Aktenzeichen W 3 K 15.1023
SGB VIII § 10 Abs. 4, § 35a, § 91
Leitsatz
1 Die Eltern sind verpflichtet, die Kosten der stationären Unterbringung in einer Jugendhilfe-einrichtung wegen drohender seelischer Behinderung ihre Sohnes (§ 35a Abs. 2 SGB VIII) zu tragen (§ 91 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII). Ein Atypischer Autismus (IDC-10 F 84.1)und eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (IDC-10 F 90.0) deuten auf eine drohende seelische Behinderung hin. (redaktioneller Leitsatz)
2 Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII sind gegenüber Leistungen der Ein- gliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vorrangig. Etwas anderes mit der Folge der Kostentragung durch den Sozialhilfeträger und nicht die Eltern ergibt sich nur bei Vorliegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung (§ 10 Abs. 4 SGB VIII). In einer einfachen Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung liegt jedoch keine geistige Behinderung. Ohne Hinweise auf geistige Beeinträchtigungen, etwa eine Intelligenzstörung, liegt auch im Autismus keine geistige Behinderung. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Über die Klage kann gemäß § 84 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zuvor angehört.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 16. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 24. Februar 2015 erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die Erhebung der streitgegenständlichen Kostenbeiträge sind §§ 91 ff. SGB VIII. Dies ergibt sich aus § 91 SGB VIII, der den Anwendungsbereich der §§ 91-94 SGB VIII bestimmt. Nach § 91 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII werden Kostenbeiträge nach §§ 91 ff. SGB VIII zur Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche durch geeignete Pflegepersonen sowie in Einrichtungen über Tag und Nacht und in sonstigen Wohnformen (§ 35a Abs. 2 Nr. 3 und 4 SGB VIII) erhoben. Um eine solche Maßnahme handelt es sich ausweislich des Bewilligungsbescheids des Beklagten vom 10. September 2013 bei der Hilfeleistung, die der Beklagte für den Sohn des Klägers erbringt. In dem Bewilligungsbescheid vom 10. September 2013 wird die bewilligte Hilfeleistung ausdrücklich auf § 35a SGB VIII gestützt mit der Begründung, dass der Hilfeempfänger (der Sohn des Klägers) laut ärztlichem Gutachten dem Personenkreis der seelisch Behinderten zuzuordnen sei. Da der Beklagte somit (bewusst) Eingliederungshilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch bewilligt hat, liegt mit der Übernahme der Kosten für die vollstationäre Unterbringung und Betreuung des Sohnes des Klägers in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung eine Hilfemaßnahme nach § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII und damit eine in § 91 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII genannte kostenbeitragspflichtige Leistung vor.
Seiner Kostenbeitragspflicht kann der Kläger nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die Hilfeleistung nicht auf § 35a SGB VIII hätte gestützt werden dürfen, sondern Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch hätte gewährt werden müssen. Denn die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII einschließlich des Bestehens einer (drohenden) seelischen Behinderung im Sinne der vorgenannten Vorschrift liegen vor und es ist kein vorrangiger Anspruch des Sohns des Klägers auf Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch gegeben.
Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne des Achten Buches Sozialgesetzbuch sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
Diese Voraussetzungen liegen vor. Insbesondere ist der Sohn des Klägers ausweislich des Arztbriefes vom 15. Oktober 2012 von einer seelischen Behinderung im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bedroht.
