RJ 64/02 R, BSG Urteil vom 04.11.1998 – B 13 RJ 13/98 R, jeweils nach juris). Allein durch das Erfordernis der Mindestbeitragszeit von 5 Jahren für die Renten wegen Erwerbsminderung erfolgt eine vom Gesetz vorgesehene faktische „Erprobung“, nach deren Ablauf ein „Herabsinken“ der beruflichen Leistungsfähigkeit insgesamt zum Eintritt eines Versicherungsfalls führen kann (vgl. BSG Urteil vom 10.12.2003 a.a.O.).
Etwas anderes gilt aber, wenn bereits bei Eintritt in die Rentenversicherung die Erwerbsminderung bestanden hat (BSG Urteil vom 10.12.2003 a.a.O.). Soweit daher Versicherte wegen angeborener, frühkindlich oder juvenil erworbener Krankheiten oder Behinderungen bereits vor Eintritt in das Versicherungsleben erwerbsgemindert waren, können sie wegen dieser Krankheiten oder Behinderungen keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente begründen.
Dass die Versicherte bereits vor Beginn der Ausbildung am 03.09.2007 aufgrund des psychiatrischen Störungsbildes voll erwerbsgemindert war, ergibt sich aus den überzeugenden Ausführungen von Dr. D.. Der vom Kläger behauptete spätere Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung der Versicherten ist dagegen nicht mit der erforderlichen Gewissheit nachgewiesen (§ 128 Abs. 1 SGG).
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten beurteilt sich nicht allein nach dessen Fähigkeit, Arbeiten zu verrichten, sondern auch nach der Fähigkeit, durch Arbeit einen auf gewisse Dauer gedachten Erwerb zu erzielen (BSG Beschluss vom 11.12.1969 – GS 2/68 – nach juris). Zu den „übliche Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ gehört daher auch, dass der Versicherte wettbewerbsfähig zu anderen Arbeitnehmern (ohne Behinderung) erwerbstätig sein kann. Hierzu ist Voraussetzung, dass der Versicherte über ein Mindestmaß an Selbstständigkeit, Ausdauer, Eigenverantwortung und Eigeninitiative verfügt.
Dies war bei der beigeladenen Versicherten bereits vor Beginn der Ausbildung am 03.09.2007 nicht der Fall. Bei der Versicherten lagen die folgenden Störungen vor.
– Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) mit Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
– Essstörung/Adipositas (F50.4)
– Emotionale Retardation (F89)
– Rezidivierende Enuresis nocturna (F98.00).
Dr. D. führt überzeugend aus, dass aufgrund des Ausmaßes dieser Störungen von einer Erwerbsfähigkeit der Versicherten vor Beginn der Ausbildung keine Rede sein kann. Er bezieht sich zutreffend auf ärztliche Unterlagen und Berichte der Einrichtungen. Die Versicherte hatte sich seit dem 02.05.2006 im A.-Zentrum befunden, einer heilpädagogisch-therapeutischen Einrichtung für Mädchen und junge Frauen. Zuvor hatte sie die Förderschule besucht und ein Berufsschulvorbereitungsjahr nicht geschafft. Nach dem Bericht des A.-Zentrums vom 30.01.2014 habe die Versicherte durch das heilpädagogisch-therapeutische Setting im A.-Zentrum (enge Kooperation von Wohngruppe, Schule und Berufsausbildung), ergänzt durch die psychotherapeutische und kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung erreichen können. Der die Versicherte seit dieser Zeit (2006) behandelnde Jugendpsychiaters Dr. K. berichtet hierzu unter dem 19.11.2009, dass die bisherige Behandlung in Form einer multimodalen Therapie sowie die institutionelle Erziehung durch intensive pädagogische Arbeit innerhalb des A.-Zentrums eine Integration in der Gruppe sowie Schule ermöglicht habe. Weiter führt Dr. K. aus, dass die Versicherte (noch im Jahr 2009) durch erhebliche Defizite im Bereich der Konzentration, Sprache und Sozialverhalten auffällig sei. Deutlich wird das Ausmaß der Beeinträchtigung im Bericht des A.-Zentrums vom 03.02.2010 zur geistig-seelischen und sozialen Entwicklung der Versicherten. Die Versicherte wäre – noch im Jahr 2010 – überfordert, wenn sie selbstständig leben müsse. Hierbei, aber auch auf dem freien (gemeint: allgemeinen) Arbeitsmarkt wäre sie überfordert; sie benötige einen gewissen geschützten Rahmen. Es mangele an Konzentration, Sprache, Sozialverhalten, Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative. Ganz offensichtlich werden die Beeinträchtigungen im Bericht des Stadtjugendamtes E-Stadt vom 18.03.2011 über die Zeit der Betreuung im A.-Zentrum ab 2006. Die Bemühungen, die Versicherte zu mehr persönlicher Reife, Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Eigeninitiative anzuleiten, hätten keinerlei Fortschritte im Entwicklungsprozess gebracht, vielmehr hätten die Anforderungen immer weiter nach unten angepasst werden müssen. Aufgrund ihrer seelischen Behinderung benötige die Versicherte mit ihren fast 21 Jahren dauerhaft einen geschützten Arbeits-, Wohn- und Lebensrahmen.
