Sozialrecht

Keine Rücknahme der Bewilligung von Leistungen nach dem ALG II wegen schuldlos verschwiegenem Vermögen

Aktenzeichen  L 11 AS 870/16

Datum:
14.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 9 Abs. 1, § 12
SGB X SGB X § 44 Abs. 1, § 45 Abs. 4 S 2

 

Leitsatz

1 Schuldunfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit schließen ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln im Sinne der Aufhebungsvorschriftten des SGB X aus. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2 Fehlt einem Antragsteller im Rahmen der Antragstellung für Sozialleistungen die Einsichtsfähigkeit, die jeweiligen mit der Antragstellung verbundenen Sachverhalte nachvollziehen zu können, schließt dies die schuldhafte Falschangabe von Sachverhalten und das schuldhafte Kennen der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung aus. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 15 AS 393/14 2016-11-09 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 09.11.2016 und der Bescheid vom 30.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2014 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 06.03.2013 zurückzunehmen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 30.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte ist zu verpflichten, den Bescheid vom 06.03.2013 zurückzunehmen, denn dieser ist ebenfalls rechtswidrig.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 30.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2014, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 06.03.2013 aufzuheben. Statthafte Klageart für das Begehren des Klägers ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung des Bescheides vom 30.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2014, die Verpflichtungsklage auf die Rücknahme des zur Überprüfung gestellten Bescheides vom 06.03.2013 (vgl dazu auch BSG, Urteil vom 23.02.2017 – B 4 AS 57/15 R – SozR 4-1300 § 44 Nr. 34).
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihren Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 06.03.2013 aufhebt. Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht nicht erhoben worden sind. Die Vorschrift ist dabei – zumindest analog – auch auf Fälle anzuwenden, in denen der zu beurteilende Verwaltungsakt selbst ein Aufhebungsverwaltungsakt ist, da jedenfalls eine mittelbare Regelungswirkung im Hinblick auf das Leistungsrecht anzunehmen ist (vgl dazu Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 44 Rn 16 mwN; allgemein hierzu: BSG, Urteil vom 28.05.1997 – 14/10 RKg 25/95 – SozR 3-1300 § 44 Nr. 21).
Der den Kläger nicht begünstigende Bescheid der Beklagten vom 06.03.2013 ist rechtswidrig. Die Beklagte war nicht berechtigt, die Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.11.2011 aufzuheben und vom Kläger die Erstattung von Leistungen iHv insgesamt 65.378,97 EUR zu verlangen.
Nach § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II iVm § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X, § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hat oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.
Zunächst handelte es sich bei den Bewilligungsentscheidungen für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.11.2011 von Anfang an um rechtswidrige, begünstigende Verwaltungsakte. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 – BGBl I 2954 bzw idF des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.04.2007 (BGBl I 554) erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet bzw die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sowie hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Nach § 9 Abs. 1 SGB II idF des Gesetzes vom 24.12.2003 ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, aus dem zu berücksichtigen Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Eine Hilfebedürftigkeit des Klägers lag in der Zeit vom 01.01.2005 bis 30.11.2011 nicht vor, da er über ausreichendes, die Vermögensfreibeträge übersteigendes und einsetzbares Vermögen iSv § 12 SGB II verfügt hat. Mangels Leistungsanspruchs war die Bewilligung von Alg II damit rechtswidrig. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Die Aufhebung der Leistungsbewilligungen konnte jedoch nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X für die Vergangenheit nicht erfolgen, denn dies wäre nur in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X oder § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X möglich gewesen. Der Erlass der Bewilligungsbescheide wurde vom Kläger aber nicht durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X) und Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 Zivilprozessordnung (ZPO) lagen nicht vor (§ 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X).
Der Verwaltungsakt beruhte auch nicht auf Angaben, die der Kläger vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Keinen Vertrauensschutz kann derjenige beanspruchen, der selbst schuldhaft eine wesentliche Ursache für die Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsaktes gesetzt hat (vgl Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 44 Rn 48). Dabei kann vorliegend ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Angaben des Klägers zum Umfang des bei ihm vorhandenen Vermögens im Rahmen der Erst- und Folgeantragstellungen unrichtig gewesen sind. Er hat dabei die Frage nach weiteren Vermögenswerten neben seinem Girokonto verneint. Da die von der Beklagten ermittelten Vermögenswerte des Klägers bei den Geldinstituten und Versicherungen Guthabenstände jeweils zum 01.01. und 01.07. eines Jahres von 2005 bis 2011 zwischen 11.802,51 EUR und 37.116,65 EUR aufgewiesen haben, verfügte der Kläger auch unter Berücksichtigung der Vermögensfreibeträge über ein Vermögen iSv § 12 SGB II, welches eine Hilfebedürftigkeit nicht bestehen ließ. Damit wären aber die Werte für die Beantragung von Alg II wesentlich und der Kläger war nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht verpflichtet gewesen, diese anzugeben.