Ob eine Abweichung der seelischen Gesundheit im Sinne des Achten Buches Sozialgesetzbuch besteht, ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu entscheiden (vgl. § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII). Ergänzend hierzu hat sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein multiaxiales Klassifikationsschema psychischer Störungen eingebürgert (vgl. Vondung in Kunkel (Hrsg.), SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 35a Rn. 11 f.). Hierbei handelt es sich um eine Mehrebenenbetrachtung auf sechs Achsen. Dabei werden auf der ersten Achse die psychiatrischen Diagnosen aus dem Kapitel 5 der ICD-10 F beschrieben mit Ausnahme der Entwicklungsstörungen und der Intelligenzminderung. Damit zählen zu den auf der ersten Achse erfassten Diagnosen auch die tief greifenden Entwicklungsstörungen im Sinne autistischer Syndrome in der Kategorie F84. Auf der dritten Achse wird üblicherweise das Intelligenzniveau beschrieben, wobei nicht nur die in Kapitel F7 erfassten Formen der Intelligenzminderung, die sozialrechtlich auf eine Zuständigkeit nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch hinweisen, erfasst werden, sondern auch Lernbehinderungen und Formen der überdurchschnittlichen Intelligenz. Die zweite und vierte bis sechste Achse beziehen sich auf umschriebene Entwicklungsstörungen der Kategorie F80 bis F83 (Achse II), die körperliche Symptomatik im Sinne von Grund- und Begleiterkrankungen (Achse IV), psychosozial relevante Belastungen (Achse V) bzw. eine globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (Achse VI; zum Ganzen Fegert in Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 35a Rn. 92 ff.; Meysen in Münder/Meysen/Trenczek (Hrsg.), Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 35a Rn. 21 ff.) und bedürfen an dieser Stelle keiner näheren Betrachtung, da beim Sohn des Klägers lediglich auf den Achsen I und III klassifizierte Diagnosen bzw. Feststellungen vorliegen.
Bei dem Sohn des Klägers wurden – nach dem multiaxialen Klassifikationsschema auf Achse I – gemäß dem ICD-10 ein Atypischer Autismus (ICD-10 F84.1) und eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F 90.0) diagnostiziert. Auf Grundlage dieser Diagnosen wurde mit Arztbrief vom 15. Oktober 2012 festgestellt, dass der Kläger von einer nicht nur vorübergehenden seelischen Behinderung bedroht sei. Es gibt keinen Anlass, an dieser ärztlichen Feststellung zu zweifeln.
Dem Kläger ist zwar zuzugeben, dass unter Medizinern Streit darüber bestehen mag, ob Autismus eine geistige oder eine seelische Behinderung ist (vgl. OVG Bremen, U.v. 9.12.2009 – S 3 A 443/06 – juris Rn. 48). Für die hier in Rede stehende rechtliche Einordnung des Autismus nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch kommt es jedoch hierauf nicht an, solange sich dies nicht in der für die rechtliche Beurteilung gemäß § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII maßgeblichen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung widerspiegelt.
Nach dem ICD-10 gilt Folgendes:
Bei dem Atypischen Autismus nach ICD-10 F 84.1, der beim Sohn des Klägers diagnostiziert wurde, handelt es sich um eine tief greifende Entwicklungsstörung. Die Gruppe tief greifender Entwicklungsstörungen in diesem Sinne ist gekennzeichnet durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Diese qualitativen Auffälligkeiten sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal des betroffenen Kindes (vgl. ICD-10 F 84). Die Subkategorie „Atypischer Autismus“ sollte dabei gemäß ICD-10 F 84.1 immer dann verwendet werden, wenn die abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung erst nach dem dritten Lebensjahr manifest wird und wenn nicht in allen für die Diagnose Autismus geforderten psychopathologischen Bereichen (nämlich wechselseitige soziale Interaktionen, Kommunikation und eingeschränktes, stereotyp repetitives Verhalten) Auffälligkeiten nachweisbar sind, auch wenn charakteristische Abweichungen auf anderen Gebieten vorliegen.
Soll eine Intelligenzstörung angegeben werden, sieht der ICD-10 vor, neben der Schlüsselnummer F 84.1 eine zusätzliche Schlüsselnummer (F 70-F79) zu benutzen. Umgekehrt sind auch bei Vorliegen einer Intelligenzstörung zusätzliche Schlüsselnummern (zusätzlich zu den Klassifizierungen F 70-79) zu benutzen, um begleitende Zustandsbilder wie Autismus oder andere Entwicklungsstörungen anzugeben. Unter der Bezeichnung „Intelligenzstörung“ versteht der ICD-10 dabei den Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten. Damit geht der – für die rechtliche Einordnung von Störungsbildern nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch wie bereits ausgeführt maßgebliche – ICD-10 davon aus, dass Autismus nicht notwendig mit einer Beeinträchtigung geistiger Fähigkeiten eines Kindes im Sinne einer Intelligenzstörung und damit nicht notwendig mit einer geistigen Behinderung einhergehen muss, sondern hierfür im Diagnosebericht zusätzliche ICD-10-Schlüsselnummern anzugeben sind.
