Sozialrecht

Kein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 238/16

Datum:
22.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 119444
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

Allein der Umstand, dass nach türkischem Recht ein Behindertenstatus von 80% zuerkannt worden ist, reicht nicht aus, um hieraus Rückschlüsse auf das rentenrechtlich relevante Leistungsvermögen zu ziehen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 3 R 51/15 2016-03-16 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 16.03.2016 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -), sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt worden. In der SG-Akte findet sich zwar kein Nachweis, wann der Gerichtsbescheid dem Kläger in der Türkei zugestellt wurde. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 16.03.2016 über die Klage entschieden, so dass gemäß § 87 Abs. 1 S. 2 SGG eine 3-Monatsfrist in Lauf gesetzt wurde. Die hiergegen am 07.04.2016 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegte Berufung ist somit jedenfalls innerhalb der relevanten Rechtsmittelfrist erfolgt.
Die Berufung des Klägers ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 16.03.2016 einen Anspruch des Klägers auf volle Erwerbsminderungsrente abgelehnt. Der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.12.2014 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat weder aus medizinischen noch aus rechtlichen Gründen einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gegen die Beklagte.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Senats ist weiterhin davon auszugehen, dass der Kläger in der Lage ist, noch mindestens drei Stunden täglich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Der Kläger hat keine neuen Umstände vorgetragen, die ein Absinken seines quantitativen Leistungsvermögens auf unter drei Stunden rechtfertigen würden. Allein der Umstand, dass ihm in der Türkei ein Behindertenstatus von 80% zuerkannt worden ist, reicht nicht aus, um hieraus Rückschlüsse auf sein rentenrechtlich relevantes Leistungsvermögen zu ziehen. Die Beklagte hat aufgrund des Rentenantrages vom Januar 2014 eine ärztliche Begutachtung des Klägers durch den türkischen Rentenversicherungsträger veranlasst. In Auswertung dieses Gutachtens hat die Beklagte ein drei- bis unter sechsstündiges Leistungsvermögen angenommen. Eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlimmerung ist nicht eingetreten. Zu dem gleichen Ergebnis ist das SG nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen aufgrund des Gutachtens nach Aktenlage von Dr. Dr. S. gekommen. Dieser legt in seinem Gutachten nachvollziehbar dar, dass eine Verschlimmerung der Haupterkrankung des Klägers, nämlich einer genetisch bedingten Anämie, nicht eingetreten ist. Die Behandlung gewährleistet einen nahezu gleichbleibenden HB-Wert zwischen 7 und 8 g/dl. Bei der letzten Begutachtung im Universitätsklinikum A. im September 2014 sei ein Hämoglobinwert von 7,4 g/dl bestimmt worden. Dies stellt keine weitere Verschlechterung dar. Spezifische Organkomplikationen sind nicht feststellbar. Der Diabetes mellitus, der seit Mitte 2010 neu hinzugekommen ist, wird gegenwärtig durch orale Medikation ausreichend behandelt, Hinweise auf relevante gesundheitliche Komplikationen bestehen nicht. Auch der zwischenzeitlich diagnostizierten Augenerkrankung kommt gegenwärtig keine sozialmedizinische Relevanz zu.
Der Kläger hat im Rahmen der Berufungsbegründung keine neuen Umstände vorgetragen, die zu einer Abweichung von der bisherigen sozialmedizinischen Beurteilung Anlass geben würden. Insbesondere sieht der Senat keine Notwendigkeit, ein weiteres ärztliches Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen. Deshalb ist von dem bisher festgestellten Leistungsvermögen des Klägers weiterhin auszugehen, wonach der Kläger zwar seine zuletzt versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Maurer nicht mehr verrichten kann. Für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verfügt er aber trotz seiner Erkrankungen noch über ein zeitliches Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden, wenn auch unter Beachtung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen.
Dieses beim Kläger bestehende quantitative Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden führt dazu, dass sozialmedizinisch eine teilweise Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI vorliegt und er deshalb Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gegen die Beklagte hat. Da sich nach den vorliegenden ärztlichen Sachverständigengutachten der Zustand auch nicht mehr verbessern wird, ist ihm diese Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch auf Dauer zu gewähren (§ 102 Abs. 2 SGB VI).
Dem Kläger steht keine volle Erwerbsminderungsrente aus rechtlichen Gründen unter dem Aspekt der sog. Arbeitsmarktrente mehr zu.
Die Besonderheit im vorliegenden Fall beruht darauf, dass der Kläger mit seinem Leistungsbild von drei bis unter sechs Stunden aufgrund der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG – eine sogenannte arbeitsmarktbezogene Rente wegen voller Erwerbsminderungsrente erhalten hat, solange er sich in dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hat. Nach ständiger und auch weiterhin geltender Rechtsprechung des BSG ist davon auszugehen, dass ein Versicherter mit einem Leistungsvermögen von mehr als drei Stunden, jedoch weniger als sechs Stunden – und somit mit einer teilweisen Erwerbsminderung – nur noch Teilzeitbeschäftigungen ausüben kann, der bundesdeutsche Arbeitsmarkt jedoch für Teilzeitbeschäftigungen als verschlossen anzusehen ist, dahingehend, dass es nicht ausreichend Arbeitsplätze gibt, die eine Teilzeitbeschäftigung für erwerbsgeminderte Versicherte ermöglichen, also der Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen anzusehen ist. Es ist deshalb davon auszugehen, dass ein teilweise erwerbsgeminderter Versicherter – wie der Kläger – mit seinem verbliebenen Restleistungsvermögen nicht mehr in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt ausreichend sicherzustellen, weil er entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten wahrscheinlich auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt nicht finden würde. Die dem Kläger von der Beklagten bis Juli 2009 gewährte Rente war deshalb eine sog. „arbeitsmarktbezogene Rente wegen voller Erwerbsminderung“.
Nach § 112 SGB VI erhalten Versicherte eine Erwerbsminderungsrente auch, wenn sie sich dauerhaft im Ausland aufhalten, wie hier der Kläger in der Türkei, jedoch nur in dem Umfang wie die Rente unabhängig von der Arbeitsmarktlage zustehen würde, d. h. nur in dem Umfang, der sich ausschließlich aus medizinischen Gründen ergibt, also beim Kläger im Umfang einer teilweisen Erwerbsminderung mit einem quantitativen Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden, aber von mehr als drei Stunden täglich. Diese Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hat ihm die Beklagte auch auf Dauer zuerkannt.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die Regelungen des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens (Abkommen vom 30.04.1964 (BGBl II 1965 S. 1169) in der Fassung des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 (BGBl II 1986, S. 1038)) eine Berücksichtigung der türkischen Arbeitsmarktsituation nicht zulassen, also eine Art Gleichstellung des türkischen und des deutschen Arbeitsmarktes rechtlich nicht möglich ist und auch unter diesem Aspekt die Rente nur in dem Umfang zu zahlen ist, wie sie ohne die Berücksichtigung des Arbeitsmarktes, also rein aus sozialmedizinischen Gründen, zu zahlen wäre (Art. 28 Abs. 7 des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens).
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Bayreuth vom 16.03.2016 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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