Aktenzeichen L 2 P 70/15
SGB XI § 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2
SGB I § 60, § 61, § 62, § 65, § 66 Abs. 2, § 67
Leitsatz
Maßgebend für eine Beurteilung im Rahmen der Pflegeversicherung sind nicht die einzelnen Diagnosen, sondern die Funktionseinschränkungen und der daraus resultierende Hilfebedarf. Hierzu ist im Regelfall eine Begutachtung im häuslichen Bereich erforderlich. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 2 P 132/14 2015-11-12 Urt SGMUENCHEN SG München
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12. November 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet, da dem Kläger kein Anspruch auf Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung mindestens nach der Pflegestufe I zusteht. Auch eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz ist nicht gegeben.
Der Senat hält die Berufung einstimmig für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Er hat die Beteiligten auf diese Auffassung hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Der Senat konnte daher durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entscheiden. Ein Einverständnis der Beteiligten ist hierfür nicht erforderlich. Zu Recht hat das Sozialgericht München die Klage abgewiesen. Wie im Widerspruchs- und im erstinstanzlichen Verfahren war auch im Berufungsverfahren die Einholung eines Gutachtens nach Hausbesuch nicht möglich. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird daher abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG). Zutreffend hat das Sozialgericht hierbei auch gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die umfangreiche Begründung im Widerspruchsbescheid verwiesen. Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen: Unstreitig leidet der Kläger an einer Vielzahl von Erkrankungen, die auch vom MDK im Gutachten vom 1. Juli 2013 festgestellt wurden. Hierbei handelt es sich um das einzige Gutachten im maßgeblichen Zeitraum seit Antragstellung, in dem es zu einem Hausbesuch kam. Der MDK legte seiner Beurteilung als Diagnosen einen primär insulinabhängigen Diabetes mellitus, eine Polyneuropathie, fußbetont, chronische Rückenschmerzen sowie eine Darminkontinenz bei Diarrhoe zugrunde. Dr. B. hat im Berufungsverfahren in einer knappen Äußerung nach Aktenlage darauf hingewiesen, dass im Vordergrund wohl eine psychische Erkrankung, eine Gehbehinderung, eine Harntröpfelinkontinenz, eine gelegentliche Stuhlinkontinenz bei Diarrhoe sowie ein „Ganzkörperschmerzsyndrom“ stehen. Anzunehmen sei ferner das Vorliegen eines erheblichen Beeinträchtigungserlebens. Das Sozialgericht hat auch einen Befundbericht des Dr. N., auf den sich der Kläger zuletzt im Berufungsverfahren beruft, eingeholt, der auf diffuse Schmerzen an allen Extremitäten sowie im Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich, auf Depressionsschübe und Schwindelattacken verweist, ferner u.a. auf hämoroide Blutungen, Bluthochdruckspitzen, eine cerebrale Microangiopathie, Diabetes mellitus Typ 2, Arthrose im Knie und Hüftgelenk, Tinnitus, Schlafapnoe und Schulter-Arm-Syndrom. Dies deckt sich mit dessen allgemeinem Hinweis vom 5. Juli 2016 auf die vorliegenden „Befunde“. Dabei sind maßgebend für eine Beurteilung im Rahmen der Pflegeversicherung jedoch nicht die einzelnen Diagnosen, sondern die Funktionseinschränkungen und der daraus resultierende Hilfebedarf. Hierzu ist im Regelfall eine Begutachtung im häuslichen Bereich erforderlich (vgl. auch § 18 Abs. 2 S. 1 SGB XI). Der MDK hat den Hilfebedarf in der Grundpflege auf 22 Minuten eingeschätzt, wobei für die Körperpflege 15 Minuten und für die Mobilität sieben Minuten angesetzt wurden, für die hauswirtschaftliche Versorgung 45 Minuten. Ob letztere wie vom Kläger vorgebracht höher einzuschätzen ist, kann dahinstehen, da nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI in der Grundpflege beim Kläger nicht mehr als 45 Minuten anfallen. Der MDK berücksichtigte im Rahmen der Körperpflege einen Hilfebedarf von 15 Minuten beim Duschen unter Zugrundelegung einer einmal täglichen Ganzkörperreinigung. Selbst wenn man zugunsten des Klägers von einer zweimal täglichen Körperreinigung und einem fiktiven Zeitwert gemäß seinem Pflegetagebuch von 19 Minuten pro Tag ausginge, genügt dies, ausgehend von den vom MDK festgestellten 22 Minuten, für den erforderlichen Gesamtgrundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten nicht. Im Übrigen ist zu dem vom Kläger vorgelegten Pflegetagebuch festzustellen, dass dies die plausible und nachvollziehbare Beurteilung der Pflegesituation durch den MDK vom 26. August 2013 nicht in Frage zu stellen vermag. Zum einen liegen die Pflegezeitbemessungen nämlich ohne nähere Begründung über den Orientierungswerten des GKV-Spitzenverbandes, darüber hinaus wird zum anderen von überhöhten Zeitwerten für Arztbesuche ausgegangen; eine wöchentliche Regelmäßigkeit von Arztbesuchen ist gemäß den Feststellungen des MDK nicht nachgewiesen. Ferner lässt sich der geltend gemachte Hilfebedarf nicht mit den noch bestehenden Fähigkeiten in Einklang bringen, z.B. im Bereich der Ernährung.