Der Kläger hat in Bezug auf das Unterlassen der weiteren Angaben zu seinem Vermögen jedoch weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt. Allein ein Erwirken von Leistungen durch unrichtige oder unvollständige Angeben (so noch der Entwurf der Bundesregierung eines Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – der in der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 14.05.1980 abgeändert worden ist – vgl BT-Drs 8/4022 S. 29) genügt nicht. Von Vorsatz ist auszugehen, wenn wissentlich und willentlich falsche Angaben entweder mit sicherem Wissen (direkter Vorsatz) oder unter Inkaufnahme (bedingter Vorsatz) der Unrichtigkeit gemacht werden (vgl Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 45 Rn 52). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Verlangt wird eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem besonders hohen Maße, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (vgl BSG, Urteil vom 27.07.2000 – B 7 AL 88/99 R – juris). Es gilt dabei ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab, der sich nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen und Verhalten des Leistungsberechtigten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen hat (vgl BSG, Urteil vom 13.12.1972 – 7 RKg 9/69 – BSGE 35, 108). Es kommt damit wesentlich darauf an, ob der Leistungsberechtigten unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit hätte erkennen müssen, dass die betreffenden Angaben zu machen waren. Dabei ist ua zu prüfen, ob die Fragestellung durch die Behörde im Hinblick auf den Bildungsstand und die Erfahrenheit des Leistungsberechtigten hinreichend verständlich oder missverständlich war, erteilte amtliche Belehrungen verständlich waren oder Fertigkeiten oder das Wissen eines sachkundig erscheinenden Dritten zunutze gemacht wurden und sich der Leistungsberechtigten darauf verlassen konnte, dieser werde alle Einzelheiten bei ihm erfragen (so im Einzelnen: Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 45 Rn 52 mwN). Bei schuldlos gemachten falschen Angaben oder bei einfacher Fahrlässigkeit ist eine Rücknahme eines begünstigenden, rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht möglich (vgl dazu bereits BT-Drs 8/4022, S. 83).
Zur Überzeugung des Senates, die sich dieser insbesondere im Rahmen eines persönlichen Eindrucks im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat bilden können, war der Kläger auch im Zeitpunkt der Erstantragstellung und bei den Folgeanträgen schuldunfähig oder gar geschäftsunfähig, was ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln ausschließt (vgl dazu auch BayVGH, Urteil vom 07.12.2005 – 12 B 03.3099 – juris). Der Kläger konnte subjektiv nicht erkennen, dass er unrichtige Angaben bei der Beklagten im Rahmen der Antragstellungen gemacht hat. Zwar war bereits die Angabe im Rahmen der Erstantragstellung, kein Vermögen von mehr als 4.850 EUR zu haben, objektiv falsch, da der Kläger über deutlich höhere Vermögenswerte verfügt hat. Auch ist die Fragestellung im Antragsformular objektiv unmissverständlich und im Hinblick auf die Guthaben bei verschiedenen Banken wäre diese Frage für einen durchschnittlich intelligenten und besonnen handelnden Antragsteller ohne weiteres richtig zu beantworten gewesen. Nach den hier entscheidenden subjektiven Fähigkeiten des Klägers allerdings lag der Fall anders. Das Amtsgericht A-Stadt hat im Rahmen des Strafverfahrens gegen den Kläger (8 Ds) ein psychatrisches Gutachten von Prof. Dr. W. eingeholt. Dieses Gutachten hält der Senat nach eigener Prüfung für schlüssig und zutreffend. Es wurde von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen. Danach fehlte dem Kläger im Rahmen der Antragstellungen bei der Beklagten die Einsichtsfähigkeit, die jeweiligen Sachverhalte nachvollziehen zu können. Nach dem Gutachten liegt bei ihm eine