Entgegen der Auffassung des Klägers kann aus dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung zur Änderungsschneiderin nicht abgeleitet werden kann, dass die Versicherte wettbewerbsfähig und unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig werden konnte. Richtig ist zwar, dass es sich nicht um eine Ausbildung auf dem zweiten Arbeitsmarkt gehandelt hat und die Versicherte die Ausbildung unter den üblichen Prüfungsbedingungen und Prüfungskriterien vor der Handwerkskammer ausweislich des Zeugnisses vom 06.03.2010 erfolgreich abgeschlossen hat. Es kann auch unterstellt werden, dass die von der Versicherten absolvierte Berufsausbildung vergleichbare Qualifikationen und Ausbildungsinhalte beinhaltete wie eine Ausbildung in einem regulären Berufsausbildungsverhältnis.
Allerdings hat Dr. D. in Übereinstimmung mit der berufskundlichen Beraterin J. (Auskunft vom 21.05.2013) überzeugend darauf hingewiesen, dass die Versicherte nie unter normalen Bedingungen eine allgemeinbildende Schule besucht, eine Berufsausbildung absolviert oder eine Arbeitstätigkeit verrichtet hat. Der Ausbildungsabschluss ist unter sehr günstigen äußeren Bedingungen erzielt worden, die nicht einem normalen Ausbildungsverhältnis entsprochen haben. Die Versicherte hat in der Zeit vom 03.09.2007 bis 06.03.2010 im A.-Zentrum die berufliche Ausbildung absolviert und dort die interne Berufsschule (P.-Schule), eine Schule zur Erziehungshilfe, besucht. Unter den geschützten Bedingungen dieser speziellen heilpädagogischen Einrichtung und nach Verlängerung der Ausbildungszeit mit Wiederholung der Abschlussprüfung konnte die Versicherte die Ausbildung abschließen. Auch hier ist auf den Bericht des A.-Zentrums vom 30.01.2014 hinzuweisen, nach dem die Versicherte durch das heilpädagogisch-therapeutische Setting im A.-Zentrum (enge Kooperation von Wohngruppe, Schule und Berufsausbildung), ergänzt durch die psychotherapeutische und kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung erreichen konnte.
Unabhängig von den äußeren Bedingungen der Berufsausbildung ist auch maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Versicherte trotz erfolgreichen Abschlusses der Berufsausbildung aus gesundheitlichen Gründen weiterhin nicht in der Lage war, wettbewerbsfähig und unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig zu werden. Dr. D. weist überzeugend darauf hin, dass allein der erfolgreiche Ausbildungsabschluss ohne gleichzeitige Besserung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Defizite die Versicherte nicht habe befähigen können, konkurrenzfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufzutreten. Aus den vorliegen ärztlichen Unterlagen (z.B. Bericht Dr. K. vom 19.11.2009) oder sonstigen Berichten ist nicht zu entnehmen, dass sich das Ausmaß der bei der Versicherten bestehen Störungen zum Zeitpunkt des Abschlusses der Berufsausbildung geändert hätte.
