Aktenzeichen L 19 R 494/14
SGB VI § 43 Abs. 2 S. 1, § 241 Abs. 2
Leitsatz
1 Eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung kann auch dann erfolgen, wenn eine relevante quantitative Einschränkung ihres Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen nicht nachgewiesen ist. (redaktioneller Leitsatz)
2 Hierfür ist zunächst festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden. (redaktioneller Leitsatz)
3 Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen aufkommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach einer besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen. (redaktioneller Leitsatz)
4 Falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, ist vom Rentenversicherungsträger eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 4 R 718/13 2014-05-13 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 13.05.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung und auch nicht sonst auf eine Erwerbsminderungsrente.
Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat die Klägerin zum Zeitpunkt des Endes des Zeitrentenbezuges unproblematisch erfüllt. Für einen eventuell nach Unterbrechung wieder erneut eingetretenen Leistungsfall würde es nach Juli 2015 an der Voraussetzung des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI fehlen, da nach dem Rentenbezug keine weiteren rentenrechtlich relevanten Zeiten vorliegen.
Eine Anwendung von § 241 Abs. 2 SGB VI kommt nicht in Betracht, da die Klägerin zum 01.01.1984 erst 11 Jahre alt gewesen war und damit damals offensichtlich die allgemeine Wartezeit (5 Jahre Pflichtbeiträge – § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) nicht erfüllt gehabt haben konnte.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Eine volle Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI liegt bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats ab Juli 2013 nicht mehr vor. Die Klägerin ist nach dem Abklingen ihrer Krankheitssymptome wieder in der Lage, wenigstens 6 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, wobei es sich um leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen oder mit der Möglichkeit zu wechselnder Körperhaltung handeln soll. Ausgeschlossen sind ungünstige äußere Witterungsbedingungen – insbesondere Arbeit im Freien – und die Einwirkung von Bronchialreizstoffen, ferner mehr als gelegentlicher Publikumsverkehr und übermäßige nervliche Belastungen. In diesem zeitlichen Rahmen ist der Klägerin eine Erwerbstätigkeit auch ohne gesundheitliche Gefährdung möglich, wenn die Arbeitsplätze kein erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen. Der Senat entnimmt dies den Feststellungen des Dr. R., des Dr. G. und des Dr. D. Entgegen der Auffassung der behandelnden Ärzte der Klägerin, wobei sich Dr. C. auch gutachterlich geäußert hat, ist es nicht zwangsläufig, dass an jedem Arbeitsplatz ein erhöhtes Infektionsrisiko oder Stresspotential vorliegen muss. Vielmehr lassen sich durch entsprechende Arbeitsplatzgestaltung diese Risiken auf dem Level eines ubiquitären Rückfallrisikos halten.
Die Ausführungen des Dr. C., wonach als Folge von Mikroangiopathien ein Leistungsvermögen von weniger als 3 Stunden zu begründen sei, vermögen nicht zu überzeugen. Dr. C. räumt auf Nachfrage selbst ein, dass das Vorliegen derartiger Mikroangiopathien bei der Klägerin objektiv nicht belegt ist und die Annahme der Einschränkungen derzeit letztlich ausschließlich auf die subjektiven Angaben der Klägerin zur erlebten Leistungsschwäche gestützt ist. Ein hinreichender Nachweis einer aktuell vorliegenden quantitativen Leistungsminderung ist damit nicht geführt.
Das unmittelbare Vorliegen von teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) ist ebenfalls nicht belegt, da eine Einsatzfähigkeit von zwar zumindest 3 Stunden, aber weniger als 6 Stunden täglich von keinem der im Verfahren gehörten Ärzte für den fraglichen Zeitraum beschrieben worden ist.
Somit ist es auch unerheblich, dass eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss vom 11.12.1969 – Az. GS 4/69; Beschluss vom 10.12.1976 – Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – jeweils zitiert nach juris) zusätzlich in Betracht kommt, wenn eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt, eine Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeübt wird und der Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen anzusehen ist (Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 43 SGB VI Rn 30 mwN).
Allerdings kann in bestimmten Ausnahmefällen eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung selbst dann erfolgen, wenn – wie im Fall der Klägerin – eine relevante quantitative Einschränkung ihres Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen nicht nachgewiesen ist. Dazu müssten jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was bei der Klägerin aus Sicht des Senates im strittigen Zeitraum ab Juli 2013 nicht der Fall ist. Nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) ist bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen aufkommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O. Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da die Arbeitsfelder Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Maschinenbedienung, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen und bedingt auch Reinigen und Kleben als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Hierbei sind jeweils Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich Infektionsgefahr, Stressbelastung und Atemwegsreizung zu beachten. Es ist jedoch nicht notwendig, dass die Klägerin keinerlei Publikumsverkehr ausgesetzt ist.
Und selbst wenn man – entgegen der Auffassung des Senats – das Vorliegen von ernstlichen Zweifeln annehmen wollte, so stellen die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine – ggf. funktionale – Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Es ist ein hinreichendes körperliches Restleistungsvermögen, eine hinreichende Sinneswahrnehmung und eine zwar geschwächte, aber nicht aufgehobene psychische Stabilität vorhanden. Ein Ausschluss jeglichen Publikumsverkehrs oder weitere ungewöhnliche Einschränkungen der Arbeitsbedingungen sind nicht erforderlich.
Die Klägerin ist auch nicht gehindert, einen eventuellen Arbeitsplatz zu erreichen. Eine Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin unter den von der Rechtsprechung geforderten Umfang (Zurücklegen von 4 mal täglich mehr als 500 Metern in jeweils weniger als 20 Minuten – vgl. BSG, Urt. v. 21.03.2006, Az. B 5 RJ 51/04 R – nach juris) liegt nicht vor. Der Gutachter Dr. C., der Gehstrecken über 300 m als nicht zumutbar ansieht, übernimmt hier ohne jegliche Begründung und zudem ohne eine Spur von kritischem Hinterfragen Angaben der Klägerin. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wird von den ärztlichen Sachverständigen nicht als eingeschränkt beschrieben und erscheint zur Überzeugung des Senats nicht ausgeschlossen. Zwar könnte zu den Hauptverkehrszeiten mit einer erhöhten Fahrgastfrequenz auch das Infektionsrisiko steigen, so dass ggf. besondere Vorkehrungen wie Mundschutz und Handdesinfektion erforderlich sein können. Alternativ käme auch die Benutzung individueller Verkehrsmittel in Betracht. Ohne dass es darauf ankommen würde, weist der Senat ergänzend darauf hin, dass für die Tätigkeit von Näherinnen Heimarbeit branchentypisch relativ stark verbreitet ist.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch der Klägerin in der Zeit ab Juli 2013 nicht als belegt ansehen, nicht zu beanstanden.
Auch der Hilfsantrag der Klägerin ist nicht begründet. Zunächst ist es schon strittig, ob mit einem Antrag auf Weitergewährung einer Zeitrente automatisch hilfsweise die Gewährung von Erwerbsminderungsrente für einen späteren Zeitpunkt mitbeantragt wird. Das kann aber dahingestellt bleiben, da die Klägerin nach den ärztlichen Feststellungen auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt als Juli 2013 erneut voll oder teilweise erwerbsgemindert im Sinne der gesetzlichen Regelungen geworden ist. Zudem würden für ein erneutes Auftreten von Erwerbsminderung nach August 2015 die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) nicht mehr vorliegen.
Die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ist nicht beantragt worden und ist auch eindeutig ausgeschlossen, da die Klägerin aufgrund ihres Geburtsdatums nicht zu dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 13.05.2014 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.