Aktenzeichen L 11 AS 163/17
SGB II § 40 Abs. 1
SGB II § 31, § 31a, § 31b, § 32
Leitsatz
1 Grundsätzlich ist ein Klageverfahren auszusetzen, wenn ein Widerspruch eingelegt und über diesen aber noch nicht entschieden ist, bis die Entscheidung nachgeholt wird. Dies setzt allerdings die bereits erfolgte Erhebung eines Widerspruchs voraus. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2 Einer vorbeugenden Unterlassungsklage hinsichtlich zukünftiger Sanktionsbescheide fehlt es am notwendigen qualifizierten Rechtsschutzinteresse, da hier auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein Anspruch auf Aufhebung belastender Verwaltungsakte im Überprüfungsverfahren besteht nicht, wenn die Überprüfungsbescheide wegen Ablaufs der Widerspruchs- bzw. Klagefrist bereits bestandskräftig sind. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 17 AS 81/16 2016-10-06 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 06.10.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Es liegt ein wirksames Urteil des SG vor, das den Klägern ausweislich der Postzustellungsurkunden auch zugestellt worden ist. Die Übersendung von unbeglaubigten Protokollabschriften ändert daran nichts. Dass das Urteil des SG in der mündlichen Verhandlung am 06.10.2016 erlassen worden ist, wird durch die in den Akten des SG befindliche Niederschrift, die eine öffentliche Urkunde darstellt, bewiesen. Die Niederschrift ist entsprechend den gesetzlichen Vorschriften ausgefertigt und von der Vorsitzenden der 17. Kammer am SG sowie von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben worden (§ 122 SGG, §§ 159, 160 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Die Kläger haben bislang keinen Antrag in der Sache gestellt, sondern vielmehr lediglich die Zurückverweisung des Verfahrens an das SG ohne Hauptverhandlung beantragt. Eine Zurückverweisung an das SG durch das Berufungsgericht kommt jedoch nur in den Fällen des § 159 Abs. 1 SGG in Betracht. Danach kann der Senat den Rechtsstreit an das SG zurückverweisen, wenn das SG selbst in der Sache nicht entschieden hat (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG) oder das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und die Notwendigkeit einer umfangreichen und aufwendigen Beweisaufnahme aufgrund des Mangels gegeben wäre (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Da aber eine Beweisaufnahme nicht notwendig und die Entscheidung des SG zutreffend ist, sieht der Senat keinen Anlass, die Sache an das SG zurückzuverweisen. Da keine Frist versäumt worden ist, bedurfte es auch keiner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Eine Feststellung der Nichtigkeit des „Abtrennungsbeschlusses des Sozialgerichts Bayreuth vom 02.02.2016 in dem Verfahren S 17 AS 77/16“ kommt ebenfalls nicht in Betracht, da ein solcher Beschluss nicht vorliegt. Das SG hat die mit der Klageschrift vom 29.01.2016 geltend gemachten fünf Klageanträge nach Eingang in einzelnen Klageverfahren erfasst. Auch wenn es für die Trennung mehrerer in einer Klage erhobener Ansprüche eines zu begründenden Beschlusses bedarf (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 145 Abs. 1 ZPO), sind die Kläger im vorliegend gerichtskostenfreien Verfahren durch diese Auftrennung nicht beschwert. Das SG hat in den Klageverfahren S 17 AS 77/16 und S. 17 AS 80 bis 83/16 über sämtliche Begehren entschieden, so dass im Ergebnis jedenfalls auch ein möglicher Verfahrensfehler nicht dazu führen würde, dass die jeweiligen Entscheidungen darauf beruhen könnten.
Da die von den Klägern ausdrücklich gestellten Anträge damit ins Leere gehen, waren sie unter Berücksichtigung des Begehrens der Kläger nach § 123 SGG auszulegen (zur Auslegung: Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 123 Rn 3). Im Verfahren vor dem SG hatten die Kläger sinngemäß beantragt, den Beklagten zur Rücknahme der Sanktionsbescheide seit dem 21.06.2013 zu verpflichten. Soweit die Kläger gegen das Urteil des SG Berufung eingelegt haben, ist erkennbar, dass sie dieses Begehren im Berufungsverfahren weiterverfolgen wollen. Streitgegenstand ist daher eine Verpflichtung des Beklagten die bei Klageerhebung erlassenen Sanktionsbescheide (vom 21.06.2013 bis 22.12.2015) im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens zurückzunehmen. Dafür spricht auch, dass – unabhängig davon, ob die Auslegung des Schreibens der Kläger vom 20.10.2014 zu Recht als Widerspruch gegen die Sanktionsbescheide zutreffend gewesen ist – die vom Beklagten in Bezug auf die Sanktionen erlassenen Widerspruchsbescheide vom 17.12.2014, 18.12.2014, 19.12.2014, 22.12.2014, 05.01.2015 und 27.10.2015, welche allesamt mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung:versehen waren, nach Ablauf der Klagefrist des § 87 Abs. 2 iVm Abs. 1 SGG von einem Monat bestandskräftig geworden sind; eine Anfechtungsklage gegen die Sanktionsbescheide wäre daher unzulässig. Die Feststellungen der Leistungsabsenkungen sind bindend geworden (§ 77 SGG). Davon gehen die Kläger offenbar im Hinblick auf die konkrete Formulierung ihres Klageantrages als Überprüfungsantrag auch selbst aus. Zu Recht hat das SG darauf hingewiesen, dass Sanktionsbescheide nach Klageerhebung keinen zulässigen Streitgegenstand darstellen, da diese mangels Vorliegen der Voraussetzungen nicht nach § 96 Abs. 1 SGG Klagegegenstand geworden sind. Weder werden durch diese zuvor ergangenen Sanktionsbescheide abgeändert noch ersetzt. Auch ist eine Klage gegen einen Verwaltungsakt, der noch nicht erlassen ist, nicht zulässig, zumal die begehrten Überprüfungsentscheidungen den vorhergehenden Erlass eines Verwaltungsaktes zwingend voraussetzen. Einer vorbeugenden Unterlassungsklage hinsichtlich weiterer Sanktionsbescheide – wollte man das Klagebegehren der Kläger dahingehend auslegen – würde das notwendige qualifizierte Rechtsschutzinteresse fehlen, da die Kläger auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden können (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 54 Rn 42a). Den Klägern ist es aber ohne weiteres zumutbar, sich mittels Widerspruch und Anfechtungsklage gegen (künftige) Sanktionsbescheide zu wehren. Sollten diese rechtswidrig sein, kann unter Einleitung eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 SGG angeordnet werden. Es bedarf damit nicht der Gewährung eines vorbeugenden Rechtsschutzes.
Die Kläger haben keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte zur Aufhebung der Sanktionsbescheide verpflichtet wird (§ 44 SGB X iVm § 40 Abs. 1 SGB II). Im Zeitpunkt der Klageerhebung beim SG waren mit Ausnahme der Entscheidung vom 27.10.2015 hinsichtlich der Sanktionsbescheide vom 28.05.2015 und 14.07.2015 alle bis dato vorliegenden Überprüfungsbescheide in Bezug auf die Sanktionsbescheide bestandskräftig geworden. Auch hier ist zwischen den Beteiligten bindend geregelt, dass eine Rücknahme der Sanktionen im Rahmen einer Überprüfungsentscheidung nicht zu erfolgen hat (§ 77 SGG). Ausgehend vom diesbezüglich zuletzt erlassenen Überprüfungsbescheid vom 05.01.2015 war die mangels in den Entscheidungen enthaltener Rechtsbehelfsbelehrung:en geltende Jahresfrist (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG) bei Klageerhebung am 29.01.2016 abgelaufen gewesen. Anhaltspunkte, einer der als Anhang zu den Widerspruchsbescheiden vom 17.12.2014, 18.12.2014, 19.12.2014, 22.12.2014 und 05.01.2015 ergangenen ablehnenden Überprüfungsentscheidungen könnten den Klägern erst nach dem 28.01.2015 zugegangen sein, gibt es nicht. Hierzu wird auch nichts vorgetragen. Die Überprüfungsbescheide vom 17.12.2014, 18.12.2014, 19.12.2014, 22.12.2014 und 05.01.2015 sind daher bestandskräftig geworden. Da damit über entsprechende Überprüfungsanträge hinsichtlich Sanktionsbescheiden ab 2013 entschieden worden ist, kommt der Auslegung des Widerspruchs gegen den Änderungsbescheid vom 07.01.2014 keine Bedeutung mehr zu. Dort hatten die Kläger die Rückerstattung der einbehaltenen Sanktionsbeträge beantragt, jedoch auf Nachfrage des Beklagten, ob dies als Anträge nach § 44 SGB X hinsichtlich der 2013 erlassenen Sanktionsbescheide gewertet werden soll, nicht geantwortet.
