Aktenzeichen L 9 AL 236/16
Leitsatz
Die für die Feststellungen des fiktiven Arbeitsentgelts (gem. § 152 Abs. 2 Satz 1 SGB III) erforderliche Bestimmung des primären Zielberufs der Vermittlungsbemühungen der Bundesagentur für Arbeit bestimmt sich in erster Linie nach der erworbenen beruflichen Qualifikation. Diese wiederum manifestiert sich vor allem im formellen Ausbildungsabschluss des/der Arbeitslosen.
Verfahrensgang
S 5 AL 254/16 2016-11-11 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 11. November 2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Zurecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG. Er hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung ist nicht erforderlich. Das Ergebnis des Rechtsstreits erscheint klar und der Kläger hatte ausreichend Gelegenheit, seine Sicht der Dinge darzulegen; das hat er auch getan, insbesondere im Erörterungstermin über seinen Prozessbevollmächtigten. Zudem hat das Sozialgericht durch Urteil entschieden; es liegt also kein Fall des § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG vor (vgl. § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG). Die Beteiligten sind vorher gehört worden (§ 153 Abs. 4 SGG). Die Entscheidung hat bereits vor dem angekündigten Termin 27.01.2020 ergehen können, weil der Prozessbevollmächtigte des Klägers sich bereits mit Schriftsatz vom 08.01.2020 erkennbar abschließend geäußert hatte.
Die Berufung ist unbegründet. Der Senat lässt offen, ob überhaupt die Voraussetzungen dem Grunde nach für die Gewährung von Arbeitslosengeld vorlagen. Insoweit bestehen erhebliche Zweifel, ob der Kläger beschäftigungslos war. Denn das Arbeitsverhältnis zur C. dauerte auch noch nach Auslaufen des Verletztengelds fort; in der Arbeitsbescheinigung der Arbeitgeberin ist von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht die Rede. Zudem hat die Firma am 14.07.2016 per E-Mail bei der Beklagten nachgefragt, wieso diese von einem Anspruch des Klägers gegen sie auf Urlaubsabgeltung, Arbeitsentgelt oder Abfindung ausgehe. In der Arbeitsbescheinigung hat die C. die Frage, ob der Kläger unwiderruflich freigestellt worden sei, verneint. Allem Anschein nach bestanden Direktionsrecht und Verfügungsbefugnis der Arbeitgeberin also ohne Einschränkung fort.
Darauf kommt es jedoch nicht an. Denn jedenfalls hat die Beklagte die Höhe des Arbeitslosengelds zutreffend gemäß § 152 SGB III berechnet und den Kläger dabei korrekt in die Qualifikationsgruppe 4 eingestuft. Auch im Übrigen ist die Ermittlung der Leistungshöhe nicht zu beanstanden.
In der Tat hat die Leistungshöhe auf der Grundlage von § 152 SGB III fiktiv errechnet werden müssen. Insoweit wird vollumfänglich auf die Begründung des Sozialgerichts verwiesen und von einer eigenen Begründung abgesehen (vgl. § 153 Abs. 2 SGG). Dazu besteht zwischen den Parteien auch keinerlei Dissens. Und zurecht hat die Beklagte in diesem Rahmen für den Kläger Qualifikationsgruppe 4 angewandt. Das Sozialgericht hat die abstrakten rechtlichen Vorgaben vollständig und richtig dargestellt; weitere Ausführungen dazu wären unnötige Wiederholung.
Die konkrete Anwendung dieser allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen auf den vorliegenden Fall bestätigt voll und ganz das von der Beklagten gefundene Ergebnis. Denn die bestmögliche Vermittlung (vgl. dazu BSG, Urteil vom 03.12.2009 – B 11 AL 42/08 R, Rn. 15 des juris-Dokuments), welche die Beklagte für den Kläger hat versuchen können und dürfen, war die in eine ungelernte Tätigkeit. Wie das Sozialgericht richtig dargestellt hat, bestimmt sich der primäre Zielberuf der Vermittlung in erster Linie nach der erworbenen beruflichen Qualifikation, die sich wiederum vor allem in einem formellen Ausbildungsabschluss manifestiert.
