Aktenzeichen W 3 K 17.1353
SGB X § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
BGB § 1601
Leitsatz
1. Zwar sind Eltern grundsätzlich kostenbeitragspflichtig für Einglierdungsmaßnahmen zu Gunsten ihres Kindes. Allerdings kann ein Kostenbeitrag erst ab dem Zeitpunkt erhoben werden, ab welchem die Gewährung der Leistung mitgeteilt und über die Unterhaltsverpflichtung aufgeklärt worden ist. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der grundsätzlich Beitragspflichtige muss zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Dispositionsmöglichkeiten hinreichend und ordnungsgemäß über die Folgen der Leistungserbringung aufgeklärt werden. Insbesondere ist über Beginn, Dauer und voraussichtliche Höhe der Kostenbeitragspflicht zu informieren. (Rn. 32 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Mit Gewährung einer stationären Maßnahme der Eingliederungshilfe hat der zuständige Träger der Jugendhilfe auch den notwendigen Unterhalt des Kindes außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die zivilrechtliche gesetzliche Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber ihren Kindern ist deckungsgleich mit der Verpflichtung des Jugendhilfeträgers aus § 39 Abs. 1 SGB VIII. Diese Umstand ist den Eltern bekannt zu geben. (Rn. 39 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
5. Unterhaltsansprüche des Kindes gegenüber den Eltern bestehen während der Gewährung der stationären Eingliederungshilfe nicht. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2013, teilweise aufgehoben ab dem 1. Januar 2014 mit Bescheid vom 8. Oktober 2014, in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Regierung von Unterfranken vom 23. Oktober 2017, wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Kostenbeitragsbescheid des Beklagten vom 29. November 2013, teilweise aufgehoben mit Bescheid vom 8. Oktober 2014, in der Fassung des Widerspruchsbescheids der Regierung von Unterfranken vom 23. Oktober 2017. Hiermit erhebt der Beklagte vom Kläger einen Kostenbeitrag zur stationären Unterbringung von dessen Sohn im Rahmen der Eingliederungshilfe in Höhe von 380,00 EUR monatlich für den Zeitraum vom 9. Oktober 2013 bis zum 31. Dezember 2013 und in Höhe von 130,00 EUR monatlich für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 16. August 2014. Dies ergibt sich daraus, dass der Beklagte den Bescheid vom 29. November 2013 mit Bescheid vom 8. Oktober 2014 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl. I S. 130), zuletzt geändert durch Art. 11 Gesetz vom 23. Juni 2017 (BGBl. I S. 1822), – SGB X – der Sache nach mit Wirkung zum 1. Januar 2014 insoweit aufgehoben hat, als der Kostenbeitrag einen Betrag in Höhe von 130,00 EUR im Monat übersteigt. Hierbei ist es unerheblich, dass der Beklagte in diesem Zusammenhang die Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X nicht ausdrücklich benannt hat.
Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid erweist sich aus formalen Gründen als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sodass er aufzuheben war.
Nach § 91 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 35a Abs. 2 Nr. 4 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (Art. 1 des Gesetzes vom 26.6.1990, BGBl. I S. 1163), zuletzt geändert durch Art. 3 Gesetz vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780), – SGB VIII – werden zu einer vollstationären Leistung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in Einrichtungen über Tag und Nacht Kostenbeiträge erhoben. Eine derartige Eingliederungshilfe in Form der Heimunterbringung im Berufsbildungswerk . . . hat der Beklagte dem Sohn des Klägers mit Bescheid vom 4. November 2013 ab dem 2. September 2013 bewilligt, dies mit der Begründung, die Voraussetzungen einer seelischen Behinderung seien mit der Stellungnahme einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie bestätigt worden und dessen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei beeinträchtigt; die Heimunterbringung sei geeignet und erforderlich.
Beitragspflichtige für einen derartigen Kostenbeitrag sind u.a. nach § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII die Elternteile des jungen Menschen, dem die Eingliederungshilfe gemäß § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII bewilligt worden ist. Diese Personen sind aus ihrem Einkommen nach Maßgabe der §§ 93 und 94 SGB VIII heranzuziehen (§ 92 Abs. 1 SGB VIII).
