Sozialrecht

Rücknahme von Grundsicherungsleistungen – Erheblichkeit fehlerhafter Angaben zur Staatsangehörigkeit

Aktenzeichen  S 15 AS 242/13

Datum:
9.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X SGB X § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 3 Nr. 2, Abs. 4, § 50 Abs. 1 S. 1
SGB II SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 34a Abs. 1
SGB I SGB I § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
AufenthG AufenthG § 14, § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Die Rücknahme von Aufenthaltstiteln für die Vergangenheit führt im SGB II zum rückwirkenden Leistungsausschluss, wenn die Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG eröffnet ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Falsche Angaben über die Nationalität sind “in wesentlicher Beziehung unrichtige Angaben”, die Vertrauensschutz hinsichtlich der Rücknahme der darauf beruhenden Verwaltungsakte ausschließen. (Rn. 18 – 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 31.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.3.2013 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 31.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.3.2013 ist rechtmäßig und die Kläger hierdurch nicht beschwert, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Beklagte war berechtigt, die Bewilligungsbescheide zurückzunehmen und die Erstattung der erbrachten Leistungen zu verlangen.
1. Streitgegenstand ist der Bescheid des Beklagten vom 31.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.3.2013, mit dem die Beklagte verschiedene Bewilligungsbescheide vollständig zurücknahm und die Kläger zur Erstattung für zu Unrecht erbrachte bzw. zum Ersatz für rechtswidrig erbrachte Leistungen für die Zeit von Januar 2005 bis einschließlich November 2011 in Höhe von insgesamt 17.400,09 € verpflichtete.
2. Die so verstandene (§ 123 SGG) – gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 SGG als Anfechtungsklage statthafte – Klage ist unbegründet. Die Rücknahme der Bewilligungsbescheide, die Erstattungssowie die Ersatzverfügung sind rechtmäßig. Die erkennende Kammer folgt diesbezüglich im Wesentlichen der Begründung des Bescheides vom 31.10.2012 sowie des Widerspruchsbescheids vom 25.3.2013 und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 SGG).
3. Ergänzend hält die erkennende Kammer fest, dass die Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Bewilligungsbescheide § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 3 Nr. 2, Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist. Danach darf ein begünstigender rechtswidriger Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit ganz zurückgenommen werden, sofern sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen kann. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit bestimmt sich dabei nach den tatsächlichen und materiell-rechtlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsakts (vgl. statt vieler Schütze in: von Wulffen, SGB X [8. Aufl. 2014], § 45 Rn. 28 ff. m.w.N.). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte unter anderem dann nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unvollständig gemacht hat, § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X. Diese Voraussetzungen liegen vor.
a) Sämtliche Bewilligungsbescheide waren bereits zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II nicht vorgelegen haben. Die Kläger waren von den Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen. Danach ist vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, wer nach § 1 AsylbLG dem Leistungssystem des AsylbLG zugewiesen ist. Dieser Leistungsausschluss beruht darauf, dass es sich bei dem AsylbLG um ein besonderes Sicherungssystem handelt, das eigenständige und abschließende Regelungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sowie zur Annahme und Durchführung von Arbeitsgelegenheiten für einen eng begrenzten Personenkreis von Ausländern enthält (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [4. Aufl. 2015], § 7 Rn. 104).
Die Kläger sind im streitbefangenen Zeitraum leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG gewesen. Danach sind diejenigen Ausländer nach dem AsylbLG leistungsberechtigt, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Dies ist bei den Klägern der Fall. Als türkische Staatsangehörige waren die Kläger Ausländer im Sinne des § 2 Abs. 1 AufenthG und Unterlagen dessen Anwendungsbereich. Mit der Rücknahme der Aufenthaltstitel waren sie nach §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ausreisepflichtig. Diese Ausreisepflicht war auch vollziehbar nach § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, weil die Kläger unerlaubt eingereist sind, da sie aufgrund Zurücknahme der Aufenthaltstitel für die Vergangenheit keinen nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel mehr besaßen (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII [2. Aufl. 2014], § 1 AsylbLG Rn. 128; Adolph in: Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG [Stand: 01/2016], § 1 AsylbLG Rn. 61). Die Rücknahme der Aufenthaltstitel hatte statusbegründende Wirkung für die Zuordnung zum Existenzsicherungssystem des AsylbLG und ist nicht dahin überprüfbar, ob sie materiell-rechtlich zutreffend erteilt worden ist. Aufenthaltsrechtliche Statusentscheidungen der Ausländerbehörden entfalten ohne Rücksicht auf ihre materielle Richtigkeit bindende Wirkung. Die Leistungsträger von existenzsichernden Leistungen sind zur Überprüfung und ggf. Nichtbeachtung dieser aufenthaltsrechtlichen Statusentscheidungen nicht befugt (vgl. BSG, Urteile vom 2.12.2014 – B 14 AS 8/13 R – Rn. 13 f. und vom 28.5.2015 – B 7 AY 4/12 R – Rn. 11; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [4. Aufl. 2015], § 7 Rn. 107). Damit waren die Kläger von Leistungen nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen. Der Ausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG nach einer Gesamtaufenthaltsdauer von 15 Monaten Leistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII bezogen werden können. Hierdurch wird der Status als Asylbewerber nicht berührt, denn die Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG ist Voraussetzung des Tatbestandes in § 2 AsylbLG (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [4. Aufl. 2015], § 7 Rn. 111).