Dies steht auch im Einklang mit neueren Untersuchungen: Während in älteren Untersuchungen davon ausgegangen wurde, dass zum Teil mehr als drei Viertel aller Kinder mit Autismus gleichzeitig geistig behindert sind, zeigen alle neueren Untersuchungen nur noch Häufigkeiten von 30% für diese Kombination (Fegert in Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 35a Rn. 74 m. w. N.). Es gibt auch Kinder mit normaler Intelligenz oder vor allem ausgeprägten Sonderbegabungen (Fegert in Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 35a Rn. 76).
Somit ordnet der ICD-10 autistische Störungen nicht dem Bereich der geistigen, sondern dem der seelischen Störungen zu. Geht der Autismus in einem konkreten Fall zugleich mit geistigen Beeinträchtigungen einher, ist dies durch Angabe zusätzlicher Schlüsselnummern der Kategorie F 70-F79 zu kennzeichnen.
Die ICD-10-Klassifizierung wurde auch in dem Arztbrief vom 15. Oktober 2012 verwendet. Unter Zugrundelegung dieses Klassifikationsschemas wurden im Fall des Sohns des Klägers in dem Arztbrief vom 15. Oktober 2012 – wie bereits ausgeführt – lediglich ein Atypischer Autismus (ICD-10 F 84.1) und eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F 90.0) diagnostiziert. Für Intelligenzstörungen vorgesehene Schlüsselnummern (F 70-F79) wurden nicht benutzt. Damit erweist sich der Arztbrief vom 15. Oktober 2012 als schlüssig und in sich widerspruchsfrei. Insbesondere steht das ärztliche Fazit vom 15. Oktober 2012, dass der Kläger von einer nicht nur vorübergehenden seelischen Behinderung bedroht sei, im Einklang mit den ärztlichen Befunden und Diagnosen, die im Rahmen der dem Arztbericht vom 15. Oktober 2012 zugrunde liegenden Untersuchungen erhoben wurden. Die in dem Arztbrief genannten Diagnosen (Atypischer Autismus (ICD-10 F 84.1) und einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F 90.0) und die Feststellung einer durchschnittlichen Intelligenz an sich hat der Kläger weder substantiiert bestritten noch sind insoweit Fehler oder Unschlüssigkeiten ersichtlich.
Nach alledem liegt beim Sohn des Klägers eine (drohende) seelische Behinderung als Voraussetzung der Hilfegewährung nach § 35a SGB VIII vor.
Auch im Übrigen sind keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der gewährten Hilfeleistung nach § 35a SGB VIII vorgetragen oder erkennbar, so dass dahinstehen kann, inwieweit ein Kläger die Rechtmäßigkeit der bewilligten Jugendhilfemaßnahme im Rahmen einer Klage gegen seine Heranziehung zu einem Kostenbeitrag nach den §§ 91 ff. SGB VIII überhaupt inzident überprüfen lassen kann, wenn er – wie hier der Kläger – an dem jugendhilferechtlichen Bewilligungsverfahren beteiligt war und daher im Rahmen des Bewilligungsverfahrens die Möglichkeit gehabt hätte, unmittelbar gegen die Bewilligung der Hilfemaßnahme vorzugehen. Insbesondere stünde der Rechtmäßigkeit der Hilfe nach § 35a SGB VIII auch nicht entgegen, wenn neben dem Anspruch aus § 35a SGB VIII zugleich ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch gegeben wäre. Konkurrieren Leistungsansprüche nach Jugendhilfe- und Sozialhilferecht im Sinne von § 10 Abs. 4 SGB VIII miteinander, sind nämlich der Träger der Jugendhilfe und der Träger der Sozialhilfe gegenüber dem Berechtigten gleichermaßen nicht nur vorläufig zur Leistung verpflichtet (BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3.11 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 17.2.2014 – 12 C 13.2646 – juris Rn. 18 m. w. N.).
