Aktenzeichen L 19 R 224/17
Leitsatz
Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung. (Rn. 35 – 37 und 42 – 43)
Psychische Erkrankungen werden erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 12 R 752/15 2017-02-16 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.02.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an Stelle der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hat der Kläger für alle in Frage kommenden Leistungszeitpunkte unproblematisch erfüllt, da sie zum Zeitpunkt der Dauerrentengewährung durch die Beklagte vorhanden waren und durch diesen Rentenbezug gem. § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI seitdem fortlaufend erhalten bleiben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Maßstab ist hier ausschließlich, ob der Kläger noch irgendeine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes in entsprechendem zeitlichen Umfang ausführen kann. Die zuvor ausgeübte Tätigkeit ist hier nicht zu berücksichtigen; sie war bereits Grundlage für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Eine volle Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI liegt bei dem Kläger zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht vor.
Beim Kläger bestehen aus gesundheitlichen Gründen allerdings eine Reihe von Einschränkungen der Arbeitsbedingungen:
Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, schwere und mittelschwere Hebe- und Tragetätigkeiten, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten mit dem rechten Arm, häufige bückende und kniende Arbeiten sowie häufiges Steigen sind dem Kläger nicht mehr möglich. Besondere Anforderungen an die manuelle Geschicklichkeit, die Dauerbelastbarkeit beider Hände, an das Hörvermögen sowie die Einwirkung von Bronchialreizen sind auszuschließen. Ein Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft sollte gewährleistet sein. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes kann der Kläger bei Berücksichtigung der genannten Arbeitsbedingungen jedoch weiterhin mehr als 6 Stunden täglich verrichten.
Der Senat entnimmt dies den Gutachten des Dr. Sch. und des Dr. S. auf orthopädischem Fachgebiet und des Dr. med. Dipl.-Psych. L. auf nervenärztlichem Fachgebiet. Der vom Orthopäden Prof. Dr. S. geäußerten sozialmedizinischen Einschätzung, wonach der Kläger auch in zeitlichem Umfang eingeschränkt sei, folgt der Senat nicht. Stärkere Auswirkungen der Einschränkungen des Hörvermögens sind schon in qualitativer Hinsicht nicht vorhanden, ein Einfluss auf das quantitative Einsatzvermögen – wie von Prof. Dr. S. im Sinne eines Zusammenwirkens angenommen – ist in keiner Weise nachvollziehbar. Die für ihn fachfremden psychischen Einschränkungen einschließlich der Schmerzwahrnehmung werden von Prof. Dr. S. ebenfalls deutlich überbewertet, wie das nachfolgende Fachgutachten des Dr. med. Dipl.-Psych. L. gezeigt hat. Hinzu kommt, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89, BSG Urteil vom 29.02.2006 – B 13 RJ 31/05 R, BayLSG Urteil vom 24.05.2017 – L 19 R 1074/14, jeweils zitiert nach juris). Beim Kläger sind jedoch die Behandlungsmöglichkeiten auf psychiatrischem, psychotherapeutischen und schmerztherapeutischen Fachgebiet bei weitem nicht ausgeschöpft, nachdem diesbezüglich nur sporadische ambulante Arztkontakte bei einer Neurologin bestehen. Schließlich äußert sich Prof. Dr. S. selbst insoweit unklar, als er teilweise von einem bis zu 4-stündigen Leistungsvermögen spricht, dann aber eine Einschränkung auf unter 3 Stunden täglich annimmt.
Eine Rente wegen voller Erwerbsminderung käme nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss vom 11.12.1969 – Az. GS 4/69; Beschluss vom 10.12.1976 – Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – jeweils zitiert nach juris) zwar auch in Betracht, wenn lediglich eine teilweise Erwerbsminderung für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI vorliegen würde und zugleich eine Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeübt würde und der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger als verschlossen anzusehen wäre (s.a. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand April 2010, § 43 SGB VI Rn 31 mwN). Unabhängig von der Diskussion darüber, ob diese Rechtsprechung auch aktuell noch zur Anwendung zu bringen ist, scheitert ein derartiger Rentenanspruch daran, dass beim Kläger zur Überzeugung des Senats keine teilweise Erwerbsminderung nach dieser Vorschrift vorliegt. Die in § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI geforderte zeitliche Einschränkung auf wenigstens 3 Stunden, aber weniger als 6 Stunden täglich ist – wie dargelegt – nicht nachgewiesen. Zudem war im Auskunftsbogen des Arbeitgebers auch eine Bereitschaft zur Weiterbeschäftigung des Klägers bei teilweiser Erwerbsminderung angegeben worden.
Zwar kann in bestimmten Ausnahmefällen zusätzlich eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung auch erfolgen, wenn – wie im Fall des Klägers – eine relevante quantitative Einschränkung seines Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen nicht besteht. Dazu müssten allerdings die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was hier nicht der Fall ist. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – nach juris) ist bei der Prüfung, ob ein derartiger Ausnahmefall vorliegt, mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O., Stand September 2016, Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da sämtliche Arbeitsfelder als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Außerdem stellen die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine – ggf. funktionale – Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Es liegen Einschränkungen der Arbeitsbedingungen vor, wie sie vielfach bei körperlich und psychisch beeinträchtigten Erwerbstätigen anzutreffen sind, und auch die Sinneswahrnehmung ist nur in geringem Maß eingeschränkt.
Der Kläger ist auch nicht gehindert, einen eventuellen Arbeitsplatz zu erreichen. Die Gehfähigkeit des Klägers ist nach übereinstimmender ärztlicher Darlegung ausreichend und öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch des Klägers lediglich wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit als belegt ansehen und einen weitergehenden Antrag zurückweisen, nicht zu beanstanden.
Nach alledem war die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 16.02.2017 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.