Sozialrecht

Kostenübernahme für schulische Mittagsbetreuung

Aktenzeichen  M 18 K 15.2047

Datum:
4.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII SGB VIII § 22 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 45, § 90 Abs. 3
BayKiBiG BayKiBiG Art. 2 Abs. 1

 

Leitsatz

Eine Kindertageseinrichtung im Sinne von § 22 Abs. 1 S. 1 SGB VIII liegt nicht vor, wenn den Schülern einer Schule, eingebunden in ihre Schulorganisation, nach der Beendigung des Unterrichts die Möglichkeit beaufsichtigter Hausaufgabenanfertigung, der Vertiefung des im Unterricht Gelernten oder des Aufenthalts geboten wird. Dem umfassenden Förderbegriff des § 22 Abs. 2, Abs. 3 SGB VIII wird eine im Wesentlichen an schulischen Zwecken orientierte Betreuung in der Regel nicht gerecht. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Das Klagebegehren ist nach dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf die Verpflichtung des Beklagten gerichtet, die für die im Zeitraum September 2014 bis April 2015 für die Mittagsbetreuung der Tochter der Klägerin angefallenen Kosten einschließlich des Essensgeldes zu übernehmen, soweit sie nicht vom Jobcenter bei der Berechnung der Leistungen berücksichtigt worden sind (vgl. Bl. 99 der Verwaltungsakten).
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 22. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme der Kosten für die Mittagsbetreuung ihrer Tochter im Schuljahr 2014/2015, da es sich hierbei um keine Einrichtung im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII handelt.
Nach § 90 Abs. 3 Satz 1 soll im Fall der Inanspruchnahme von Angeboten der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen nach §§ 22 bis 24 SGB VIII der Teilnahmebeitrag oder die Gebühr auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern (hier: der allein erziehenden Klägerin) und dem Kind nicht zuzumuten ist. Die Übernahme von Kostenbeiträgen kann damit nur für eine Betreuung erfolgen, die in einer Tageseinrichtung nach § 22 SGB VIII erfolgt.
Kindertageseinrichtungen im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in Gruppen gefördert werden. In ihnen soll die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert, die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützt und ergänzt und den Eltern dabei geholfen werden, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können (§ 22 Abs. 2 SGB VIII), wobei der Förderauftrag die Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes umfasst und sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes bezieht, die Vermittlung orientierender Werte und Regeln einschließt und die Förderung sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen soll (§ 22 Abs. 3 SGB VIII).
Eine Tageseinrichtung in diesem Sinn liegt dann nicht vor, wenn den Schülern einer Schule, eingebunden in ihre Schulorganisation, nach der Beendigung des Unterrichtes die Möglichkeit beaufsichtigter Hausaufgabenanfertigung, der Vertiefung des im Unterricht Gelernten, der Behebung von Wissensdefiziten oder des Aufenthaltes geboten wird (BayVGH, B.v. 5.3.2012 – 12 ZB 10.1559 -). Dem eine Tageseinrichtung im Sinne des § 22 VIII kennzeichnenden, sehr umfassenden Förderbegriff des § 22 Abs. 2, Abs. 3 SGB VIII wird eine im Wesentlichen an schulischen und schulergänzenden Zwecken orientierte Betreuung in der Regel nicht gerecht und stellt deshalb keine Tageseinrichtung im Sinne von § 22 SGB VIII dar, deren Gebühren gemäß § 90 SGB VIII vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden könnten (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2015 – 12 C 15.2352). Einrichtungen, die (primär) dem Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen während der Freizeit oder zur Hausaufgabenbetreuung dienen, zählen daher nicht zu den Tageseinrichtungen des § 22 SGB VIII (Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 22, Rn. 5). In der Regel sind daher die Mittagsbetreuung in der Schule oder auch Ganztagsbetreuungsangebote an Schulen keine Kindertagesbetreuung im Sinne des Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes (BayKiBiG) und damit auch im Sinne des § 22 SGB VIII (BayVGH v. 5.3.2012, a.a.O.).