Das Bestehen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe auch nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch hätte im streitgegenständlichen Fall auch keine Auswirkungen auf die Kostenbeitragspflicht des Klägers. Denn unabhängig davon, ob der Sohn des Klägers tatsächlich einen Anspruch auf Eingliederungshilfe auch nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch hat, wäre ein solcher Anspruch jedenfalls nicht gegenüber dem Anspruch nach § 35a SGB VIII vorrangig. Das Bestehen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch kann aber allenfalls dann Auswirkungen auf die Kostenbeitragspflicht des Klägers haben, wenn die Hilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch im Verhältnis zu der vom Beklagten gewährten Hilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vorrangig ist und der Beklagte als Jugendhilfeträger daher einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X gegen den zuständigen Sozialhilfeträger hat. Nur dann wäre denkbar, dass dem Jugendhilfeträger infolge einer Erstattung von Kosten durch den Sozialhilfeträger (§ 104 SGB X) keine jugendhilferechtlich kostenbeitragsfähigen Kosten verbleiben (hierzu OVG Lüneburg, B.v. 21.1.2014 – 4 LC 57/11 – juris).
Dass etwaige Ansprüche des Sohns des Klägers auf Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nicht vorrangig wären, ergibt sich aus der Vorschrift des § 10 Abs. 4 SGB VIII. Konkurrieren Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungen nach Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, regelt § 10 Abs. 4 SGB VIII das Verhältnis der Leistungen zueinander. Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen die Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vor. Abweichend hiervon gehen Leistungen nach § 27a Abs. 1 i. V. m. § 34 Abs. 6 SGB XII und Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem Achten Buch vor (§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII). Dies bedeutet, dass etwaige Ansprüche des Sohns des Klägers auf Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nur dann gegenüber den vom Beklagten erbrachten Leistungen nach § 35a SGB VIII vorrangig sein können, wenn der Sohn des Klägers körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht ist.
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Eine körperliche Behinderung liegt unstreitig nicht vor. Da das klinische Bild des Autismus sehr breit gestreut ist, bedarf die Frage, ob bei einer autistischen Person (auch) eine geistige Behinderung vorliegt, stets einer Einzelfallentscheidung (vgl. OVG Bremen, U.v. 9.12.2009 – S 3 A 443/06 – juris Rn. 70).
Im Fall des Sohns des Klägers wurden in dem Arztbrief vom 15. Oktober 2012 – wie bereits ausgeführt – keine für Intelligenzstörungen vorgesehenen Schlüsselnummern (F 70-F79) benutzt. Damit wurde auf Grundlage der maßgeblichen ICD-10-Klassifizierung keine geistige Behinderung, auch nicht als Begleitbild des Autismus festgestellt. Vielmehr hat der Sohn des Klägers ausweislich des Arztbriefs vom 15. Oktober 2012 im Intelligenztest (WISC IV) ein Ergebnis im mittleren Durchschnittsbereich erreicht. Bei den Diagnosen nach multiaxialem Klassifikationsschema wird das Intelligenzniveau des Klägers dementsprechend als „durchschnittlich“ klassifiziert. Damit liegen keinerlei Hinweise auf Beeinträchtigungen im geistigen Bereich vor. Auch die Noten des Sohns des Klägers lassen keine Schwierigkeiten mit dem Lernstoff erkennen, welche auf Einschränkungen im geistigen Bereich schließen lassen könnten. In den meisten Schulfächern (mit Ausnahme von Mathematik und Englisch) zeigte der Sohn des Klägers selbst vor Beginn der Hilfe in Form der vollstationären Unterbringung gute bis befriedigende Leistungen (vgl. Jahreszeugnis 2011/2012, Bl. VI. 19, VI. 20 der Behördenakte (BA)). Nichts anderes gilt im Hinblick auf die nach Hilfebeginn erbrachten Schulleistungen, die zumindest überwiegend im guten bis befriedigenden Bereich lagen (vgl. Hilfeplanfortschreibung vom 6.12.2013, Bl. VI 25 BA, Rückmeldebogen vom 22.10.2013, Bl. VI. 30 Tischvorlage zum Hilfeplangespräch am 27.6.2014, Bl. VI 34 f. BA).
Auch die Diagnose einer einfachen Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung lässt nicht auf eine geistige Behinderung schließen. Die einfache Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ICD-10 F 90.0) zählt zu den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend der Kategorie ICD-10 F 90-98. Es handelt sich um eine hyperkinetische Störung in Form eines Aufmerksamkeitsdefizits bei hyperaktivem Syndrom, Hyperaktivitätsstörung und Störung mit Hyperaktivität mit Ausnahme von hyperkinetischen Störungen des Sozialverhaltens (vgl. ICD-10 F 90, F 90.0). Eine geistige Behinderung liegt hierin nicht. Der ICD-10 weist in der Gruppe der Störungen F 90-98 lediglich bei Störungen der Kategorie F 98 („Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“) darauf hin, dass diese häufig in Verbindung mit einer Intelligenzminderung auftreten würden. Auch hier gilt jedoch, dass dann, wenn dies der Fall ist, nach Maßgabe des ICD-10 je nach Art der Verhaltensstörung beide Störungen (Verhaltensstörung und Intelligenzstörung) gesondert zu kodieren oder als Hauptdiagnose eine Kodierung unter F 70-F 79 (Kodierung für die Intelligenzminderung) zu verwenden ist. Eine solche Kodierung wird im Arztbrief vom 15. Oktober 2012 jedoch nicht angegeben. Auch der Kläger geht im Hinblick auf die Diagnose einer einfachen Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ICD-10 F 90.0) – anders als bei der Diagnose Autismus – nicht von einer geistigen Behinderung aus.
Somit liegen keine konkreten Anhaltspunkte für eine geistige Behinderung des Sohns des Klägers vor. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich nichts anderes. Es wird lediglich ohne jede weitere Substantiierung unter rein pauschalem Hinweis auf eine unter Medizinern geführte Debatte über die Einordnung des Autismus behauptet, dass beim Sohn des Klägers eine geistige Behinderung (in Form des Autismus) vorliege. Es fehlt jede Konkretisierung, wie sie die verfahrensrechtliche Darlegungspflicht erfordert, etwa anhand von Hinweisen im Verhalten des Sohns des Klägers auf die vom Kläger behauptete geistige Beeinträchtigung oder durch Nennung von Gesichtspunkten, die im Arztbrief vom 15. Oktober 2012 bzw. im Rahmen der dem Arztbrief zugrundeliegenden Untersuchungen nicht berücksichtigt wurden. Das Vorbringen des Klägers ist nach alledem nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit der ärztlichen Feststellungen einschließlich der Feststellung des Bestehens allein einer (drohenden) seelischen Behinderung beim Sohn des Klägers zu wecken. Der Kläger setzt sich nicht ansatzweise substantiiert mit den Ausführungen des Arztbriefes vom 15. Oktober 2012 auseinander. Folglich bedurfte es auch keiner Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob bei dem Sohn des Klägers – entgegen den eindeutigen Feststellungen des vorgenannten Arztbriefes – eine geistige Behinderung vorliegt. Dass Autismus nach der maßgeblichen Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung nur dann einer geistigen Behinderung im Sinne einer Intelligenzstörung zuzurechnen ist, wenn dies durch Verwendung entsprechender Schlüsselnummern für Intelligenzstörungen gekennzeichnet wird, ergibt sich zudem wie bereits ausgeführt ohne weiteres aus dem Text des ICD-10, ohne dass es hierzu besonderer Sachkunde bedarf.
Nach alledem ist nicht von einer geistigen Behinderung des Sohns des Klägers auszugehen. Beim Sohn des Klägers liegt ausweislich des Arztbriefes vom 15. Oktober 2012, der auf Grundlage des ICD-10 erstellt wurde und an dessen inhaltlicher Richtigkeit das Vorbringen des Klägers aus den dargestellten Gründen keine Zweifel zu wecken vermag, allein eine (drohende) seelische Behinderung vor.