Auf dieser Grundlage wäre der Kläger dem Grunde nach kostenbeitragspflichtig für die Eingliederungshilfemaßenahme zu Gunsten seines Sohnes. Allerdings kann gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ein Kostenbeitrag u.a. bei Eltern erst ab dem Zeitpunkt erhoben werden, ab welchem dem Pflichtigen die Gewährung der Leistung mitgeteilt und er über die Folgen für seine Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt worden ist. Hierbei handelt es sich um eine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Erhebung des Kostenbeitrags (Schindler in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 92 Rn. 18 m.w.N.; BayVGH, B.v. 18.11.2014 – 12 C 14.2416 – NJW 2015, 1402; B.v. 17.7.2018 – 12 C 15.2631 – juris Rn. 6 m.w.N.); das Recht zur Erhebung des Beitrags knüpft an die entsprechende Mitteilung an den Beitragspflichtigen an. Das Gericht hat dies entsprechend von Amts wegen zu prüfen (OVG NRW, B.v. 28.11.2018 – 12 A 2855/17 – juris Rn. 9), denn das Recht, den Kostenbeitrag zu erheben, entsteht erst dann, wenn die Mitteilung erfolgt ist (Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 92 Rn. 17 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Offenbleiben kann, ob der Beklagte dem Kläger die Gewährung der Leistung an dessen Sohn ordnungsgemäß mitgeteilt hat, denn auf jeden Fall hat der Beklagte den Kläger nicht hinreichend und ordnungsgemäß über die Folgen der Leistungserbringung für dessen Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn aufgeklärt.
Der Umfang der Verpflichtung zur Information und Aufklärung nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII bemisst sich entsprechend dem Schutzzweck der Norm nach den jeweiligen wirtschaftlichen Dispositionsmöglichkeiten der Kostenbeitragspflichtigen. Vor allem sind den Betroffenen die für sie maßgeblichen Informationen zu vermitteln, um vermögensrechtliche Fehldispositionen im Zusammenhang mit der Entstehung der Kostenbeitragspflicht zu vermeiden. Der Barunterhaltspflichtige muss demnach über den Beginn, die Dauer und (sofern bereits bezifferbar) die voraussichtliche Höhe der Leistung informiert werden. Insbesondere ist er darauf hinzuweisen, dass mit der Gewährung von Jugendhilfe die Beteiligung an den Kosten gemäß §§ 91, 92 SGB VIII verbunden ist, ferner auch darauf, dass die durch die Jugendhilfe eingetretene Bedarfsdeckung bei der Berechnung des Unterhalts mindernd zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 17.7.2018 – 12 C 15.2631 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Im vorliegenden Fall hat der Beklagte dem Kläger zumindest am 9. Oktober 2013 die Art der Jugendhilfeleistung nicht hinreichend konkret mitgeteilt, da in diesem Schreiben lediglich allgemein auf die “Gewährung einer Jugendhilfeleistung nach §§ 13 Abs. 3, 19, 20, 21, 27 ff., 35a (teilstationär und stationär), 41 und 42 SGB VIII” hingewiesen wird.
Offenbleiben kann, ob der Bescheid des Beklagten vom 4. November 2013, mit welchem dem Sohn des Klägers – dieser selbst der Anspruchsberechtigte – ab dem 2. September 2013 Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in Form der Heimunterbringung gewährt worden ist und der dem Kläger und dessen Ehefrau als gesetzlichen Vertretern ihres Sohnes zugegangen ist, eine hinreichende Information über die Gewährung der Leistung im Sinn des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII darstellt, oder ob hierüber eine separate Information an den Kläger persönlich (nicht in seiner Eigenschaft als gesetzlicher Vertreter des Kindes) erforderlich gewesen wäre (vgl. hierzu Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 92 Rn. 17 i.V.m. Rn. 10; OVG NRW, B.v. 28.11.2018 – 12 A 2855/17 – juris Rn. 9).
Auf jeden Fall hat der Beklagte dem Kläger nicht hinreichend über die Folgen der Gewährung der Eingliederungshilfe für seine Unterhaltspflicht gegenüber dessen Sohn aufgeklärt.
Mit der Gewährung u.a. einer stationären Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII hat der zuständige Träger der Jugendhilfe nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch den notwendigen Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Dieser Unterhalt umfasst nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII die Kosten für den Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen.
Soweit der Bedarf des jungen Menschen durch Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch – also auch durch Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 39 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB VIII – gedeckt ist, ist dies gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII bei der Berechnung des Unterhalts zu berücksichtigen.
Die gesetzliche Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber ihren Kindern (vgl. § 1601 BGB) umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf, bei einer der Erziehung bedürftigen Person auch die Kosten der Erziehung.
Da dies der Sache nach deckungsgleich mit der Verpflichtung des Jugendhilfeträgers aus § 39 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB VIII ist, entfällt damit die Unterhaltsberechtigung des Kindes oder Jugendlichen gegenüber dem Unterhaltspflichtigen, also gegenüber den Eltern (Kepert in Kunkel/Kepert/ Pattar, LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 10 Rn. 40); denn der Bedarf des Kindes oder Jugendlichen ist bei stationärer Leistung durch den Jugendhilfeträger vollständig gedeckt (Schönecker/Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 10 Rn. 33).
