Sozialrecht

Fehlerhafte Berechnung der für die Startgutschrift maßgeblichen Zeiten

Aktenzeichen  M 12 K 17.2783

Datum:
22.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 55155
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SchfHwG § 31 Abs. 4, § 37 Abs. 3 S. 2
VwVfG § 48 Abs. 1 u. 4
VwGO § 67 Abs. 4 S. 4 u. 7, § 113 Abs. 1 S. 1, § 124, § 124 a Abs. 4, § 154 Abs. 1
GKG § 52 Abs. 1
ZPO § 708 f.

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Klä-ger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwen-den, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 29. Dezember 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2017, ist rechtmäßig und verletzt der Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Neufestsetzung der insgesamt erworbenen Anwartschaften des Klägers („Startgutschrift“) unter gleichzeitiger teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 12. August 2015 im angegriffenen Bescheid ist zu Recht erfolgt.
Nach § 48 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf dabei nur unter den Einschränkungen des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG zurückgenommen werden. Nach § 48 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwVfG darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder wie im vorliegenden Fall hierfür Voraussetzung ist, nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist, wobei das Vertrauen in der Regel schutzwürdig ist, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann.
1. Die konkludent durch die Festsetzung einer niedrigeren Anwartschaft erfolgte teilweise Rücknahme des Bescheids vom 12. August 2015 ist rechtmäßig.
a) Der Bescheid vom 12. August 2015 war der Höhe der festgestellten Anwartschaft nach rechtswidrig. Denn der Kläger hat nur Anwartschaften in Höhe von 310,81 Euro und nicht, wie im Bescheid vom 12. August 2015 festgestellt, in Höhe von 391,27 Euro erworben.
Gemäß § 37 Abs. 1 SchfHwG werden die erworbenen Anwartschaften der Versorgungsberechtigten auf Ruhegeld zum Stichtag 31. Dezember 2012 (…) berechnet und in Euro ausgewiesen. Die Versorgungsanstalt erteilt den Versorgungsberechtigten über die erworbenen Anwartschaften einen Bescheid.
Gemäß § 31 Abs. 4 SchfHwG können Versorgungsberechtigte, die aufgrund der Schließung der Zusatzversorgung weniger als fünf Jahre Beiträge zur Zusatzversorgung entrichtet haben, für die fehlende Zeit Beiträge an die Versorgungsanstalt nachzahlen.
Gemäß § 37 Abs. 3 Satz 2 SchfHwG ist, wenn ein Versorgungsberechtigter, der am 1. Januar 2013 bestellt war, nachweist, dass er aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, zu einem späteren Zeitpunkt als zwölf Jahre nach dem Datum seines Rangstichtages als Bezirksschornsteinfegermeister bestellt worden ist, diese Verspätung auf die Dauer seiner Beitragszahlung anzurechnen.
Vorliegend hat der Kläger sowohl von der Möglichkeit gemäß § 31 Abs. 4 SchfHwG sowie von der nach § 37 Abs. 3 Satz 2 SchfHwG Gebrauch gemacht.
Der Kläger wurde zum 1. März 2009 als Bezirksschornsteinfegermeister bestellt. Da er bis zum Zeitpunkt der Schließung des Versorgungswerks zum 31. Dezember 2012 keine fünf Beitragsjahre erreicht und die entsprechenden Beiträge nachgezahlt hat, verlagerte sich der Beginn der Betragszahlung des Klägers gemäß § 31 Abs. 4 SchfHwG fiktiv auf den 1. Januar 2008 vor.
Der Rangstichtag des Klägers ist der 10. Mai 1990. Da der Kläger nachgewiesen hat, dass er aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, zu einem späteren Zeitpunkt als zwölf Jahre nach dem Datum seines Rangstichtages als Bezirksschornsteinfegermeister bestellt worden ist, wurden ihm gemäß § 37 Abs. 3 Satz 2 SchfHwG Zeiten ab dem 10. Mai 2002 – 12 Jahre nach dem Rangstichtag – angerechnet.
Somit waren bei der Ermittlung der Startgutschrift des Klägers 60 mit Beiträgen belegte Monate für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2012 sowie 67 Monate und 21 Tage für die Zeit der unverschuldeten Nichtbestellung vom 10. Mai 2002 bis 31. Dezember 2007 – insgesamt 127 Monate und 21 Tage zu berücksichtigen.
Mit Bescheid vom 12. August 2015 hat die Beklagte rechtswidrig Anwartschaften aus 141 Monaten und 21 Tagen festgesetzt. Dabei berücksichtigte sie 60 mit Beiträgen belegte Monate für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2012 sowie 81 Monate und 21 Tage für die Zeit der unverschuldeten Nichtbestellung vom 10. Mai 2002 bis 28. Februar 2009. Fehlerhaft wurden somit 14 Monate sowohl im Rahmen der fiktiven Vorverlagerung des Beginns der Beitragszahlungen gemäß § 31 Abs. 4 SchfHwG als auch im Rahmen der Anrechnung von Zeiten der unverschuldeten Nichtbestellung berücksichtigt. Es wurden somit für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bist 28. Februar 2009 doppelt Beitragszeiten angerechnet. Diesen Fehler hat die Beklagte mit der im Bescheid vom 29. Dezember 2016 um 14 Monate verringerten Berücksichtigung von Beitragszeiten korrigiert. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auch auf die zutreffenden und plastischen Grafiken auf den Seiten 3 und 4 des Bescheides vom 29. Dezember 2016.
b) Die Beklagte hat auch entgegen dem klägerischen Vortrag die Rücknahmefrist gemäß § 48 Abs. 4 VwVfG eingehalten. Nach dieser Vorschrift ist, wenn die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhält, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen, die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig.