Hinsichtlich der Überprüfungsentscheidung vom 27.10.2015 in Bezug auf die Sanktionsbescheide vom 28.05.2015 und 14.07.2015 wäre ausgehend von der Jahresfrist (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG) im Zeitpunkt der Klageerhebung am 29.01.2016 noch ein fristgerechter Widerspruch möglich gewesen. Nach § 78 Abs. 1 und Abs. 3 SGG ist vor Erhebung einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ein Vorverfahren durchzuführen. Ein Widerspruchsbescheid, in dem ein Widerspruch gegen eine ablehnende Überprüfungsentscheidung des Beklagten zurückgewiesen worden ist, liegt aber nicht vor. Es liegt auch kein Fall vor, in dem ein Vorverfahren entbehrlich wäre (§ 78 Abs. 1 Satz 2 SGG). Zwar wäre grundsätzlich ein Klageverfahren auszusetzen, wenn ein Widerspruch eingelegt ist, über diesen aber noch nicht entschieden ist, bis die Entscheidung nachgeholt wird (vgl dazu Beschluss des Senats vom 05.05.2014 – L 11 AS 325/14 B – juris – mwN). Allerdings ist vorliegend ein Widerspruch gegen den Überprüfungsbescheid vom 28.10.2015 nicht erkennbar. Zwar kann unter Umständen auch eine Klageerhebung dahingehend ausgelegt werden, es solle damit Widerspruch eingelegt werden (vgl dazu im Einzelnen: BayLSG, Urteil vom 24.11.2011 – L 10 AL 64/09 – juris; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 78 Rn 3b). Jedoch kommt es für die Auslegung auf die Umstände des Einzelfalles an. Die Kläger haben nicht in unmittelbar zeitlichem Zusammenhang mit dem Bescheid vom 27.10.2015 Klage erhoben, sondern erst knapp drei Monate später. Der Bescheid vom 27.10.2015 wird im Klageantrag auch nicht konkret erwähnt, vielmehr allgemein die Aufhebung sämtlicher seit dem 21.06.2013 erlassener Sanktionsbescheide verlangt, und alleine in der Klagebegründung ua auch Ausführungen zu dem dort erwähnten Bescheid vom 27.10.2015 gemacht. Die Klageerhebung erfolgte nicht aufgrund einer falschen, dahingehenden Rechtsbehelfsbelehrung:. Der Überprüfungsbescheid enthielt vielmehr keinerlei Rechtsbehelfsbelehrung:. Schließlich führten die Kläger schon eine Vielzahl von Gerichts- und Widerspruchsverfahren durch, so dass auch dies gegen eine Auslegung der bewussten Klageerhebung zum SG am 29.01.2016 in eine Widerspruchseinlegung entgegen steht, zumal insbesondere beispielsweise in den Beschlüssen des Senats vom 04.12.2013 (L 11 AS 782/13 B ER) und vom 11.09.2014 (L 11 AS 605/14 B ER) oder auch in den Hinweisschreiben vom 18.08.2015 im Verfahren L 11 AS 437/15 B ER den Klägern die Notwendigkeit der Widerspruchseinlegung gegen Verwaltungsakte dargestellt worden ist.
Ob – wie das SG meint – die Klage oder ggf der im Widerspruchsschreiben vom 21.09.2015 enthaltene Antrag, alle einbehaltenen Leistungen abzüglich gewährter Sachleistungen wegen seit Anfang 2013 ergangener Sanktionen nachzuzahlen, als neue Überprüfungsanträge auszulegen sind, kann dahinstehen. Die im Rahmen von Überprüfungsanträgen zu erhebende kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 54 Rn 20c – mwN) ist nur zulässig, wenn bereits ein Verwaltungsakt vorliegt, der angefochten werden kann (Keller aaO Rn 8a). Am Vorliegen eines entsprechenden Bescheides, gegen den dann zudem noch ein erfolgloses Widerspruchsverfahren vor Klageerhebung durchzuführen wäre (vgl § 78 SGG), fehlt es aber vorliegend. Anhaltspunkte dafür, die Kläger wollten anstelle der von ihnen sinngemäß formulierten kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage eine Untätigkeitsklage dahingehend erheben, den Beklagten zum Erlass der Überprüfungsbescheide zu verpflichten, sind nicht erkennbar. Auch im Berufungsverfahren haben die Kläger hierzu nichts weiter ausgeführt, obwohl das SG darauf hingewiesen hat, es lägen noch keine negativen Überprüfungsentscheidungen vor. In Bezug auf das Schreiben der Kläger vom 21.09.2015 haben sie sich trotz einer entsprechenden Anfrage des Beklagten zu einer etwaigen Auslegung als Überprüfungsantrag in Bezug auf bereits erlassene Sanktionsbescheide nach Aktenlage nicht geäußert.
Es kommt vorliegend damit nicht darauf an, ob der Beklagte im Hinblick auf die Vielzahl der fortlaufenden Einladungen sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat oder eine Ermessensunterschreitung vorliegen könnte (vgl dazu BSG, Urteil vom 29.04.2015 – B 14 AS 19/14 R – juris), was zu einer Rechtswidrigkeit einer darauf gestützten Sanktion führen könnte.
Die Kläger haben damit keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Aufhebung der Sanktionsbescheide, so dass die Berufung zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.