Aktenzeichen L 19 R 284/16
SGB VI § 43 Abs. 2 S. 2
Leitsatz
Wenn die vom Kläger aktuell ausgeübte Beschäftigung zumindest längerfristig zu Lasten seiner Restgesundheit ausgeübt wird, spricht die Tatsache, dass er nun schon über zwei Jahre dieser – ihn jedenfalls perspektivisch überfordernden – Beschäftigung vollschichtig nachgeht und nur zeitweilig über einen kürzeren Zeitraum Arbeitsunfähigkeit bescheinigt ist, dafür, dass von einem vollständig aufgehobenen Leistungsvermögen nicht die Rede sein kann. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 9 R 784/14 2016-03-30 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.03.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch eine Rente wegen Erwerbsminderung hat, und auch in der Folgezeit ist ein derartiger Anspruch nicht nachgewiesen.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt nach § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) voraus, dass ein Versicherter voll erwerbsgemindert ist, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufzuweisen hat und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat der Kläger unproblematisch erfüllt, nachdem er im Anschluss an die Gewährung von Sozialleistungen erneut einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen ist und nachgeht.
Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind Versicherte voll erwerbsgemindert, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist.
Sämtliche vorliegenden gutachterlichen Beurteilungen sind einhellig der Auffassung, dass der Kläger – unter Berücksichtigung eingeschränkter Arbeitsbedingungen – auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne zeitliche Einschränkung einsatzfähig ist. Die gegenläufigen Äußerungen der behandelnden Hausärzte P. C. und Dr. B., die in mehreren Attesten über einen längeren Zeitraum nahezu gleichlautend eine zeitliche Einschränkung der Einsatzfähigkeit des Klägers auf weniger als 3 Stunden täglich annehmen, sind angesichts der eindeutigen gutachterlichen Darlegungen nicht nachvollziehbar; eine derartige zeitliche Einschränkung ist zur Überzeugung des Senats auch durch die tatsächlich zu beobachtenden Fakten, nämlich die Betätigung des Klägers im Erwerbsleben, widerlegt. Die momentan tendenziell zu beobachtende Überforderung würde an Arbeitsplätzen, die den ärztlicherseits geforderten Arbeitsbedingungen entsprechen, nicht bestehen.
Für den Senat ergibt sich aus den Gutachten der Dr. W., der Dr. H. und des Dr. W., dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen im Wechselrhythmus verrichten kann, solange dies nicht mit Schichtarbeit, Zeitdruck, sonstigen übermäßigen nervlichen Belastungen, besonderer Unfallgefährdung, besonderen Wirbelsäulenbelastungen etwa durch häufige Zwangshaltungen, Bücken oder Überkopftätigkeiten verbunden ist. Auch monotone Dauerbelastungen des Schultergürtels, häufiges Knien und Hocken, häufiges Gehen außerhalb eines ebenen Untergrunds, häufiges Treppensteigen sowie Lärmbelastung sind zu vermeiden. Diese Einschränkungen der Arbeitsbedingungen werden in ähnlicher Weise auch von Dr. J. beschrieben.
Zusätzlich ist zu beachten, dass die vom Kläger geschilderten Erkrankungen auf nervenärztlichem und algesiologischem Fachgebiet bisher nur ganz vereinzelte fachärztliche Kontakte ausgelöst haben und eine leitliniengerechte Behandlung in keiner Weise ersichtlich ist. Aus den zugehörigen Arztbriefen wird erkennbar, dass der Kläger weitergehende Medikation und Behandlung abgelehnt hat. Soweit der Kläger vorträgt, eine Schmerztherapie sei während des laufenden Rentenverfahrens ärztlicherseits nicht befürwortet worden, mag dies durchaus zutreffen, ändert aber nichts daran, dass diese Gesundheitsstörung noch behandelbar ist und Chancen vorliegen, sie zu überwinden. Psychische Erkrankungen werden nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.02.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 24.05.2017 – L 19 R 1047/14 – zitiert nach juris). Beim Kläger sind dagegen die Behandlungsmöglichkeiten auf psychiatrischem, psychotherapeutischem und schmerztherapeutischem Fachgebiet bisher nur ansatzweise ergriffen und bei weitem nicht ausgeschöpft. Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung sind sie daher als noch behandelbare Erkrankungen anzusehen und können eine dauerhaft vorliegende Leistungseinschränkung nicht belegen.
Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers an geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf weniger als 3 Stunden täglich – also volle Erwerbsminderung – oder weniger als 6 Stunden – also teilweise Erwerbsminderung – bestand daher zur Überzeugung des Senats weder bei Antragstellung, noch besteht sie derzeit.
Weitere Ermittlungen des Senats waren nicht veranlasst. Soweit vom behandelnden Hausarzt P. C. Veränderungen ab Jahresbeginn 2016 angesprochen werden, sind die benannten Erkrankungen in dem vor der letzten gutachterlichen Untersuchung im August 2015 von P. C. erstellten Attest weit überwiegend ebenfalls schon in gleicher Weise benannt gewesen, also gutachterlich gewürdigt worden. Arbeitsunfähigkeit hat im Sommer/Herbst 2016 offensichtlich im Zusammenhang mit einer Verschlechterung der Schulterbeschwerden bzw. den damit zusammenhängenden Sehnenschädigungen vorgelegen; hierfür ist weitere Behandlung vorgesehen. Eine dauerhaft verschlechterte gesundheitliche Situation ist derzeit nicht daraus nicht zu ersehen. Auch der ärztliche Dienst der Beklagten konnte aktuell in den vorgelegten medizinischen Unterlagen keine richtungsweisende Verschlechterung erkennen.
Der Senat musste sich auch nicht damit auseinandersetzen, ob die vom Kläger wieder ausgeübte Tätigkeit als Elektrotechniker mit seinem gesundheitlichen Leistungsbild vereinbar ist. Seitens der Ärzte der Beklagten und seitens der Gutachter ist nämlich bereits bei Beginn des Rentenverfahrens davon ausgegangen worden, dass dies nicht der Fall sei. Daran hat sich erkennbar nichts geändert, so dass viel dafür spricht, dass die vom Kläger derzeit ausgeübte Beschäftigung zumindest längerfristig zu Lasten seiner Restgesundheit ausgeübt wird. Gleichwohl zeigt sich in der Tatsache, dass der Kläger nun schon über zwei Jahre dieser – ihn jedenfalls perspektivisch überfordernden – Beschäftigung vollschichtig nachgeht und nur zeitweilig über einen kürzeren Zeitraum Arbeitsunfähigkeit bescheinigt ist, dass von einem vollständig aufgehobenen Leistungsvermögen beim Kläger nicht die Rede sein kann. Daran ändert auch der Einwand des Klägers nichts, dass er eine weitere vom Arzt befürwortete Krankschreibung aus Sorge um seinen Arbeitsplatz abgelehnt habe; Maßstab für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit wäre hier nämlich die Tätigkeit als Elektrotechniker, während für die Frage der Rentengewährung wegen Erwerbsminderung der Einsatz an Arbeitsplätzen zu prüfen ist, bei denen die beim Kläger bestehenden Einschränkungen der Arbeitsbedingungen beachtet werden können. Die Frage der Arbeitsmarktlage bleibt nach § 43 Abs. 3 SGB VI dabei unberücksichtigt, solange es überhaupt auf dem Arbeitsmarkt geeignete Arbeitsplätze gibt.
Ein Anspruch des Klägers auf eine volle Erwerbsminderungsrente kann auch nicht anderweitig begründet werden. Zwar könnte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zusätzlich auch dann in Betracht kommen, wenn zwar keine quantitative Einschränkung besteht, jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Ausnahmefall (sog. Katalogfall) vorliegen würden. Dies ist jedoch nicht der Fall, da der Kläger zur Überzeugung des Senats praktisch in allen im Urteil des BSG vom 09.05.2012 (Az. B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) genannten Tätigkeitsfeldern des allgemeinen Arbeitsmarktes im Rahmen seines Restleistungsvermögens eingesetzt werden könnte. Ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen bestehen daher nicht. Auch ist die sogenannte Wegefähigkeit, d.h. die Möglichkeit zu einem Arbeitsplatz zu gelangen, beim Kläger zu bejahen.
Dementsprechend lässt sich beim Kläger insgesamt weder das Vorliegen von voller, noch von teilweiser Erwerbsminderung – wie hilfsweise geltend gemacht – überzeugend belegen und es besteht kein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI.
Ein Antrag auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI ist nicht gestellt worden. Der Kläger hätte auch keinen Anspruch darauf, da er auf Grund seines Geburtsjahrganges nicht zu dem von der Übergangsvorschrift des § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erfassten Personenkreis gehört.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und die hierzu ergangene erstinstanzliche Entscheidung sind somit nicht zu beanstanden und die Berufung ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.