Intelligenzminderung vor, sein Gesamtleistungsvermögen ist als sehr stark unterdurchschnittlich zu klassifizieren und sein sprachliches Verständnis liegt im sehr stark unterdurchschnittlichen Bereich. Ihm fehlt eine Abstraktionsfähigkeit und er kann Zusammenhänge trotz Versuche anderer, ihm solche zu erläutern, nicht nachvollziehen. Diese Feststellungen werden im Wesentlichen auch im Gutachten von Frau Dr. S. im Rahmen des Rentenverfahrens bestätigt. So erscheint es glaubhaft, dass dem Kläger schon eine Differenzierung zwischen Einkommen und Vermögen nicht möglich war und er mit den Begrifflichkeiten und Fragen im Antragsformular nichts anfangen konnte. Nach den – auch nach den eigenen Eindrücken des Senates nachvollziehbaren – Feststellungen des psychatrischen Gutachtens des Dr. V. im Strafverfahren bestehen beim Kläger eklatante Defizite insbesondere in der Abstraktionsfähigkeit und dem Verständnis von übergeordneten Zusammenhängen. Wie sich aus seinen Aussagen u.a. auch im Erörterungstermin vor dem Senat ergibt, ist ihm auch das Wesen der Leistungen nach dem SGB II, die er erhalten hat, nicht zu vermitteln gewesen. Er ging während seines Leistungsbezuges offensichtlich davon aus, es handele sich beim Alg II nicht um eine bedürftigkeitsabhängige Sozialleistung sondern um ein Einkommen, welches ihm von einem „Arbeitgeber“ gezahlt wird. So gab er beispielsweise das „Arbeitsamt“ als Arbeitgeber an. Der Gutachter L. gelangt in seinem psychatrischen Gutachten im Betreuungsverfahren zu der Feststellung, der Kläger sei hinsichtlich seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit in Bezug auf Geldausgaben und Einkünfte eingeschränkt. Weiter hat der Kläger nach der Einstellung der Leistungen wegen des vorhandenen Vermögens immer wieder neue Leistungsanträge gestellt, was ebenfalls dafür spricht, dass er die Voraussetzung der Hilfebedürftigkeit im Rahmen des SGB II einfach nicht verstehen kann. Glaubhaft erscheint es dem Senat, dass der Kläger verschiedene Dinge hinsichtlich seines Vermögens immer wieder durcheinander geworfen hat und ganz offensichtlich Auskünfte von anderen, wie zB von Sparkassen- und Bankenmitarbeitern missverstanden hat. Dies gilt insbesondere für die vorgebrachte Angabe des Sparkassenmitarbeiters, sein Vermögen sei „steuerfrei“ und er dürfe es „behalten“, woraus der Kläger offenbar geschlossen hat, das Vermögen stehe auch einem Leistungsbezug nach dem SGB II nicht entgegen. Im Erörterungstermin und in der mündlichen Verhandlung hat er Wertgrenzen von 50.000 EUR genannt und dass ihm die S. gesagt hat, man müsse mindestens auf 100.000 EUR kommen. Es besteht zudem der Eindruck, dass der Kläger in keinster Weise zwischen seinem ehemaligen Arbeitgeber, Banken und Sparkassen, der Agentur für Arbeit und der Beklagten differenzieren kann. Auch seine ehrenamtliche Tätigkeit beim FC A-Stadt vermengt er mit dem Verwaltungsverhältnis in Bezug auf die Beklagte. So hat er in der mündlichen Verhandlung angegeben, mit einer Mitarbeiterin der Beklagten Bandenwerbung gemacht zu haben.
Wie sich aus den Unterlagen der Erstantragstellung ergibt, fehlte dem Kläger ganz offensichtlich ein Verständnis für Zahlen und Geldbeträge. Er gab seinerzeit im Rahmen der Unterkunftskosten zunächst Heizkosten von 4.096,60 EUR monatlich, Nebenkosten von 5.022,45 EUR monatlich und sonstige Wohnkosten von 618,25 EUR monatlich an. Diese völlig unrealistischen und nicht nachvollziehbaren Werte lassen erkennen, dass er nicht in der Lage war, richtige Angaben zu machen. Auch im Erörterungstermin hat er angegeben, von der Beklagten 10.000 EUR monatlich zu erhalten, was dem Grunde und vor allem auch der Höhe nach völlig abwegig ist. So kommt der Gutachter L. in seinem psychatrischen Gutachten im Betreuungsverfahren ebenfalls zu der Feststellung, der Kläger habe von Zahlen über 100 kaum Vorstellungen.