§ 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erfasst jeden Rechtsanwendungsfehler, also auch den Fall, in dem die Behörde bei voller Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts unrichtig entschieden hat. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut, der Regelung des § 48 Abs. 4 Satz 2 VwVfG, sowie aus dem Sinn und Zweck des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG (BVerwG großer Senat, B. v. 9.12.1984 – GrSen 1/84, GrSen 277/84 – juris).
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG beginnt erst dann zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahme außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Die bloße Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ist für den Anlauf der Rücknahmefrist nicht ausreichend. Zu den für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen gehören auch alle Tatsachen, die im Falle des § 48 Abs. 2 VwVfG ein Vertrauen des Begünstigten in den Bestand des Verwaltungsakts entweder nicht rechtfertigen oder ein bestehendes Vertrauen als nicht schutzwürdig erscheinen lassen, sowie die für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände (BVerwG B.v. 20.5.1988 – 7 B 79/88 – juris; BayVGH B.v. 27.2.2007 – 4 ZB 06.799 – juris). Die Frist beginnt demgemäß zu laufen, wenn die Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden. Das entspricht dem Zweck der Jahresfrist als einer Entscheidungsfrist, die sinnvollerweise erst anlaufen kann, wenn der zuständigen Behörde alle für die Rücknahmeentscheidung bedeutsamen Tatsachen bekannt sind (vgl. zu alledem BVerwG großer Senat, B. v. 9.12.1984, a.a.O.).
Diese Voraussetzungen waren bei der Beklagten im vorliegenden Falle, wie der in der mündlichen Verhandlung vernommene Zeuge bestätigte, frühestens im März oder April 2016 nach Kenntnis der Doppelberücksichtigung von Beitragszeiten infolge der telefonischen Mitteilung durch einen Versicherten gegeben. Frühestens mit Kenntnis dieses Fehlers bestand eine vollständige Kenntnis der Beklagten über die für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen. Durch den Erlass des Rücknahmebescheids am 29. Dezember 2016 wahrte die Beklagte damit die Frist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG.
c) Die Beklagte war an der Abänderung bzw. teilweisen Rücknahme nicht etwa deshalb nach § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG gehindert, weil der Kläger auf den Bestand des Bescheides vom 12. August 2015 schutzwürdig vertraut hat. Das Vertrauen des Klägers in den Bestand der ursprünglichen Feststellung der Höhe der Anwartschaften ist nicht nach der Regelvermutung des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG schutzwürdig. Diese Vermutung greift nach dem Gesetz insbesondere dann, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Solches ergibt sich nicht aus dem nur allgemein gehaltenen Vorbringen des Klägers, hätte er bereits bei Erlass des ersten Bescheides von der geringeren Höhe der Anwartschaft gewusst, so hätte er ggf. damals bereits eine anderweitige Ersatzversorgung abschließen können, nunmehr seien hierzu aber zwei Jahre verloren gegangen. Im Rahmen der sonach vorzunehmenden Abwägung setzt sich das öffentliche Interesse an der (teilweisen) Rücknahme der ursprünglichen Feststellung der Höhe der Anwartschaften gegenüber dem Interesse des Klägers an deren Bestand durch. Maßgebend ist insoweit die Erwägung, dass die Beklagte im Interesse des Haushaltes und der Solidargemeinschaft der Versicherten Anwartschaften nur in der Höhe festsetzen kann, in der in der Person des Empfängers die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Hinzu kommt, dass ein Vertrauensschutz auf den Fortbestand einer Rechtslage in der Zukunft nur unter besonderen Voraussetzungen anzuerkennen ist (vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 48 Rn. 138). Solche sind im vorliegenden Fall weder vorgetragen noch ersichtlich. (vgl. zu alledem BayVGH, U.v. 28.10.2016 – 21 BV 15.338 – BeckRS 2016, 117596).
d) Ermessensfehler der Beklagten sind nicht erkennbar. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 29. Dezember 2016 das ihr bei der Rücknahmeentscheidung eingeräumte Ermessen erkannt und ansatzweise ausgeübt. Sie hat mit dem Schreiben vom 3. Juli 2017 ihr Ermessens ermessensfehlerfrei im Sinne des § 114 Satz 2 VwGO nachträglich ergänzt und die Interessen des Klägers berücksichtigt.
Zudem ergibt sich vorliegend ein intendiertes Ermessen aus der oben bereits genannten Erwägung, dass die Beklagte im Interesse des Haushaltes und der Solidargemeinschaft der Versicherten Anwartschaften nur in der Höhe festsetzen kann, in der in der Person des Empfängers die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Nur dann, wenn der Behörde außergewöhnliche Umstände des Falles bekannt geworden oder erkennbar sind, die eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen, liegt ein rechtsfehlerhafter Gebrauch des Ermessens vor, wenn diese Umstände von der Behörde nicht erwogen worden sind (BayVGH, U.v. 15.3.2001 – 7 B 00.107 – juris Rn. 31). Derartige Umstände sind vorliegend nicht erkennbar.
Darüber hinaus hat die Beklagte erklärt, dass sie in allen dem Kläger vergleichbaren Fällen Rücknahmebescheide erlassen hat. Somit ist vorliegend von einer Ermessensreduzierung auf null im Hinblick auf Art. 3 GG auszugehen, da die Behörde ihr Rücknahmeermessen selbst gebunden hat, indem sie in vergleichbaren Fällen den jeweiligen Verwaltungsakt zurückgenommen hat und kein hinreichender sachlicher Grund besteht, von dieser Praxis abzuweichen (vgl. Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVfG, 1. Auflage 2014, § 48 Rn. 60 ff.)
2. Die Neufestsetzung der Anwartschaften des Klägers erfolgte wie oben unter 1. a) bereits dargestellt in rechtmäßiger Weise.
Nach alledem war die Klage daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen