Aktenzeichen L 19 R 1047/14
Leitsatz
1. Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.
2. Psychische Erkrankungen sind erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe.
3 Sind bei einem psychisch Erkrankten die Behandlungsmöglichkeiten auf psychiatrischem und psychotherapeutischem Fachgebiet bei weitem nicht ausgeschöpft, ist auch eine dauerhaft vorliegende zeitliche Leistungsminderung ist nicht hinreichend nachgewiesen. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 15 R 86/13 2014-11-05 Endurteil SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 05.11.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch eine Rente wegen Erwerbsminderung hat, und auch in der Folgezeit ist ein derartiger Anspruch nicht nachgewiesen.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt nach § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) voraus, dass ein Versicherter voll erwerbsgemindert ist, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufzuweisen hat und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat der Kläger bei Rentenantragstellung im Mai 2012 unproblematisch erfüllt gehabt. Ausgehend vom Versicherungsverlauf vom September 2015, wären die besonderen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI allerdings letztmals bei einem medizinischen Leistungsfall im Februar 2017 erfüllt gewesen. Ob sie tatsächlich bis zu diesem Zeitpunkt bestanden haben, schon früher weggefallen sind oder aktuell noch vorliegen, konnte dahingestellt bleiben, da die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen nicht nachgewiesen sind und somit ein medizinischer Leistungsfall als Ausgangspunkt für die Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht existiert. Es kam somit weder darauf an, ob der Kläger noch weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hätte vorlegen können, noch ob eine zeitliche Beschränkung des Umfangs für die Berücksichtigung derartiger Zeiten zu beachten wäre.
Hinsichtlich der medizinischen Anspruchsgrundlagen führt § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI aus, dass Versicherte voll erwerbsgemindert sind, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Sämtliche gutachterliche Äußerungen bis zum Berufungsverfahren sind einhellig der Auffassung gewesen, dass der Kläger – unter Berücksichtigung eingeschränkter Arbeitsbedingungen – auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne zeitliche Einschränkung einsatzfähig war. Die gegenläufige Äußerung des behandelnden Arztes Dr. E. in seinem Attest von November 2012, der eine zeitliche Einschränkung auf weniger als 3 Stunden täglich aus dem Wirbelsäulenleiden, der Polyarthrosis und Unfallfolgen herleiten will, ist nicht näher ausdifferenziert und vermag in keiner Weise zu überzeugen. Eine Herleitung der Einschränkung aus den Befunden erfolgt nicht bzw. ist nicht nachvollziehbar. Damit ergibt sich für den Senat, dass die angefochtenen Bescheide und die erstinstanzliche Entscheidung für den zurückliegenden Zeitraum vor 2016 nicht zu beanstanden sind und weder volle, noch teilweise Erwerbsminderung vorgelegen hatte.
Der Senat ist weiter zur Überzeugung gelangt, dass auch nicht durch eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des Klägers oder durch neue diagnostische Erkenntnisse in der Folgezeit die Erfüllung der medizinischen Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nachgewiesen ist. Die beiden im Jahr 2016 erstellten Gutachten des Dr. J. und der M. G. legen den Schwerpunkt auf die psychischen Störungen beim Kläger und deren Auswirkungen auf den Einsatz im Erwerbsleben. Aktuell seit der Untersuchung bei Dr. J. im April 2016 werden verstärkte Einschränkungen des Leistungsvermögens des Klägers im Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung beschrieben. Die ebenfalls angeführten Traumafolgestörungen sind dagegen nur schwer fassbar, weil weder eine oder mehrere typische Traumasituationen herausgearbeitet worden sind, noch entsprechende Folgen wie systematische Flashbacks belegt sind. Die zunächst von Dr. J. angesprochene komplexe Traumafolgestörung im Zusammenhang mit Belastungen als Kind aber auch im Erwerbsleben bis hin zum Mobbing bleibt somit nur schlecht greifbar. Für den Senat entscheidend ist aber, dass trotz der Annahme einer komplexen Traumafolgestörung Dr. J. in sozialmedizinischer Hinsicht ein hinreichendes Leistungsvermögen des Klägers jedenfalls für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bejaht, auch wenn er zunächst eine – längerfristige – Behandlung des Klägers für erforderlich ansieht.
Den Ausführungen der M. G. vermag der Senat nicht in vollem Umfang zu folgen, wobei er insbesondere die Einwände der Dr. K. für bedeutsam und auch durch die ergänzende Stellungnahme der M. G. nicht als widerlegt ansieht. Insbesondere bestehen im Gutachten der M. G. an einer ganzen Reihe von Punkten Widersprüchlichkeiten und Ungenauigkeiten: So sieht sie in ihrem Gutachten die Chancen einer Behandlung des Klägers zunächst nicht für realistisch gegeben, wobei sie zwar an sich ebenfalls offene Behandlungsoptionen beschreibt, aber meint, dass der Kläger wegen seiner Persönlichkeitsstörung diese nicht nutzen könne. In ihrer ergänzenden Stellungnahme geht sie dann aber von zunächst auf 3 Jahre befristeten Einschränkungen aus, was aber doch einen möglichen Behandlungserfolg einbezieht. Ebenso spricht sie zunächst von einem auf unter 3 Stunden herabgesunkenen Einsatzvermögen, später davon, dass der Kläger nicht mehr als 3 Stunden dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Weiter werden bei der Auseinandersetzung mit Vorgutachten und Stellungnahme des ärztlichen Dienstes Behandlungsdatum und Datum der Gutachtenerstellung vermischt und Namen falsch wiedergegeben.