Nichts anderes würde sich bei Anwendung der Aufzählung in den §§ 1 bis 3 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Eingliederungshilfe-Verordnung) in der Neufassung der Bekanntmachung vom 1. Februar 1975 (BGBl. I S. 433), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022), ergeben (für deren Anwendbarkeit OVG NRW, U.v. 20.2.2002 – 12 A 5322/00 – juris; gegen deren Anwendung in Bezug auf Abweichungen von der seelischen Gesundheit Meysen in Münder/Meysen/Trenczek (Hrsg.), Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 35a Rn. 18; siehe ferner Vondung in Kunkel (Hrsg.), SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 10 Rn. 65, § 35a Rn. 11 f.). Diese Vorschriften zählen Beeinträchtigungen auf, die zu Teilhabebeeinträchtigungen im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII führen bzw. führen können. Während § 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung körperliche Gebrechen zum Gegenstand hat, definiert § 2 der Verordnung den Begriff der wesentlichen geistigen Behinderung und nennt § 3 der Verordnung seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zur Folge haben können. Letztere sind demnach körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind dagegen Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Letzteres trifft auf den Sohn des Klägers nicht zu. Vielmehr sind seine Beeinträchtigungen den in § 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung genannten Störungen zuzuordnen, da es sich – wie bereits ausgeführt – um tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Autismus) bzw. um Verhaltens- und emotionale Störungen (einfache Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung) handelt, die nicht zugleich mit einer Schwäche der geistigen Kräfte einhergehen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 20.2.2002 – 12 A 5322/00 – juris).
Nach alledem hat der Sohn des Klägers zwar einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII; es bestehen jedoch keine nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gegenüber der Hilfe nach § 35a SGB VIII vorrangigen Ansprüche des Sohns des Klägers auf Eingliederungshilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch. Folglich kann der Kläger seiner Heranziehung zu einem Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII weder mit Erfolg entgegenhalten, dass die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII mangels Vorliegens einer (drohenden) seelischen Behinderung nicht gegeben seien, noch dass vorrangig Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch hätte gewährt werden müssen (und daher vorrangig der Sozialhilfeträger auf Erstattung hätte in Anspruch genommen werden müssen, statt einen Kostenbeitrag vom Kläger zu fordern).
Ausgehend von diesen rechtlichen Gegebenheiten hat der Kläger einen nach Maßgabe der §§ 91 ff. SGB VIII in Verbindung mit der jeweils geltenden Verordnung zur Festsetzung der Kostenbeiträge für Leistungen und vorläufige Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe – Kostenbeitragsverordnung – zu berechnenden Kostenbeitrag zu der Eingliederungshilfe für seinen Sohn zu leisten. Durchgreifende Bedenken gegen die Berechnung des vom Kläger zu leistenden Kostenbeitrags, welche dem angefochtenen Bescheid vom 16. Oktober 2014 in der Fassung des Widerspruchbescheids vom 24. Februar 2015 zugrunde liegt, sind weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Das Gericht folgt insoweit den zutreffenden Ausführungen des angefochtenen Bescheids vom 16. Oktober 2014 in der Fassung des Widerspruchbescheids vom 24. Februar 2015 und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Es ist auch kein besonderer Härtefall nach § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII gegeben, weil kein atypischer Fall vorliegt, in dem die Erhebung eines Kostenbeitrags zu einem Ergebnis führen würde, dass den Leitvorstellungen der §§ 91 ff. SGB VIII widerspricht.
Nach alledem erweist sich der angefochtene Kostenbeitragsbescheid als rechtmäßig. Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
Für eine Anordnung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung gemäß § 167 VwGO i. V. m. den Bestimmungen des Achten Buchs der Zivilprozessordnung besteht keine Veranlassung, da das Verfahren gerichtskostenfrei ist, der Beklagte nicht durch anwaltliche Bevollmächtigte vertreten war und im Übrigen auch kein Vollstreckbarkeitsrisiko ersichtlich ist.