Aktenzeichen B 4 K 15.245
Leitsatz
1 Bei Unklarheiten im Antragsformular kann die Behörde, auch wenn sie dieses in einem bestimmten Sinn verstanden wissen möchte, dem Antragsteller insoweit jedenfalls keine grobe Fahrlässigkeit vorwerfen. (redaktioneller Leitsatz)
2 “Angaben zum Einkommen” sind nicht grob fahrlässig unvollständig, wenn bestimmte Sachbezüge weder gesondert erfragt noch beispielhaft als mögliche Einkunftsart genannt werden. (redaktioneller Leitsatz)
3 Ist dem Antragsteller nicht bekannt, dass sein Kind im Hinblick auf den Aufenthalt beim Elternteil Sozialleistungen (hier nach dem SGB II) erhält, und muss er hiermit auch nicht rechnen, kann ihm auch insoweit keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.03.2015 verpflichtet, die drei Bescheide vom 28.04.2014 zurückzunehmen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
1. Die zulässige Klage ist begründet. Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO ist der Bescheid vom 19.03.2015 aufzuheben und die Verpflichtung des Beklagten auszusprechen, die drei Bescheide vom 28.04.2014 zurückzunehmen, weil die Ablehnung des Überprüfungsantrags rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt ist.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
a) Bei Erlass der Bescheide vom 28.04.2014 wurde das Recht unrichtig angewandt, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 und 2 SGB X für eine Teilrücknahme der Wohngeldbewilligungsbescheide vom 08.07.2011, 23.02.2012 und 28.11.2012 nicht erfüllt waren.
Gemäß § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach Eintritt seiner Unanfechtbarkeit nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X ist das Vertrauen in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht hat. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X kann er sich auf Vertrauen nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
Zwar waren die Wohngeldbewilligungsbescheide vom 08.07.2011, 23.02.2012 und 28.11.2012 teilrechtswidrig, weil gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 19 WoGG die dem Sohn der Klägerin von seinem Vater an den Besuchstagen gewährten Sachbezüge und gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 30 WoGG in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung die vom Sohn der Klägerin als Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft seines Vaters bezogenen Leistungen nach dem SGB II zum Jahreseinkommen und damit gemäß § 13 Abs. 1 WoGG zum Gesamteinkommen gehören, nach dem sich das Wohngeld gemäß § 4 Nr. 3 WoGG unter anderem richtet.
Das Vertrauen der Klägerin auf den Bestand dieser Bewilligungsbescheide ist aber schutzwürdig, weil sie die erbrachten Leistungen verbraucht und weder vorsätzlich noch grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hat.
Von der Frage Nr. 14 im Wohngeldantrag für den Bewilligungszeitraum 2011 bzw. Nr. 9 in den Wohngeldanträgen für die Bewilligungszeiträume 2012 und 2013 „Betreuen Sie als nicht nur vorübergehend getrennt lebender Eltern- oder Pflegeelternteil ein oder mehrere Kind(er), für das/die Sie das gemeinsame Sorgerecht haben und halten Sie dafür besonderen Wohnraum bereit?“ musste die Klägerin sich nicht im Sinne einer bejahenden Antwort angesprochen fühlen, weil sie für ihren Sohn, der bei ihr zu Hause ist und beim Vater nur ein Besuchsrecht wahrnimmt, keinen „besonderen Wohnraum“ bereit hält. Folglich erübrigten sich auch die weiteren Angaben unter Frage Nr. 14 bzw. Nr. 9, die offensichtlich (im Wohngeldantrag für 2011 sogar noch ausdrücklich) nur für den Fall einer bejahenden Antwort verlangt wurden. Die Frage Nr. 14 (2011) bzw. Nr. 9 (2012 und 2013) zielt, wie sich auch aus Nr. 9 der Erläuterungen zum Antrag auf Wohngeld (Stand: Januar 2012) ergibt, auf die Anzahl der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder im Sinne des § 4 Nr. 1 WoGG. Hingegen ist nicht erkennbar, dass die weiteren Angaben zum anderen Elternteil und zum Betreuungsumfang eines bereits unter Frage Nr. 4 (2011) bzw. Nr. 3 (2012 und 2013) als zu berücksichtigendes Haushaltsmitglied genannten Kindes darüber hinaus auch der Einkommensermittlung dienen sollen und deshalb unabhängig davon zu machen sind, ob die Grundfrage Nr. 14 bzw. Nr. 9 zu bejahen oder verneinen ist. Auch wenn der Beklagte das Antragsformular in diesem Sinne verstanden wissen wollte, kann der Klägerin diesbezüglich jedenfalls keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden.
Die „Angaben zum Einkommen“ (Nr. 20 im Wohngeldantrag für den Bewilligungszeitraum 2011 bzw. Nr. 12 in den Wohngeldanträgen für die Bewilligungszeiträume 2012 und 2013) hat die Klägerin ebenfalls nicht grob fahrlässig unvollständig ausgefüllt, weil Sachbezüge weder gesondert erfragt noch beispielhaft als mögliche Art der Einnahmen/Einkünfte genannt werden. Vielmehr sind „alle Einkünfte einzeln mit ihrem Bruttobetrag“ einzutragen, was gerade nicht an Sachbezüge denken lässt.
Schließlich kann der Klägerin auch nicht als grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, dass sie in den Wohngeldanträgen für 2012 und 2013 unter Nr. 5 nicht angekreuzt hat, dass ihr Sohn Leistungen nach dem SGB II bezieht, weil ihr dieser Sachverhalt nicht bekannt war und sie damit auch nicht rechnen musste.
b) Wurde somit bei Erlass der Rücknahmebescheide vom 28.04.2014 § 45 SGB X unrichtig angewandt, sind sie nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zurückzunehmen, weil deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem als rechtswidrig festgestellten Verwaltungsakt und der Nichtgewährung der Sozialleistung besteht auch, wenn durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt ein Leistungen bewilligender Verwaltungsakt zurückgenommen und die überzahlte Leistung zurückgefordert worden ist, d. h. wenn der zu beurteilende Verwaltungsakt selbst ein Aufhebungsverwaltungsakt war (von Wulffen /Schütze, SGB X, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 44 Rn. 16).
2. Nach alledem ist der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO, wonach der Beklagte als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens trägt, stattzugeben.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.