Von zentraler Bedeutung für die Frage der Rentengewährung ist für den Senat in diesem Zusammenhang, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89, BSG Urteil vom 29.02.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils juris, BayLSG Urteil vom 18.01.2017 – L 19 R 755/11 mwN – juris, LSG Baden-Württemberg Urteile vom 22.09.2016 – L 7 R 2329/15, 25.05.2016 – L 5 R 4194/13 und 27.04.2016 – L 5 R 459/15 – jeweils juris). Beim Kläger sind die Behandlungsmöglichkeiten auf psychiatrischem und psychotherapeutischem Fachgebiet bei weitem nicht ausgeschöpft. Insofern besteht noch nicht einmal eine Diskrepanz zwischen den Ärzten. Insbesondere Dr. K., aber auch Dr. J. beschreiben nachvollziehbar offene Behandlungsoptionen – wie im Übrigen früher auch schon Dr. R … Eine psychiatrische Behandlung des Klägers ist bisher zwar punktuell erfolgt, aber nicht leitliniengerecht längerfristig durchgeführt worden. Dass die Einschätzung des Bestehens von Erfolgschancen für weitere Behandlungen zutreffend ist, ergibt sich für den Senat auch daraus, dass die jeweiligen – stationären – Akutbehandlungen eine gesundheitliche Besserung einleiten. Dass es nicht zur dauerhaften Besserung gekommen ist, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass – wie ärztlich dargestellt – dann aber bisher keine konsequente, umfassende und leitliniengerechte ambulante Behandlungsfortführung erfolgt war.
Selbst die Gutachterin M. G. stellt die benannten Behandlungsoptionen nicht Abrede, sieht jedoch den Kläger wegen seiner Persönlichkeitsstörung trotz evtl. ärztlicher Unterstützung nicht dazu in der Lage, derartige Behandlungen wahrzunehmen. Letzteres vermag den Senat nicht zu überzeugen, zumal die Aussage in der ergänzenden Stellungnahme nicht in der Absolutheit aufrecht erhalten geblieben war. Der Senat sieht daher durch die Ausführungen der M. G. die Feststellungen und sozialmedizinischen Aussagen des Dr. J. und der Dr. K. nicht als widerlegt an.
Somit gewinnt der Senat aus den ärztlichen Feststellungen die Überzeugung, dass der Kläger nach wie vor leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von täglich 6 Stunden oder mehr verrichten kann. Eine dauerhaft vorliegende zeitliche Leistungsminderung ist derzeit nicht hinreichend nachgewiesen.
Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen kann der Kläger eine Tätigkeit in geschlossenen Räumen vorwiegend im Sitzen, aber auch im Stehen und Gehen ohne besondere nervliche Belastungen wie Nachtschicht, hohe Anforderungen an Konzentration, Daueraufmerksamkeit, Verantwortung oder Umsicht und ohne besondere Belastung des Bewegungs- und Stützsystems wie schwere und mittelschwere Hebe- und Tragebelastungen, Zwangshaltungen, häufige bückende Arbeiten, häufige kniende Arbeiten verrichten. Die Einwirkung von Nässe, Kälte und Zugluft sollte vermieden werden.
Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers an geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf weniger als 3 Stunden täglich – also volle Erwerbsminderung – oder weniger als 6 Stunden – also teilweise Erwerbsminderung – ist daher zur Überzeugung des Senats nicht gegeben; allenfalls lag und liegt – zeitweilig bzw. protrahiert – Arbeitsunfähigkeit bei bestehender Behandlungsbedürftigkeit vor.
Ein Anspruch des Klägers auf eine volle Erwerbsminderungsrente kann auch nicht anderweitig begründet werden. Zwar könnte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zusätzlich auch dann in Betracht kommen, wenn zwar keine quantitative Einschränkung besteht, jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Ausnahmefall (sog. Katalogfall) vorliegen würden. Für die Ermittlung, ob ein solcher Ausnahmefall besteht, ist nach dem BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – nach juris) mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären. Für den Senat ergeben sich keine durchgreifenden Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da sein Restleistungsvermögen etwa das Sortieren, Zureichen oder Verpacken leichter Gegenstände aber auch Kleben und Zusammensetzen von Teilen und Maschinenbedienung grundsätzlich zulässt. Beim Kläger ist zur Überzeugung des Senats auch die sogenannte Wegefähigkeit, d.h. die Möglichkeit zu einem Arbeitsplatz zu gelangen, zu bejahen, da er öffentliche Verkehrsmittel nutzen kann und die Wege zu und von den Haltestellen innerhalb üblicher Zeit zu Fuß zurücklegen kann. Die diesbezüglich vom Kläger anfänglich vorgebrachten Einwände haben sich fachärztlicherseits nicht bestätigen lassen und im weiteren Verlauf des Verfahrens keine Rolle mehr gespielt.
Dementsprechend lässt sich beim Kläger weder das Vorliegen von voller, noch von teilweiser Erwerbsminderung – wie hilfsweise geltend gemacht – überzeugend belegen und es besteht kein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI.
Ein Antrag auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist nicht gestellt worden. Der Kläger hätte auch keinen Anspruch darauf, da er auf Grund seines Geburtsjahrganges nicht zu dem von § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erfassten Personenkreis gehört.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und die hierzu ergangene erstinstanzliche Entscheidung sind somit nicht zu beanstanden und die Berufung ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.