Nicht gefolgt wird den Ausführungen des Dr. J. (Gutachten vom 31.10.2014), dass für die Zeit der Betreuung im A.-Zentrum ab dem 02.05.2006 die Erwerbsfähigkeit der Versicherten möglicherweise zwar als gefährdet zu betrachten gewesen sei, sich aber aufgrund der medikamentösen Therapie mit Methylphenidat primär die Behandlungsfähigkeit dargestellt habe. Die Versicherte hat von Mitte April 2006 bis März 2010 das Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat zur Behandlung des ADS-Syndroms erhalten (Bericht des Klinikums D-Stadt, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 07.08.2006, Auskunft der Betreuerin der Versicherten vom 23.04.2013). Dem im Betreuungsverfahren erstellten Gutachten ist zu entnehmen, dass die Behandlung mit Methylphenidat der Versicherten geholfen habe, die Lehre durchzustehen und erfolgreich zu beenden (Th. G. vom 16.06.2010). Auch Dr. S. vermutete unter dem 13.03.2013, dass der Widerspruch zwischen der Fähigkeit zur Berufsausbildung und den Auswirkungen und Fähigkeitsstörungen des seit Geburt bzw. seit der Kindheit bestehenden ADS so aufzulösen sei, dass die Versicherte unter der Medikation mit Methylphenidat die Berufsausbildung habe abschließen können. Allerdings hat das Sozialgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Versicherte auch unter Einnahme des Medikaments mit dem Wirkstoff Methylphenidat nicht in der Lage gewesen sei, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine reguläre Ausbildung durchzuführen. Denn trotz der Medikation hat die Versicherte den geschützten Rahmen einer spezialisierten Einrichtung und eine längere Ausbildungsdauer benötigt. Notwendig waren das heilpädagogisch-therapeutische Setting im A.-Zentrum und die psychotherapeutische sowie kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, um den Schulabschluss und die Berufsausbildung zu erreichen (Bericht des A.-Zentrums vom 30.01.2014). Dr. K. verweist darauf, dass die Behandlung in Form einer multimodalen Therapie sowie die institutionelle Erziehung durch intensive pädagogische Arbeit notwendig waren (Bericht vom 19.11.2009).
Im Übrigen stellt Dr. D. auch die Behandlungsfähigkeit des psychischen Störungsbildes (ADS) (allein) mittels der Medikation mit Methylphenidat und den Behandlungserfolg in Frage. Er widerspricht damit auch der von Dr. J. geäußerten Auffassung, eine negative Erfolgsprognose im Februar 2012 wäre nicht gerechtfertigt gewesen, wenn über den März 2010 hinaus die Verordnung von Methylphenidat erfolgt wäre. Die Versicherte hätte dann – so Dr. J. – durchaus als Putzhilfe arbeiten bzw. eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit verrichten können. Dr. D. führt aus, dass dieses Medikament zwar nach der Ausbildung der Versicherten im März 2010 abgesetzt, aber während des Aufenthaltes im Haus R. ab September 2011 wieder verordnet worden sei und die Versicherte es durchgehend bis zur Änderung der Medikation im März/ April 2013 erhalten habe (Auskunft der Betreuerin der Versicherten vom 23.04.2013, Verlaufsbericht des Hauses R. vom 04.11.2011). Das Haus R. hat unter dem 04.11.2011 berichtet, dass das Medikament bei der Versicherten „anschlage“ und von „sichtbaren Fortschritten“ bei der Teilnahme am Therapieprogramm und bezüglich der Therapiemotivation gesprochen werden könne. Dies sei nach Dr. D. aber nur als vorübergehender positiver Effekt einzuordnen gewesen, denn trotz weiterer Verordnung des Medikaments habe im Verlaufsbericht des Hauses R. vom 03.02.2012 eine eindeutig positive Prognose nicht mehr abgegeben werden können.