b) Die Kläger können sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen, da die Bewilligungsbescheide auf Angaben beruhten, die die Kläger zumindest grob fahrlässig – wenn nicht sogar vorsätzlich – in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht haben, § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X. Danach soll derjenige keinen Vertrauensschutz beanspruchen können, der selbst schuldhaft eine wesentliche Ursache für die Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsaktes gesetzt hat.
(1) Die Angaben der Kläger zu deren Staatsangehörigkeit waren unrichtig, da sie nicht aus dem Libanon sondern aus der Türkei stammten. Zur Mitteilung dieser Umstände waren die Kläger nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB Iverpflichtet, weil sie für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach §§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 2 SGB II rechtlich erheblich waren.
(2) Dabei ist die fehlerhafte Angabe erheblich im Sinne von „in wesentlicher Beziehung unrichtig“, soweit sie für die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes kausal geworden ist (Schütze in: von Wulffen, SGB X [8. Aufl. 2014], § 45 Rn. 50). Dies ist hier der Fall, da die aufgehobenen Bewilligungsbescheide bei richtiger Angaben der Staatsangehörigkeit nicht erlassen worden wären.
(3) Die Angaben sind den Klägern auch zuzurechnen, da sie diese Angaben selbst getätigt haben.
(4) Die Fehlerhaftigkeit der Angaben ist den Klägern schließlich auch vorwerfbar, da sie nach Überzeugung der erkennenden Kammer jedenfalls mindestens grob fahrlässig handelten. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 Hs. 2 SGB Xvor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Maßgebend dafür ist die persönliche Einsichtsfähigkeit des Begünstigten, also ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt danach, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Dies war bei den Klägern der Fall.
c) Da somit ein Fall von § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB Xvorliegt, durfte die Beklagte die Bewilligungsbescheide auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen, § 45 Abs. 4 S. 1 SGB X.
d) Die in § 45 Abs. 3 und 4 SGB Xgenannten Fristen wurden eingehalten. Nach § 45 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 SGB Xkann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe unter anderem dann zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 oder 3 SGB X – wie vorliegend – gegeben sind. Die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit muss nach § 45 Abs. 4 S. 2 SGB Xinnerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolgen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen. Dies ist regelmäßig erst nach der gemäß § 24 SGB Xdurchgeführten Anhörung des Betroffenen der Fall (BSG, Urteil vom 8.2.1996 – 13 RJ 35/94 – Rn. 33; BSG, Urteil vom 27.7.2000 – B 7 AL 88/99 R – Rn. 24). Diese erfolgte mit Schreiben vom 24.8.2012. Am 31.10.2012 wurde der streitgegenständliche Rücknahme- und Erstattungsbescheid verfügt, sodass an der Einhaltung der Jahresfrist kein Zweifel besteht. Damit liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 3 Nr. 2, Abs. 4 SGB Xvor.
e) Ermessen war vorliegend nicht auszuüben, § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III.
Damit waren vorliegend sämtliche Bewilligungs- und Änderungsbescheide der Beklagten nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 3 Nr. 2, Abs. 4 SGB Xmit Wirkung für die Vergangenheit ganz zurückzunehmen.
4. Der Anspruch der Beklagten auf Erstattung der erbrachten Leistungen ergibt sich aus § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X. Die Beklagte hat ihre Forderung aus gegenüber den beiden Klägern zu Unrecht erbrachten Leistungen mit insgesamt 12.284,87 € festgesetzt. Einwendungen gegen die Forderungshöhe wurden weder vorgebracht noch sind diese für die erkennende Kammer ersichtlich. Über die Modalitäten der Rückzahlung ist vorliegend nicht zu entscheiden (BSG, Urteil vom 31.5.1989 – 4 RA 19/88 – Rn. 26; BSG, Urteil vom 23.3.1995 – 13 RJ 39/94 – Rn. 57 f.; BSG, Urteil vom 2.6.2004 – B 7 AL 56/03 R – Rn. 21).
5. Die Pflicht zum Ersatz für gegenüber den Kindern der Kläger erbrachten Leistungen folgt aus § 34a Abs. 1 SGB II. Auch diesbezüglich folgt die erkennende Kammer im Wesentlichen der Begründung des Bescheides vom 31.10.2012 sowie des Widerspruchsbescheids vom 25.3.2013 und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 SGG). Sofern die Kläger eine Verjährung eventuelle Ansprüche einwenden, weißt die erkennende Kammer lediglich ergänzend darauf hin, dass § 52 SGB Xgemäß § 34a Abs. 2 S. 4 SGB II unberührt bleibt. Macht der Leistungsträger – wie vorliegend – den Ersatzanspruch nicht im Wege der Leistungsklage geltend, sondern durch einen den Ersatzanspruch feststellenden Verwaltungsakt, endet nach dieser für das Sozialrecht geltenden Sonderregelung die durch den Erlass des Feststellungs- und Erstattungsbescheides herbeigeführte Hemmung mit Eintritt der Unanfechtbarkeit dieses Bescheides oder sechs Monate nach seiner anderweitigen Erledigung, § 52 Abs. 1 SGB X. Ist der Bescheid unanfechtbar geworden, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre, § 52 Abs. 2 SGB X (vgl. Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [4. Aufl. 2015], § 34a Rn. 52).
Weitere Anhaltspunkte, die für eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide sprechen könnten, wurden weder vorgetragen noch sind solche für die erkennende Kammer ersichtlich. Nach alledem ist der Bescheid des Beklagten vom 31.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.3.2013 rechtmäßig und die Kläger hierdurch nicht beschwert. Die Klage war daher abzuweisen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

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