Nach dem Gutachten des MDK kann der Kläger nämlich noch viele Tätigkeiten selbstständig durchführen, so z.B. das Aufstehen aus sitzender oder liegender Position, das Stehen mit Festhalten an einem Gehstock oder das Gehen mit Festhalten an Unterarmgehstützen. Auch die Inkontinenzversorgung war noch selbstständig möglich, die Benutzung der Toilette ist ebenfalls selbstständig möglich. Er isst und trinkt regelmäßig. In der rechten Hand bestehen lediglich Störungen der Feinmotorik. Die Sehfähigkeit ist gut.
Im Einzelnen kann der Senat aber Einwendungen des Klägers zur konkreten Pflegesituation, zu denen im Übrigen die Beklagte in dem Widerspruchsbescheid bereits eingehend und überzeugend Stellung genommen hat, dahinstehen lassen, da eine weitere Abklärung durch Einholung eines Gutachtens am Verhalten des Klägers scheiterte. An die im Rahmen des gerichtlichen Hinweises und einer Fristsetzung nach § 106 a SGG abgegebenen Erklärung, einer Begutachtung durch Hausbesuch zuzustimmen, hat sich der Kläger nicht gehalten. Weitere Ermittlungen waren somit von Amts wegen nicht möglich. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass die Beklagte die Leistung nach § 18 Abs. 2 S. 2 SGB XI verweigern konnte, da dieser eine erneute Begutachtung und Untersuchung im Widerspruchsverfahren in seinem Wohnbereich verweigert hat. Die Beklagte durfte daher das Ergebnis der Begutachtung durch den MDK vom 1. Juli 2013 zugrunde legen.
Eine Nachholung der Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 62, 65 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuchs (SGB I) war auch vorliegend weder im Verfahren vor dem Sozialgericht noch im Berufungsverfahren erfolgt, da entweder wiederholt eine Terminabsprache nicht zustande kam, Termine kurzfristig abgesagt oder dem Gutachter beim Hausbesuch nicht geöffnet wurde. Die übereinstimmenden Darlegungen der Gutachter Dr. K., Dr. B. und Dr. C. sind glaubwürdig; nach Überzeugung des Senat waren diese stets bemüht, in Absprache mit dem Kläger einen geeigneten Termin zur Begutachtung zu finden. Dabei besteht auch kein Anspruch des Versicherten darauf, erst „ab ca. 16.00 Uhr“ begutachtet zu werden. Dies tangiert auch nicht die Menschenwürde des Klägers nach Art. 1 Grundgesetz (GG), da die Gutachter die Ablehnung des Klägers gerade respektierten. Die sich daraus ergebenden Folgen einer Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten nach § 18 Abs. 2 SGB XI bzw. §§ 65 ff SGB I stehen im Hinblick auf den geltend gemachten Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber einer Solidargemeinschaft im Einklang mit Art. 1 GG.
Da der Kläger damit seine Mitwirkung nicht gemäß § 67 SGB I nachgeholt hat, ist der ablehnende Bescheid der Beklagte rechtmäßig (zum Ganzen vgl. auch: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 103 Rn. 14 a, 15). Dr. B. hat insoweit auch ausgeführt, dass eine Begutachtung nach Aktenlage im Fall des Klägers nicht sinnvoll erscheint und eine ambulante Untersuchung im Wohnbereich unerlässlich ist. Im Hinblick auf das Gutachten des MDK vom 1. Juli 2013 war eine weitere Begutachtung der Pflegesituation vor Ort durch einen Sachverständigen nötig, um begründet davon ausgehen zu können, dass die Leistungsvoraussetzungen für die Pflegestufe I gegebenenfalls doch vorliegen. Dem Kläger war offensichtlich auch klar, dass ein Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten als Voraussetzung eines Anspruchs umstritten war und er das Risiko der Nichterweislichkeit dieser Anspruchsvoraussetzungen im Sinne der objektiven Beweislast zu tragen hat (vgl. BSG vom 8. November 2005, Az.: B 1 KR 18/04 R). Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob die Regelung zur Nachholung der Mitwirkung nach § 67 SGB I im Rahmen des § 18 Abs. 2 SGB XI anwendbar ist, obwohl § 18 Abs. 2 S. 3 SGB XI nur auf die Unberührtheit der §§ 65, 66 SGB I hinweist.
Den auch im Berufungsverfahren wiederholenden Anträgen des Klägers auf erneute Begutachtung ist der Senat mit der Beauftragung des Dr. B. und der Dr. P. nachgekommen. Da sich das Verhalten des Klägers seit dem Widerspruchsverfahren stets wiederholt hat, war eine weitere Beauftragung eines Gutachters nicht mehr zumutbar, zumal hierbei auch stets Kosten anfallen. Hierauf hat der Senat am 26. September 2016 hingewiesen. Auch besteht schließlich auch kein Anspruch des Klägers gemäß § 106 SGG, seinen Hausarzt mit der Begutachtung zu beauftragen.
Gemäß § 18 Abs. 2 S. 2 SGB XI, § 66 Abs. 2 SGB I konnte die Leistung daher von der Beklagten versagt werden.
Die Feststellung einer eingeschränkten Alltagskompetenz nach §§ 45 a, b SGB XI bzw. die Gewährung von erhöhtem Pflegegeld nach § 123 SGB XI ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens, da insoweit der Klageantrag nicht darauf gerichtet war. Soweit der Widerspruchsbescheid hierbei einen Anspruch ausdrücklich ablehnte, ist dies von der Beklagten unter Bezugnahme auf das o.g. MDK-Gutachten zutreffend geschehen. Auch insoweit wäre eine erneute Begutachtung zu veranlassen gewesen. Auf die o.g. Gründe wird verwiesen.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.