Entgegen der Auffassung der Klägerseite lässt sich ein Leistungsfall zu einem Zeitpunkt erst nach Eintritt der Versicherten in die Rentenversicherung nicht begründen. Der spätere Eintritt des Leistungsfalls ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass die Versicherte in der Zeit vom 16.08.2010 bis 21.08.2010 sowie vom 30.09.2010 bis 07.01.2011 eine geringfügige versicherungsfreie Beschäftigung als Putzkraft ausgeübt hat. Nach der Bescheinigung der G. GmbH vom 04.11.2010 war die Versicherte vom 16.08.2010 bis 21.08.2010 insgesamt 19,5 Stunden und mit einem Lohn von insgesamt 163,80 € tätig. Nach der Bescheinigung der F. vom 15.12.2010 waren es im September 2010 0,35 Std (Lohn 3,03 €), im Oktober 2010 14,5 Stunden (Lohn 127,76 €) und im November 2010 8,5 Stunden (Lohn 77,36 €). Unter Berücksichtigung der Angaben im Versicherungsverlauf vom 24.10.2013 verbleiben für den Dezember 2010 ein Lohn von 66,00 € (etwa 7,5 Stunden) und für Januar 2011 ein Lohn von 14,00 € (etwa 1,5 Stunden). Als Entgelt hat die Versicherte nicht mehr als den Mindestlohn bezogen (vgl. Zweite Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen in der Gebäudereinigung vom 03.03.2010, BAnz. Nr. 37 S. 951). Lediglich in der Zeit vom 16.08.2010 bis 21.08.2010 wurde eine Arbeitszeit von täglich mindestens 3 Stunden erreicht. Es ist aber ersichtlich, dass aus diesen gelegentlichen und nur vereinzelten Arbeitsstunden nicht hergeleitet werden kann, dass die Versicherte wettbewerbsfähig erwerbstätig war.
Auch aus dem Bezug von Arbeitslosengeld ergibt sich kein Anhalt für einen Leistungsfall zu einem Zeitpunkt erst nach Eintritt in die Rentenversicherung. Richtig ist, dass die Versicherte nach der Ausbildung bis zur Aufnahme im Haus R., in der Zeit vom 10.03.2010 bis 08.03.2011, durchgehend Arbeitslosengeld bezogen hat und der Bezug von Arbeitslosengeld formal voraussetzt, dass der Leistungsempfänger eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann. Allerdings ist das Leistungsvermögen der Versicherten bei Antragstellung unterstellt worden. Eine Überprüfung durch den ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit ist nicht erfolgt. Es kann dahinstehen, ob dies überhaupt tatsächlich möglich war. Die Versicherte ist nach dem 06.03.2010 von St. L. nach W-Stadt in eine Außengruppe des A.-Zentrums verzogen. Dort ist sie bis zum 12.04.2010 verblieben. Danach war sie in der WAB H-Stadt bis zum Juli 2010. In der Folgezeit hat sie bei ihrer Mutter und danach bei ihrem Freund gewohnt. Eigenbemühungen der Versicherten sind nicht erfolgt, da – so die Betreuerin unter dem 03.07.2017 – sehr schnell klar geworden sei, dass eine berufliche Rehabilitation notwendig sei.
Eine Überprüfung durch den ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit ist erst aufgrund der Vorsprache der Versicherten bei der Agentur für Arbeit am 22.12.2010 veranlasst worden. Bereits aus dem Auftragsschreiben der Sachbearbeitung vom 22.12.2010 an den ärztlichen Dienst wird das aufgehobene Leistungsvermögen der Versicherten deutlich. Nach dem Auftragsschreiben habe die Versicherte gemeinsam mit ihrer Betreuerin vorgesprochen und berichtet, dass sie unter ADS leide und keine Medikamente mehr erhalte. Seit sie diese nicht mehr bekomme, funktioniere in ihrem Leben nichts mehr. Vermerkt wurde von der Sachbearbeitung: „AM schlecht, med. oder berufl. Reha angedacht“. Unter Berücksichtigung eines Befundberichtes der P. der Psychiatrischen Klinik am E. vom 19.01.2011 ist sodann das Gutachten nach Aktenlage des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit B-Stadt vom 03.02.2011 erstellt worden. Im Ergebnis seien der Versicherten nur Tätigkeiten über 3 bis unter 6 Stunden täglich in einem geschützten Rahmen (z.B. medizinisch-berufliche Rehabilitation) zumutbar. Es liege eine schwerwiegende Leistungseinschränkung vor, die die Aussichten, am Arbeitsleben teilzuhaben oder weiter teilzuhaben, nicht nur vorübergehend wesentlich mindere.