Im Erörterungstermin am 13.12.2019 hat der Vorsitzende folgenden rechtlichen Hinweis erteilt und in die Sitzungsniederschrift aufgenommen: „Maßgebend für die Qualifikationsstufe ist, auf welche Arbeitsplätze die Agentur für Arbeit in erster Linie vermitteln muss. Insoweit kommt es ganz maßgeblich auf den formellen beruflichen Abschluss an. Es ist zwar richtig, dass es nicht generell ausgeschlossen ist, jemanden, der sich durch Berufstätigkeit quasi eine höhere Qualifikation angeeignet hat, auch über dem formalen Bildungsabschluss zu vermitteln. Jedes Ansinnen in diese Richtung erscheint aber im Fall des Klägers unangebracht. Denn der Kläger litt zum maßgeblichen Zeitpunkt an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an einer mittelgradigen Depression. Eine Vermittlung in einen Facharbeiterberuf erscheint angesichts dessen illusorisch. Ich empfehle, die Berufung zurückzunehmen.“
Im gerichtlichen Schreiben vom 23.12.2019 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der Vorsitzende wie folgt ausgeführt:
„Herr A. kann schlechterdings nicht erwarten, dass ihn die Agentur für Arbeit primär in einen Beruf vermittelt, für den er nicht die formelle Qualifikation besitzt, wenn er dazu noch recht schwer psychisch krank ist. Die Depressionen des Klägers schließen es von vornherein aus, ihn primär als Facharbeiter – das wäre ja Qualifikationsstufe 3 – zu vermitteln. Die Agentur für Arbeit würde sogar ihre Vermittlungspflichten verletzen, würde sie eine Person wie Herrn A. derart krass der Gefahr der Überforderung aussetzen. Insoweit spielt keinerlei Rolle, was Herr A. bei seinem letzten Arbeitgeber tatsächlich gemacht hat. Eine Anfrage beim Arbeitgeber, wie von Ihnen gewünscht, wird es daher nicht geben.“
Mit diesen rechtlichen Hinweisen, die sich der Senat ohne jede Einschränkung zu eigen macht, ist das Wesentliche gesagt. Der Kläger war für eine Tätigkeit, für die der erfolgreiche Abschluss einer Berufsausbildung Voraussetzung ist, nicht vermittelbar; eine derartige Vermittlungstätigkeit hätte keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt. Vielmehr hätte die Beklagte grob ihre Pflichten aus § 35 Abs. 2 SGB III verletzt, hätte sie eine entsprechende Vermittlung versucht und damit den Kläger der massiven Gefahr einer Überforderung ausgesetzt.
Nicht nachvollzogen werden kann, aus welchem Grund der Prozessbevollmächtigte des Klägers trotz dessen offenbar gravierender psychischer Leistungseinschränkung unverdrossen reklamiert, die Vermittlung habe primär in eine Tätigkeit erfolgen müssen, für die dieser nicht den formalen Ausbildungsabschluss aufweise. Das verwundert vor allem deswegen, weil der Prozessbevollmächtigte im Erörterungstermin zu den entsprechenden Vorhalten des Senats vollständig geschwiegen hat – nach dem Eindruck des Vorsitzenden deswegen, weil ihm kein Gegenargument zur Verfügung gestanden hat. Dennoch hat er auf den nochmaligen schriftlichen Hinweis des Gerichts vom 23.12.2019 ohne jede Begründung – offenbar noch immer ohne Gegenargument – lapidar geäußert, er halte an der Berufung fest. Hier scheint das „Durchfechten“ des Streits Selbstzweck zu sein.