Es ist schließlich keinesfalls erkennbar, der Kläger habe im Rahmen der Antragstellungen für Leistungen im Erstattungszeitraum seine tatsächlichen Vermögenswerte verschweigen wollen. Im April 2005 nahm die Beklagte Kontoauszüge des Klägers zur Akte. Hieraus ergeben sich verschiedene Abbuchungen auf Sparverträge (4 x 25 EUR monatlich), zugunsten der A iHv 71,10 EUR sowie für eine FC A-Stadt-Sparkarte iHv 100 EUR zum 11.02.2005 und 01.03.2005 iHv 10 EUR. Hieraus hätte die Beklagte ohne weiteres erkennen können, dass weiteres Vermögen beim Kläger vorhanden gewesen ist. Auch im Rahmen eines Datenabgleichs am 12.12.2005 wurde der Beklagten ein Kapitalertrag für Zinsen iHv 44 EUR betreffend das Jahr 2004 bekannt. Dennoch hat die Beklagte trotz bestehender Amtsermittlungspflicht keine weiteren Nachforschungen angestellt. Es erscheint dem Senat auch glaubhaft, wenn der Kläger vorbringt, er habe bei seinen Vorsprachen immer Rücksäcke mit seinen Unterlagen dabei gehabt, die aber keiner habe anschauen wollen. Diesen Vortrag hat die Beklagte nicht widerlegt und vielmehr selbst im Widerspruchsbescheid vom 01.07.2014 ausgeführt, man habe im Hinblick auf die Erwerbsbiographie nicht annehmen können, dass der Kläger über ein beträchtliches Vermögen verfügt hat. Offenbar hatte der Kläger schließlich subjektiv den Eindruck, die Beklagte habe alle für sie notwenigen Kenntnisse. So hat er in der mündlichen Verhandlung seine Wahrnehmung geschildert, der zuständige Mitarbeiter der Beklagten habe ihm gesagt, es stehe alles im Computer. Der Kläger hat damit ganz offensichtlich darauf vertraut, seine Angaben zutreffend gemacht zu haben bzw dass andere Dinge mangels Relevanz nicht mitzuteilen gewesen waren.
Soweit der Kläger im Rahmen eines einer Weiterbewilligungsantrages für die Zeit ab Dezember 2011 offenbar geschwärzte Kontoauszüge vorgelegt hat, bei denen Abbuchungen für die Sparkarte bei der H. nicht erkenntlich waren, könnte dies für die Fähigkeit des Klägers sprechen, erkennen zu können, dass sein Vermögen einer Leistungsbewilligung entgegenstehen würde. Dies könnte nahelegen, dass er bewusst sein Vermögen verschweigen wollte. Allerdings betrifft dies zum einen Leistungen, die ab Dezember 2011 beantragt wurden, also hier nicht streitgegenständlich sind. Zum anderen passt dies nicht in das Bild vom Kläger, das sich aus allen übrigen Vorgängen, die auch oben beschrieben worden sind, ergibt. Zudem hat er in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, er sei von einem Mitarbeiter der Beklagten auf die Möglichkeit der Schwärzung aufmerksam gemacht worden. Er hat dann lediglich dessen Anweisung befolgt. Unabhängig davon, ob der Kläger im Rahmen dieser Antragstellung ggf in der Lage war, die Bedeutung zu erkennen, lässt dies nicht zwingend den Rückschluss auch für frühere Antragszeitpunkte zu. Zum anderen hat er dann wieder auf Nachfrage der Beklagten offensichtlich unumwunden die Existenz der Sparbücher zugegeben. Dass er selbst nach Ablehnung der Leistungsbewilligung ab Dezember 2011, die für jeden vernünftig denkenden Leistungsbezieher im Hinblick auf die Vermögenswerte nachvollziehbar ist, dennoch dagegen Widerspruch eingelegt und gegen den anschließenden Widerspruchsbescheid Klage erhoben hat, spricht ebenso wieder dafür, dass er schlicht nicht in der Lage war nachzuvollziehen, das Vorhandensein seines Vermögens könnte einer Hilfebedürftigkeit entgegen stehen.
Nichts anderes ergibt sich aus dem psychatrischen Gutachten im Betreuungsverfahren, wonach nur vermutet werden könne, der Kläger habe den Besitz einer größeren Summe Geld als Erfolgserlebnis und Aufwertung der eigenen Person empfunden habe und nicht mehr darauf habe verzichten wollen. Hierbei handelt es sich nur um Mutmaßungen, für die es keine objektivierbaren Anhaltspunkte gibt. Letztlich kann dies aber auch dahinstehen, denn wie oben ausgeführt, war der Kläger jedenfalls nicht in der Lage, subjektiv die Bedeutung der Vermögenswerte im Zusammenhang mit dem Leistungsbezug zu erkennen und richtige Angaben hierzu zu machen.