Soweit der Kläger noch im Berufungsverfahren die Beiziehung eines Gutachtens der Agentur für Arbeit vom 06.12.2010 beantragt hat, ist darauf hinzuweisen, dass unter diesem Datum ein Gutachten nicht erstellt wurde. Dies hat die Agentur für Arbeit B-Stadt mit Schreiben vom 02.06.2017 bestätigt. Indes ist in der Leistungsakte der Agentur für Arbeit unter dem 06.12.2010 vermerkt worden, dass aufgrund der Gesamtumstände und den gesundheitlichen Einschränkungen Verfügbarkeit für den gesamten Zeitraum unterstellt werden könne. Dies bedeutet aber nicht, dass damit die Leistungsfähigkeit unterstellt wird, schon gar nicht aus ärztlicher Sicht. Vielmehr ergibt sich aus dem übrigen Akteninhalt, dass die genannte Verfügbarkeit die Erreichbarkeit der Versicherten trotz oder nach dem Umzug nach Neunkirchen a. Brand zum 01.10.2010 betrifft. Eine nähere Einordung im Sinne des § 138 Abs. 5 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) erfolgte nicht.
Dass die Beklagte die Eignung der Versicherten für die RPK-Maßnahme im Haus R. zunächst festgestellt und aufgrund der Verlaufsberichte des Hauses R. die Bewilligung dreimal bis zum 20.02.2012 verlängert hat, beinhaltet keine Aussage zur Erwerbsfähigkeit der Versicherten im Sinne des § 43 SGB VI. Die Versicherte nahm ab dem 14.03.2011 an der RPK-Maßnahme teil, d.h. an einer stationären Maßnahme in einer Rehabilitationseinrichtung für psychisch kranke und behinderte Menschen. Dr. D. weist zutreffend darauf hin, dass eine solche Maßnahme im Wesentlichen stabilisierende, trainierende, berufsvorbereitende und arbeitstherapeutische sowie soziotherapeutische Maßnahmen beinhalte und sich insbesondere an jüngere Menschen wende, die krankheitsbedingt noch nicht in der Lage seien, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Es sei nachvollziehbar, so Dr. D., dass die Beklagte bei der Antragstellung zur Kostenübernahme auch vergleichsweise geringfügige positive Effekte und teilweise Verbesserungen als Hinweise auf einen möglichen späteren Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewertet habe. Zutreffend hat das Sozialgericht hier ausgeführt, dass sich die Prognosen nur auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt beziehen und Voraussagen einer zukünftigen Entwicklung sind. Im Ergebnis sind daher weder die Kostenübernahme, noch die Verlängerungen oder die Erfolgsprognosen als Beleg für eine volle Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu den jeweiligen Zeitpunkten anzusehen. Die Annahme einer uneingeschränkten Erwerbfähigkeit wäre auch nicht mit dem Gutachten nach Aktenlage des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit vom 03.02.2011 und den Berichten der P. der Klinik für Psychiatrie des Klinikums am E. E-Stadt vom 19.01.2011 und 24.01.2011 in Übereinstimmung zu bringen. Letztlich spricht auch die der Kostenträgerschaft der Beklagten vorausgehende und auf Kosten der AOK durchgeführte medizinische Rehabilitation gegen die behauptete Erwerbsfähigkeit der Versicherten, da diese zur Heranführung und auch nur der Klärung gedient hat, ob sich berufliche Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben anschließen sollen.
All dies zu Grunde gelegt kann sich ein Rentenanspruch nur aus § 43 Abs. 6 SGB VI ergeben. Danach haben Versicherte dann Anspruch auf eine volle Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben. Da aber die Versicherte die Wartezeit von 20 Jahren (§ 50 Abs. 2 i.V.m. § 51 Abs. 1, § 54, § 55 SGB VI) nicht erfüllt hat, kommt ein Rentenanspruch nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger macht im Wege der Prozessstandschaft Rentenansprüche der beigeladenen Versicherten nach § 95 SGB XII geltend und kommt damit in den Genuss der Kostenprivilegierung nach § 183 SGG (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 183 SGG, Rdnr. 6 b m.w.N.).
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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