Sozialrecht

Rückwirkung der Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht auf den Beginn der Beschäftigung

Aktenzeichen  S 31 R 1310/17

Datum:
1.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BRAK-Mitt – 2018, 216
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 231 Abs. 4b S. 1

 

Leitsatz

Die Rückwirkung der Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht auf den Beginn der Beschäftigung gem. § 231 Abs. 4 b S. 1 SGB VI setzt nicht voraus, dass bereits zum Beginn der Beschäftigung eine Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk bestand. Diese Voraussetzung gilt nur für vorausgegangene Beschäftigungen, § 231 Abs. 4 b S. 2 SGB VI. (Rn. 17 und 18)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2017 verurteilt, die Klägerin für ihre Tätigkeit als Syndikusrechtsanwältin bei der B-GmbH bereits ab 15.06.2014 von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht zu befreien.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist zulässig und in vollem Umfang begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf rückwirkende Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht aus § 231 Abs. 4 b Satz 1 SGB VI. Die angefochtenen Bescheide, die diese Befreiung ablehnen, sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
§ 231 Abs. 4 b SGB VI hat folgenden Wortlaut:
„Eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikus-Rechtsanwalt (…) nach § 6 Abs. 1 Satz1 Nr. 1 SGB VI, die unter Berücksichtigung der Bundesrechtsanwaltsordnung in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung (…) erteilt wurde, gilt auf Antrag vom Beginn der jeweiligen Beschäftigung an, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt wird. Sie gilt auch vom Beginn davor liegender Beschäftigungen an, wenn während dieser Beschäftigungen eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand. Die Befreiung nach den Sätzen 1 und 2 wirkt frühestens ab dem 01.04.2014. Die Befreiung wirkt jeweils auch für Zeiten vor dem 01.04.2014, wenn für diese Zeiten einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk bezahlt wurden. (…).“
Dem Wortlaut dieser Übergangsregelung entsprechend ist es nicht Voraussetzung für eine Rückwirkung der Befreiung auf den Beginn des aktuell zu befreienden Beschäftigungsverhältnisses, dass eine Pflichtmitgliedschaft im berufsständischen Versorgungswerk bereits ab Beginn der Beschäftigung bestand. Dies ergibt sich aus dem Kontext von Satz 1, Satz 2 und Satz 3 des § 231 Abs. 4 b SGB VI. In Satz 1 hat die Rückwirkung der Befreiung auf den Beginn des aktuellen Beschäftigungsverhältnisses lediglich einen Antrag des Versicherten zur Voraussetzung. Die einschränkende Regelung, wonach eine Rückwirkung nur dann in Betracht kommt, wenn während der Beschäftigung eine Pflichtmitgliedschaft im berufsständischen Versorgungswerk bestand, enthält Satz 1 im Gegensatz zu Satz 2 nicht. Satz 2 regelt die rückwirkende Befreiung aber nicht im Hinblick auf die aktuelle Beschäftigung, sondern auf eine davor liegende Beschäftigung.
Wenn der Gesetzgeber in Satz 2 für vorhergehende Beschäftigungen eine weitere Voraussetzung ausdrücklich normiert, dies im unmittelbar vorangehenden Satz des Gesetzes jedoch unterlässt, lässt das den Umkehrschluss zu, dass er diese Voraussetzung für die in Satz 1 geregelte aktuelle Beschäftigung nicht gelten lassen wollte (argumentum e contrario). In der Begründung zum Gesetzesentwurf (BT-Drs. 18/5201) wird zu Artikel 5 (Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – SGB VI) Nr. 2 (§ 231 Abs. 4 a und 4 b SGB VI – E) folgendes ausgeführt:
„Die Sätze 1 bis 3 (des § 231 Abs. 4 b, Anm. d. Verf.) regeln, dass die Befreiung bis zum Beginn der Beschäftigung zurückwirkt, in der eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auf der Grundlage der geänderten Bundesrechtsanwaltsordnung (…) erfolgt. Sie wirkt darüber hinaus für zeitlich unmittelbar davor liegende Beschäftigungen in den Fällen eines Beschäftigungswechsels. § 6 Abs. 5 SGB VI bleibt im Übrigen unberührt.
Voraussetzung ist in allen Fällen, dass während der Beschäftigungen zumindest eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk (nicht unbedingt auch eine einkommensbezogene Beitragszahlung an das Versorgungswerk) bestand, mithin ein Bezug zur berufsständischen Versorgung (…) gegeben war.“
Die Beklagte ist der Auffassung, die Wendung „Voraussetzung ist in allen Fällen, dass (…) zumindest eine Pflichtmitgliedschaft (…) gegeben war“ bedeute, dass eine rückwirkende Befreiung für Zeiträume ohne entsprechende Pflichtmitgliedschaft niemals in Betracht komme. Diese Interpretation ist angesichts des Wortlauts der Gesetzesbegründung jedoch nicht zwingend. Denn es ist nicht klar, was mit der Formulierung „in allen Fällen“ gemeint ist. Möglich ist, dass damit alle Fälle einer rückwirkenden Befreiung gemeint sind, wie die Beklagte geltend macht. Möglich ist aber auch, dass damit alle Fälle einer Befreiung für eine vorangegangene Beschäftigung gemeint sind.
Die Gesetzesbegründung enthält somit keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, dass der – im Gegensatz dazu eindeutige – Wortlaut des Gesetzes nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Die Wortlautauslegung kann vorliegend daher nicht durch eine historische Auslegung verdrängt werden (vgl. auch Schafhausen, AnwBl 2016, 116ff; Kreikebohm SGB VI/Segebrecht, 5. Aufl., SGB VI § 231 Rn 14f).
Zudem ist bei der Auslegung mit zu berücksichtigen, dass laut Bundesverfassungsgericht (Beschlüsse vom 19.07.2016, 1 BvR 2584/14 und 2534/14) die Übergangsregelung des § 231 Abs. 4 b SGB VI großzügig anzuwenden ist. Diesem Gebot wird durch eine einschränkende historische Auslegung, die im Wortlaut des Gesetzes widerspricht, nicht entsprochen.
Nach allem war der Klage auf rückwirkende Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht gemäß § 231 Abs. 4 b Satz 1 somit vollumfänglich stattzugeben.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen