Sozialrecht

Kostenerstattung für eine Protonenbestrahlung durch die Krankenversicherung

Aktenzeichen  S 5 KR 100/16

Datum:
17.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 49356
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 2 Abs. 1, Abs. 1a, § 13 Abs. 3, Abs. 3a

 

Leitsatz

1. Entscheidet die Krankenversicherung erst über einen Monat nach Antrag über eine Leistung, ohne den MDK einzuschalten, gilt der Antrag als genehmigt. Das gilt auch für die Erstattung von Kosten einer Protonentherapie. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Krankenversicherung kann sich nicht darauf berufen, dass die Leistung außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, weil sie selbst Versorgungsverträge mit Universitäten zur ambulanten Protonentherapie abgeschlossen hat. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Einschränkung des § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V auf Fallgestaltungen, in denen die Genehmigungsfiktion sich nicht auf Leistungen erstreckt, die vor Ablauf der dreiwöchigen Frist in Anspruch genommen werden, kann weder dem Wortlaut der Norm noch ihrer systematischen Stellung als Kostenerstattungsvorschrift entnommen werden. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bei einem erheblichen Volumenwachstum eines Tumors liegt eine notstandsähnliche Situation vor, die ein weiteres Zuwarten oder eine gesonderte medizinische Überprüfung unzumutbar macht. (Rn. 37 – 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 12.10.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2016 wird aufgehoben. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten für die Protonentherapie in Höhe von 21.100,00 € zu bezahlen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 12.10.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2016 hält einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand. Der Kläger hat Anspruch auf Erstattung der verauslagten 21.100,00 € für die Protonentherapie die vom 16.09.2015 bis 20.10.2015 im RPTC stattgefunden hat.
Gemäß § 13 Abs. 3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragstellung oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme, insbesondere des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Der Kläger hat unstreitig seinen Antrag am 09.09.2015 gestellt, die Beklagte hat über den Antrag erst mit Bescheid vom 12.10.2015 entschieden, ohne dass der MDK von der Beklagten eingeschaltet worden wäre. Die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V war am 30.09.2015 abgelaufen. Damit gilt die vom Kläger unter dem 09.09.2015 beantragte Leistung als genehmigt. Die vom Kläger beantragte Leistung war hinreichend konkret, sogar die Höhe der Kosten waren zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits bekannt. Soweit sich die Beklagte auf das Urteil des BSG vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R – bezieht, wonach bei einer Leistung, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, die Vorschrift nicht anzuwenden sei, liegen diese Ausführungen neben der Sache. Dies gilt schon deshalb, weil die Beklagte selbst Versorgungsverträge mit den Universitäten H. und E. zur ambulanten Protonentherapie abgeschlossen hat, zudem das RPTC als zugelassenes Krankenhaus für die teilstationäre bzw. vollstationäre Erbringung der Leistung (Protonentherapie) zugelassen ist und die Beklagte diese Leistung als teilstationäre Leistung bezahlt hätte.
Eine Einschränkung des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V auf Fallgestaltungen, in denen die Genehmigungsfiktion sich nicht auf Leistungen bzw. Teile von Leistungen erstreckt, die vor Ablauf der dreiwöchigen Frist in Anspruch genommen werden, kann dem Wortlaut des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V und seiner systematischen Stellung als Kostenerstattungsvorschrift nicht entnommen werden. Damit gilt die vom Kläger beantragte Leistung als genehmigt.
Unter Zugrundelegung der Auffassung der Beklagten hätte sie immerhin Leistungen, die der Kläger nach dem 30.09.2015 im RPTC in Anspruch genommen hat, erstatten müssen. Entsprechende Vorschläge des Gerichts in der nichtöffentlichen Sitzung am 04.09.2017 blieben bei der Beklagten ohne Resonanz.
Die Kammer hält es nicht für sachgerecht, den Kläger auf eine Protonentherapie an den Universitäten H. oder E. zu verweisen, dem Gericht aber keine Informationen über den Inhalt der entsprechenden Verträge zu geben – und damit eine Prüfung unmöglich zu machen, unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Kosten eine Protonentherapie in H. und E. möglich gewesen wäre. Geradezu zynisch bewertet die Kammer die Einlassung der Beklagten, eine teilstationäre Krankenhausbehandlung mit der vom Kläger beantragten Protonentherapie im RPTC wäre möglich gewesen, die Voraussetzungen für eine teilstationäre Behandlung hätten aber – angesichts der ambulant durchgeführten Behandlungen – nicht vorgelegen. Die Beklagte teilt dem Kläger im Ergebnis also mit, eine kostenträchtigere Behandlung hätte sie bezahlt, aber die kostengünstigere Behandlung nicht.
Wollte man der Auffassung der Kammer zum Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3a SGB V nicht folgen, besteht gleichwohl ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift sind die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn eine unaufschiebbare Leistung von der Krankenkasse nicht rechtzeitig erbracht werden konnte oder die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Leistung notwendig war.