Eine solche Einrichtung, die „klassische“ Mittagsbetreuung, untersteht gemäß Art. 31 Abs. 3 Satz 3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) der Schulaufsicht, während eine Tageseinrichtung im Sinne von § 22 SGB VIII einer Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII bedarf (so auch BayVGH, B.v. 5.3.2012, a.a.O.).
Letztlich ist im Einzelfall zu prüfen, ob die betreffende Einrichtung eine der Schulaufsicht unterstehende schulische Einrichtung ist, oder eine dem umfassenden Förderbegriff des § 22 SGB VIII gerecht werdende außerschulische Einrichtung. Dabei sind die Zielsetzung und die Angebote der jeweiligen Einrichtung sowie der Umfang der Betreuung einzubeziehen (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2015, a.a.O.).
Nach Auffassung des Gerichts ist auf Grund der Tatsache, dass die Mittagsbetreuung keine Erlaubnis nach § 45 SGB VIII besitzt, und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass es sich bei der Mittagsbetreuung an der Grundschule … im Schuljahr 2014/2015 nicht um eine Tageseinrichtung im Sinne des § 22 SGB VIII handelt.
…, der Träger der Einrichtung, betreibt nach dem in den Behördenakten enthaltenen Konzept (Bl. 24 f.) 6 Kindertagesstätten mit ca. 250 Kindern und 40 Pädagoginnen. Die Mittagsbetreuung an der Grundschule … war die erste (und soweit ersichtlich einzige) ihrer Art dieses Trägers.
Nach den vorgelegten Unterlagen ist davon auszugehen, dass … beabsichtigte, die für seine anderen Einrichtungen entwickelten Ziele und Grundsätze in die Mittagsbetreuung zu übernehmen und damit letztlich eine dem Förderbegriff des § 22 SGB VIII entsprechende (weitere) Einrichtung zu schaffen. Allerdings wird auch deutlich, dass dies auf Grund der Struktur der Mittagsbetreuung und den dortigen Gegebenheiten nicht möglich war.
Aus dem in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreiben von … an die Leiterin der Grundschule … vom 13. November 2014 ergibt sich, dass zwar geplant war, entsprechend der vorgelegten Konzeption ein umfassenderes Betreuungsangebot als eine klassische Mittagsbetreuung zu bieten. Aus diesem Schreiben ergibt sich aber auch, dass das geplante Angebot mit den räumlichen, personellen, pädagogischen und finanziellen Ressourcen nicht verwirklicht werden konnte, d.h., dass – verglichen mit einem Hort – der Personalschlüssel nicht den Vorgaben der Aufsichtsbehörden entsprach und das Raumangebot nicht mit den Mindestvorgaben nach dem BayKiBiG vereinbar war, so dass, um die Grundsätze des § 22 SGB VIII umsetzen zu können, ein (erlaubnispflichtiger) Hort für unabdingbar gehalten wurde.
Vom Landratsamt wurde gegenüber … mit Schreiben vom 02. Februar 2015 zu der angedachten Umgestaltung in einen Hort die Auffassung vertreten, dass die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten einer Erlaubnis auf jeden Fall entgegenstehen würden. Dass somit die Voraussetzungen für eine Erlaubnis nach § 45 SGB VIII nicht vorlagen und diese nicht erteilt werden konnte, spricht für eine (erlaubnisfreie) Betreuungsform im Rahmen der Schule (vgl. BayVGH v. 5.3.2012, a.a.O.).