Im Interesse einer vollständigen Begründung weist der Senat auf eine Rechtsprechung hin, die das Problem berührt, inwieweit krankheitsbedingte Einschränkungen der Vermittelbarkeit bei der Festlegung der Qualifikationsgruppe zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt werden dürfen. Das Sozialgericht Karlsruhe hat im Urteil vom 15.02.2016 – S 5 AL 2222/15 unter Berufung auf Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.01.2014 – L 3 AL 705/13, Rn. 26 des juris-Dokuments) ausgeführt, grundsätzlich könnten gesundheitliche Einschränkungen auch für die Zuordnung zu einer Qualifikationsgruppe nach § 152 Abs. 2 SGB III von Bedeutung sein. Denn es wäre sinnlos, erstreckte die Agentur für Arbeit ihre Vermittlungsbemühungen in erster Linie auf eine Beschäftigung, die den Arbeitslosen mittlerweile gesundheitlich überfordere (Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 15.02.2016 – S 5 AL 2222/15, Rn. 26 des juris-Dokuments). Das allerdings, so das Sozialgericht Karlsruhe, sei anders, wenn Arbeitslosengeld auf der Grundlage des § 145 SGB III geleistet werde (Sozialgericht Karlsruhe, a.a.O., Rn. 27 des juris-Dokuments).
An dieser Stelle bedarf es keiner Festlegung, ob und inwieweit man sich der Rechtsprechung des Sozialgerichts Karlsruhe anschließen kann. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, ob Krankheiten bei der Feststellung des primären Zielberufs eventuell außer Betracht bleiben müssen, von vornherein nur in dem Kontext, dass die Einstufung in eine niedrigere Qualifikationsgruppe, als sie dem formalen Ausbildungsabschluss entspräche, erwogen wird. Hier geht es jedoch im Gegenteil darum, dass der Prozessbevollmächtigte systemwidrig eine höhere Qualifikationsgruppe fordert. Insoweit wäre es trotz § 145 SGB III abwegig zu verlangen, der Kläger müsse als gesund fingiert werden.
Allein schon deshalb hat es sich für den Senat erübrigt, bei der Arbeitgeberin Erkundigungen zur beruflichen Tätigkeit des Klägers einzuholen. Selbst wenn diese den Erwerb beruflicher Erfahrungen bestätigt hätte, die einem formalen Ausbildungsabschlusses entsprächen, stünde die schwere psychische Beeinträchtigung des Klägers der primären Vermittlung in einen Ausbildungsberuf entgegen. Zum Zeitpunkt der (vermeintlichen) Anspruchsentstehung litt der Kläger immer noch an einer posttraumatischen Belastungsstörung und befand sich zudem in einer mittelgradigen depressiven Episode. Zu diesem Zeitpunkt war er offenbar sogar noch weit davon entfernt, seine vertraute Tätigkeit bei der C. verrichten zu können. Wie sollte er dann mit einer anspruchsvolleren neuen Arbeit zurechtkommen? Nur ergänzend und als „nicht tragende“ Erwägung macht der Senat darauf aufmerksam, dass auch dann, wenn der Kläger psychisch voll belastbar gewesen wäre, der Amtsermittlungsgrundsatz nicht unbedingt eine Anfrage bei der Arbeitgeberin geboten hätte. Denn der Prozessbevollmächtigte selbst hat es versäumt, durch hinreichend substantiierten Vortrag diesen Ermittlungsschritt in irgendeiner Weise nahezulegen. Fakt ist, dass der Kläger lediglich in einer Ziegelei gearbeitet hat. In Bezug auf die Herstellung von Tonziegeln assoziiert man die dafür notwendigen Maschinen nicht mit digitalem Hightech, sondern eher mit gröberen und einfacheren Apparaten. Unverständlicher Weise hat der Prozessbevollmächtigte an keiner Stelle seines Vortrags auch nur angedeutet, mit welchen Maschinen der Kläger konkret umgegangen ist. So könnte es sich ja auch nur um einen Gabelstapler oder einen einfachen Ladekran gehandelt haben; der ungenügende Vortrag des Prozessbevollmächtigten öffnet jeder Spekulation Tür und Tor. Nur wenn dieser selbst den Gerichten nähere konkrete Anhaltspunkte vermittelt hätte, der Kläger könnte tatsächlich anspruchsvollere und „ausbildungs- und fortbildungsintensivere“ Maschinen bedient haben, hätte aus Sicht der Gerichte überhaupt erst Anlass entstehen können, eine Arbeitgeberanfrage zu veranlassen. Der Prozessbevollmächtigte hat diese Vorleistung in keiner Weise erbracht. So gesehen verlangt er gleichsam, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sollten „ins Blaue hinein“ ermitteln.