Das BSG hat – exakt zur kurativen Behandlung eines metastasierenden Nierentumors – im Urteil vom 08.09.2015 – B 1 KR 14/14 R – im Orientierungssatz 3 ausgeführt: „Sofern die Selbstbeschaffung einer Leistung durch den Versicherten unaufschiebbar ist und keine andere erfolgversprechende und zumutbare kurative Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, liegt ein sich auf die grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts stützender Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 SGB V besonders nahe“.
Auch diese Voraussetzungen liegen zur Überzeugung der Kammern vor. Die Beklagte hat die vom Kläger beantragte Leistung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt. Dem Kläger sind für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, die von der Beklagten zu erstatten sind. Die Beklagte hat die Leistung zu Unrecht abgelehnt, weil der Kläger gemäß § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V Anspruch auf die beantragte Protonentherapie hatte. Gemäß dieser Vorschrift könnten Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auf eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Unter den Beteiligten ist nicht streitig, dass der Kläger an einer lebensbedrohlichen und regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, die derzeit ohnehin nur palliativ – und nicht mehr kurativ – behandelt werden kann. Die Kammer folgt dem Gutachten von Dr. G. vom 16.12.2017 insoweit, als ein Wechsel der Systemtherapie „keine sinnvolle Behandlungsalternative“ war und somit eine Umstellung der Medikation aus medizinischen Gründen ausschied. Ebenso kam eine chirurgische Exzision mit sinnvoller Zielsetzung nicht mehr in Betrag und stelle keine Behandlungsalternative dar. Die Kammer teilt die Auffassung des ärztlichen Sachverständigen Dr. G. im Gutachten vom 16.12.2017 auch dahingehend, dass nur noch die Bestrahlung des Tumors als palliative Behandlung sinnvoll war; der Gutachter kommt zu dem Ergebnis, dass es für die Behandlung des Klägers prinzipiell zwei technisch unterscheidbare Bestrahlungsmöglichkeiten – mit IMRT und der Protonentherapie – gab. Der ärztliche Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass sowohl IMRT als auch die Protonentherapie Bestrahlungsmöglichkeiten sind, die – wenn auch technisch auf einer jeweils anderen Methodik beruhen – in der Lage sind, vorbestrahlte Gebiete zu schonen.
Die Kammer teilt jedoch im Ergebnis die Auffassung des ärztlichen Sachverständigen nicht, dass die IMRT eine zumutbare Behandlungsmöglichkeit für den Kläger darstellte. § 2 Abs. 1a SGB V stellt zwar den Wortlaut nach darauf ab, dass „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht“, eine solche Leistung steht aber nicht zur Verfügung, wenn sie für den Versicherten nicht zumutbar (vgl. BSG, a.a.O.) in Anspruch genommen werden kann. Dabei ist auf den jeweils individuellen Einzelfall abzustellen, wobei die Prüfung der Zumutbarkeit auch subjektive, in der Person des Versicherten liegende Elemente berücksichtigen kann.
Im konkreten Fall hat die Kammer die volle Überzeugung gewonnen, dass eine Bestrahlungsmöglichkeit mit dem IMRT für den Kläger keine zumutbare Behandlungsalternative war und somit eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im konkreten Fall nicht zur Verfügung stand. Der Kläger hat nachvollziehbar gegen das Gutachten eingewandt, dass die IMRT eine weitere Strahlenbelastung seiner rechten Beckenhälfte bedeutet hätte. Eine solche weitere Strahlenbelastung war zur Überzeugung der Kammer dem Kläger – objektiv und subjektiv – nicht zuzumuten. Der Kläger hat sich sehr intensiv mit den verschiedenen Möglichkeiten der Strahlentherapie befasst und auseinandergesetzt. Er hat das Gericht mit seinen Ausführungen zu der Problematik der IMRT-Bestrahlung überzeugt, weil sie im Ergebnis eine höhere Strahlenbelastung der die Metastase umgebenden Gebiete bedeutet hätte. Darüber hinaus war auch der Hinweis des Gutachters bzw. der Beklagten, der Kläger hätte die Protonentherapie auch an der Universität H. oder E. durchführen lassen können nicht geeignet, den Anspruch auf Kostenerstattung des Klägers zu beeinträchtigen. Denn die Kammer hat – mit dem Kläger – die volle Überzeugung gewonnen, dass das Tumorwachstum – entgegen der Schilderungen des Gutachters Dr. G. keineswegs langsam war. Der ärztliche Sachverständige sieht eine notstandsähnliche Situation „aufgrund des langsamen Größenwachstums“ als nicht gegeben an. Die Kammer ist anderer Auffassung und legt sie ihrer Entscheidung zugrunde bis Ende Juli 2015 war die Größe des Tumors mit dem entsprechenden bildgebenden Verfahren mit 5,4 mal 3,0 mm beschrieben worden, dann aber am 09.09.2015 mit 5,8 mal 3,7 mm. Das ergibt bereits – bei zweidimensionaler Betrachtung ein „Flächenwachstum“ von 32%, so dass der Kammer das vom Kläger vorgetragene Volumenwachstum von über 50% nachvollziehbar ist. Bei einem Volumenwachstum dieser Größenordnung lag zur Überzeugung der Kammer eine notstandsähnliche Situation vor, in der dem Kläger eine weiteres Zuwarten oder eine gesonderte medizinische Prüfung nicht mehr zumutbar war. Die Kammer hat auch die volle Überzeugung gewonnen, dass der Kläger die Behandlung im RPTC nicht aus organisatorischen Gründen durchgeführt hat oder weil er sich auf diese Art der Behandlung versteift hatte; die Kontaktaufnahme zum RPTC im Juni 2015 erfolgte als eine prophylaktische Planung, um bei einer ggf. schnelleren Zunahme des Tumorgeschehens keine längeren Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Diese Planung sollte dem Kläger, wenngleich er sie nicht mit der Beklagten abgesprochen hat, nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Dementsprechend und im Ergebnis war die Beklagte zu der beantragten Kostenerstattung zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

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