Diesen Sachverhalt muss der Träger der Jugendhilfe gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII dem Unterhaltspflichtigen eindeutig benennen und ihn darüber belehren, dass dessen Unterhaltspflicht dem Kind oder Jugendlichen gegenüber entfällt (OVG Lüneburg, B.v. 21.11.2011 – 4 LA 40/11 – juris LS 22 und Rn. 4; BayVGH, B.v. 13.4.2015 – 12 CS 15.190 – juris Rn. 20). Angesichts des oben genannten Schutzzwecks der Norm ist allein die Wiedergabe des Normtextes von § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nicht ausreichend (BayVGH, B.v. 13.4.2015 – 12 CS 15.190 – juris Rn. 19 und 20).
Eine derartige Aufklärung im Sinn des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat der Beklagte dem Kläger gegenüber nicht vorgenommen.
Der Kläger hat mit Datum vom 9. Oktober 2013 ein Formblatt “Hinweis zum Kostenbeitrag” unterschrieben, in welchem es heißt: “Aufgrund der Jugendhilfe ruht insoweit für den Zeitraum ab 02.09.13 (Hilfebeginn) Ihre Unterhaltsverpflichtung dem Kind gegenüber. Für diese Zeit sind Sie aber zur Zahlung des vorstehend erwähnten Kostenbeitrag verpflichtet.” Dieselbe Formulierung findet sich im Schreiben des Beklagten an den Kläger vom 16. Dezember 2013. Weitere entsprechende Hinweise im Sinn des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII seitens des Beklagten an den Kläger erfolgten bis zum Beginn der Volljährigkeit von dessen Sohn am 16. August 2014 nicht. Auf spätere entsprechende Belehrungen (vgl. z.B. Schreiben des Beklagten an den Kläger vom 11.1.2016) kommt es nicht an, da diese erst nach Ablauf des streitgegenständlichen Zeitraums erfolgt sind.
Die beiden genannten Belehrungen vom 9. Oktober 2013 und vom 16. Dezember 2013 genügen nicht den oben genannten Anforderungen des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Sie klären den Kläger nicht etwa dahingehend auf, dass der gegen ihn gerichtete Unterhaltsanspruch seines Sohnes für die Zeit und aufgrund der Gewährung der Eingliederungshilfe in Form der stationären Unterbringung gemäß § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII entfällt. Vielmehr wird lediglich dahingehend aufgeklärt, dass die Unterhaltsverpflichtung dem Kind gegenüber “ruht”. Dieser Hinweis ist aber unzutreffend, weil Unterhaltsansprüche des Sohnes des Klägers gegenüber dem Kläger während der Gewährung der stationären Eingliederungshilfe nicht nur geruht haben, d.h. nicht geltend gemacht werden konnten, sondern gar nicht bestanden (Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 92 Rn. 40: Der Unterhaltsanspruch erlischt). Darüber hinaus ist der Hinweis auch nicht eindeutig, da er von einem durchschnittlichen Empfänger nicht nur so verstanden werden kann, dass Unterhaltsansprüche für den Zeitraum der Hilfegewährung überhaupt nicht, also auch nicht rückwirkend geltend gemacht werden können, sondern auch dahin ausgelegt werden kann, dass Unterhaltsansprüche während der Gewährung der vollstationären Eingliederungshilfe nur aufgeschoben sind, nach deren Beendigung aber auch für den Zeitraum der Hilfegewährung nachträglich geltend gemacht werden können. Folglich ist der Hinweis nicht geeignet, einem durchschnittlichen Empfänger die notwendige Klarheit über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für seine Unterhaltspflicht zu verschaffen (OVG Lüneburg, B.v. 21.11.2011 – 4 LA 40/11 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 13.4.2015 – 12 CS 15.190 -juris Rn. 20 mit Verweis auf OVG Lüneburg, a.a.O.; Schindler in Münder/Meysen/ Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 92 Rn. 18; BayVGH, B.v. 17.7.2018 – 12 C 15.2631 – juris Rn. 4 und Rn. 8 zu einer Formulierung, die mit der vorliegenden identisch ist).
Damit liegt für den streitgegenständlichen Zeitraum keine ordnungsgemäße Aufklärung im Sinn des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII vor. Auch die Ausnahmeregelung des § 92 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII kann dem Beklagten vorliegend nicht weiterhelfen.
Damit konnte der Kostenbeitrag zu Lasten des Klägers mangels Vorliegens einer materiell-rechtlichen Voraussetzung nicht entstehen. Der angegriffene Bescheid erweist sich daher als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO aufzuheben. Gerichtskosten werden nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.