Ein weiterer „nicht tragender“ Aspekt: Die Annahme des Prozessbevollmächtigten, der Kläger habe durch seinen langjährigen Umgang mit Maschinen, die zum Ziegeleiinventar gehören, Berufserfahrungen erworben, die einem formellen Berufsabschluss gleichkämen, mutet prima vista lebensfremd an. Es mag sein, dass der Kläger mit seiner Maschinistentätigkeit in einem schmalen Segment Spezialkenntnisse erworben hat. Das aber indiziert allenfalls einen Anlernberuf, nicht aber die Qualität einer dreijährigen Berufsausbildung. Der Prozessbevollmächtigte vergisst, dass sich Ausbildungsberufe gerade auch durch die Breite der erworbenen Kenntnisse auszeichnen. Daran dürfte es beim Kläger fehlen. Bezeichnender Weise unterstreicht der Prozessbevollmächtigte stets nur eine besondere „Verantwortung“ und „Konzentration“. Dass diese Anforderungen nicht geeignet sind, eine Gleichwertigkeit mit einem Ausbildungsberuf auch nur im Ansatz zu erzeugen, liegt auf der Hand.
Dem im letzten Absatz der Berufungsschrift formulierten Beweisantrag musste der Senat nicht entsprechen. Einiges spricht dafür, dass es sich um keinen Beweisantrag im rechtlichen Sinn handelt, weil das Beweisthema nicht hinreichend klar formuliert ist. Jedenfalls hat es der Prozessbevollmächtigte versäumt, den Beweisantrag am Ende des Berufungsverfahrens nochmals geltend zu machen. Dazu hätte eine rechtliche Obliegenheit bestanden, hätte er daran festhalten wollen. Im Erörterungstermin hat der Vorsitzende mehrfach geäußert, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werde keine Arbeitgeberauskunft eingeholt. Darauf hat der Prozessbevollmächtigte im Termin sinngemäß erwidert, er hielte eine Anfrage sehr wohl für eine gute Sache; den Beweisantrag erneuert hat er dagegen nicht. Im gerichtlichen Schreiben vom 23.12.2019 ist dem Prozessbevollmächtigten dann definitiv mitgeteilt worden, dass es zu keiner Arbeitgeberanfrage kommen werde. Hätte dieser an dem Beweisantrag festhalten wollen, hätte dies unbedingt im Schriftsatz vom 08.01.2020 geltend gemacht werden müssen (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/ders. Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, § 160 Rn. 18c). Der Prozessbevollmächtigte hat indes nur geschrieben, die Berufung bleibe aufrechterhalten und mit einer Entscheidung ohne weitere Verhandlung bestehe Einverständnis.
Ganz unabhängig davon wäre der Beweisantrag wegen Wahrunterstellung abzulehnen. Legt man das vom Prozessbevollmächtigten (unklar) formulierte Beweisthema im Interesse des Klägers dahin aus, es gehe um die Tatsache, dass die Tätigkeit des Klägers bei der C. im Lauf der Jahre das Niveau eines Ausbildungsberufs erreicht habe, dann kann dies unterstellt werden, ohne dass es auf das Ergebnis von Einfluss wäre. Denn jedenfalls war die Vermittlung in eine solche höherwertige Tätigkeit aufgrund der massiven psychischen Beeinträchtigung des Klägers ausgeschlossen. Die Berufungsschrift ist eindeutig so formuliert, dass nicht auch der defizitäre Gesundheitszustand im Beweisthema hat Berücksichtigung finden sollen – wobei die C. diesbezüglich ohnehin nicht in der Lage wäre, den Sachverhalt zu erhellen (untaugliches Beweismittel).
Die Ermittlung der Leistungshöhe durch die Beklagte begegnet auch im Übrigen keinen rechtlichen Bedenken. Insoweit verweist der Senat auf die Begründung des Sozialgerichts.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Fortführung des Rechtsstreits erfüllt nach Ansicht des Senats den Tatbestand der missbräuchlichen Prozessführung im Sinn von § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Von der Erhebung von Verschuldenskosten ist dennoch abgesehen worden, weil dies die Erledigung des ohnehin alten Falls noch weiter verzögert hätte.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.