Die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bewilligungsbescheide kannte der Kläger nicht, auch bestand diesbezüglich keine Unkenntnis infolge grober Fahrlässigkeit (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Nach seiner subjektiven Einsichtsfähigkeit, die nach den obigen Ausführungen in Bezug auf die Beurteilung der Bedeutung seiner Vermögensverhältnisse für den Leistungsbezug nicht vorgelegen hat, konnte der Kläger zur Überzeugung des Senats für sich nicht erkennen, dass die Leistungsbewilligung zu Unrecht erfolgt ist. Die Gutgläubigkeit des Klägers wird dabei insbesondere durch das Verhalten der Beklagten gestützt, die trotz vorliegender Anhaltspunkte für das Vorhandensein von Vermögen in den vom Kläger vorgelegten Unterlagen keine weiteren Ermittlungen angestellt hat und offensichtlich auch kein weiteres Interesse an den vom Kläger in Rucksäcken mitgebrachten Unterlagen im Rahmen der Leistungsbeantragung hatte, auch wenn es im Rahmen der Prüfung des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nicht auf ein Verschulden der Beklagten ankommt.
Unerheblich ist schließlich, dass die Anwendung des § 44 SGB X dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit zum Erfolg verhelfen soll, mithin im Zugunstenverfahren einem Betroffenen (nur) diejenige Leistung zu gewähren ist bzw – bei Ermessensentscheidungen – gewährt werden kann, die ihm nach materiellem Recht bei von Anfang an zutreffender Rechtsanwendung zugestanden hätte; eine dem materiellen Recht widersprechende Besserstellungen soll § 44 SGB X demgegenüber ausschließen (vgl dazu BSG, Urteil vom 28.05.1997 – 14/10 RKg 25/95 – SozR 3-1300 § 44 Nr. 21). Dennoch ist § 44 SGB X auch im vorliegenden Fall der Rücknahme einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit anwendbar, wenn materiell auf die ursprünglich bewilligte Leistung zwar kein Anspruch bestanden hat, der Begünstigte jedoch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten eine rechtswidrig erlangte Leistung behalten darf (§§ 45, 48 SGB X). Der Gesetzgeber hat im Rahmen der Rücknahmevorschriften zum Ausdruck gebracht, dass er die Einräumung des Vertrauensschutzes bei Sachverhalten, die nicht dem Risiko- und Verantwortungsbereich des Begünstigten zuzurechnen sind, ebenfalls als Gebot der materiellen Gerechtigkeit ansieht, das dem in § 44 Abs. 1 SGB X verankerten und bei dessen unmittelbarer Anwendung zu beachtenden allgemeinen Gebot der materiellen Gerechtigkeit, über Sozialleistungen nur dann verfügen zu dürfen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen des entsprechenden Leistungsgesetzes erfüllt sind, gleichrangig ist. Es kann daher eine Pflicht zur Rücknahme eines unter Verstoß gegen Vertrauensschutzvorschriften ergangenen, bestandskräftig gewordenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids nach § 44 SGB X nur in Fällen, in denen auch ein Anspruch auf die Sozialleistung bestanden hat, nicht erkannt werden. Die Vertrauensschutzvorschriften sind vielmehr ein eigenständiger, materieller Rechtsgrund für das Behaltendürfen einer Leistung (vgl dazu insgesamt BSG, Urteil vom 28.05.1997 – 14/10 RKg 25/95 – SozR 3-1300 § 44 Nr. 21 – mwN).
Ebenso ist der Bescheid vom 06.03.2013 in Bezug auf die nach § 50 SGB X geforderte Erstattung von erbrachtem Alg II iHv 50.059,85 EUR und die Erstattung von Versicherungsbeiträgen nach § 40 Abs. 2 Nr. 5 SGB II iVm § 335 Abs. 1 und 5 SGB III iHv 15.319,12 EUR rechtswidrig, da eine Aufhebung der diesen Leistungen zugrunde liegenden Bewilligungsentscheidungen nicht in Betracht kam. Damit ist auch diese Entscheidung von der Beklagten nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückzunehmen.
Damit war die Berufung des Klägers begründet und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2014 zu verpflichten, den Bescheid vom 06.03.2013 zurückzunehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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