Zwar hat die Zeugin in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass es verschiedene Projekte in der Mittagsbetreuung gegeben habe, Absprachen zwischen Schule und Mittagsbetreuung stattgefunden hätten und die Kinder in sprachlicher Hinsicht, in Bezug auf Selbständigkeit, Kreativität und Selbstentfaltung gefördert worden seien. Dies unterscheidet die Mittagsbetreuung jedoch nicht von einer klassischen Mittagsbetreuung, da auch eine solche nicht nur Hausaufgabenbetreuung und reine Beaufsichtigung der Kinder in der Freizeit umfasst, sondern über die schulische Förderung hinaus auch der Stärkung sozialer Kompetenzen dient und pädagogische Elemente enthält. Dies ergibt sich notwendigerweise daraus, dass die Kinder in der hausaufgabenfreien Zeit (sinnvoll) beschäftigt und angeleitet werden müssen, um ein soziales Miteinander zu erleben. Auch die Gruppensituation fördert die Entwicklung von Konfliktlösungsstrategie, das Sozialverhalten und die Persönlichkeitsentwicklung.
Die in § 22 SGB VIII geforderte umfassende, gezielte Förderung, Bildung und Erziehung konnte die streitgegenständliche Mittagsbetreuung jedoch nicht leisten. Gemäß Art. 2 Abs. 1 BayKiBiG sind Kindertageseinrichtungen außerschulische Tageseinrichtungen zur regelmäßigen Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern. Nach Abs. 2 der Vorschrift setzt eine regelmäßige Bildung, Erziehung und Betreuung in diesem Sinne voraus, dass die überwiegende Zahl der Kinder über einen Zeitraum von mindestens einem Monat die Kindertageseinrichtung durchschnittlich mindestens 20 Stunden pro Woche besucht. Der Gesetzgeber geht damit davon aus, dass eine ausreichende Kontinuität (im Hinblick auf die Gruppe und die zeitlichen Möglichkeiten der Förderung) erforderlich ist, um die Anforderungen des § 22 SGB VIII erfüllen zu können.
Bei der Mittagsbetreuung der Kinder Art waren nach Angaben der Zeugin im Schuljahr 2014/2015 40 bis 50 Schüler angemeldet, von denen die Hälfte tatsächlich in der Betreuung gewesen sei. Schon aus den zeitlichen Möglichkeiten der Mittagsbetreuung ergibt sich, dass diese Art der Einrichtung nicht mit einer Tageseinrichtung im Sinne von § 22 SGB VIII vergleichbar ist und nicht die gleichen Möglichkeiten der Förderung, Erziehung und Bildung haben kann, sondern vorwiegend der Hausaufgabenbetreuung (damit der schulischen Förderung und der Entlastung der Eltern) und einer sinnvollen, abwechslungsreichen Freizeitgestaltung und Betreuung dient. Die Mittagsbetreuung beginnt frühestens um 11.30 Uhr, je nach Klasse treffen die Kinder auch erst um 13.00 Uhr ein. Feste Hausaufgabenzeit ist von 14.00 – 15.00 Uhr, spätestens um 16.00 Uhr müssen die Kinder abgeholt werden. Dies zeigt, dass für eine gezielte Förderung und die Umsetzung des Konzeptes verhältnismäßig wenig Zeit ist. Dazu kommt, dass die Kinder ab 15.00 Uhr abgeholt werden können und die Mittagsbetreuung nicht täglich, sondern auch nur an (mindestens) zwei Tagen besucht werden kann. Damit sind nicht nur ständig wechselnde Zusammensetzungen der Kindergruppen gegeben, was eine andere Art der Betreuung als in einem Hort erfordert, die Kinder verbringen auch viel weniger Zeit in der Einrichtung; die in Art. 2 Abs. 2 BayKiBiG erwähnten 20 Wochenstunden werden wohl nur von einer Minderheit der Kinder erreicht.
Darüber hinaus ist auch die personelle Ausstattung und die fachliche Qualifikation des Personals nicht mit der einer Tageseinrichtung im Sinne des § 22 SGB VIII, die im Rahmen der Erteilung der Betriebserlaubnis überprüft wird, vergleichbar.
Angesichts der Gesamtumstände, insbesondere der fehlenden Betriebserlaubnis, geht das Gericht daher davon aus, dass es sich bei der streitgegenständlichen Mittagsbetreuung um eine schulische Einrichtung handelte, deren Beiträge nicht im Rahmen der Jugendhilfe zu übernehmen sind, sondern bei Bedarf vom Jobcenter zu berücksichtigen sind.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 VwGO.
Gemäß § 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Berufung zuzulassen, da die Entscheidung des BayVGH vom 21. Dezember 2015 im Prozess-kostenhilfeverfahren der Klägerin gerade im Hinblick auf die Erlaubnispflicht von der Entscheidung des BayVGH vom 5. März 2012 – 12 ZB 10.1559 – abweicht, ohne allerdings auf die ältere Entscheidung einzugehen.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen