Sozialrecht

Sozialgerichtsverfahren: Eingang einer nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Berufung im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des Gerichts

Aktenzeichen  L 11 AS 401/20

Datum:
11.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 43716
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 16c
SGG § 151, § 54 Abs. 2 S. 2, § 65a Abs. 3, Abs. 4, § 67

 

Leitsatz

1. Geht eine nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehene Berufung im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eines Gerichts ein, ist der Kläger hierauf hinzuweisen. (Rn. 18)
2. Ist unter Berücksichtigung des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs bei Gericht davon auszugehen, dass ein erteilter Hinweis dem Kläger die Möglichkeit eröffnet hätte, die Berufung formgerecht einzulegen, kommt die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch von Amts wegen in Betracht. (Rn. 18)
3. Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der selbständigen Tätigkeit kann im Rahmen der Gewährung von Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen die Vorlage einer Tragfähigkeitsbescheinigung einer fachkundigen Stelle verlangt werden. (Rn. 18)

Verfahrensgang

S 13 AS 651/17 2020-05-26 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 26.05.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Eine über die im Urteil des SG hinausgehende Verpflichtung bzw. Verurteilung des Beklagten kommt nicht in Betracht.
Eine Unzulässigkeit der Berufung folgt nicht aus dem Umstand, dass der Kläger diese zunächst über das EGVP an das SG bzw. das LSG geschickt hat, ohne dass sie mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen war, und damit die Schriftform nach § 151 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 65a Abs. 3 und 4 SGG – auch nicht durch den Ausdruck des Dokuments mit der gescannten Unterschrift durch das Gericht – nicht gewahrt worden war (vgl. BSG, Urteil vom 12.10.2016 – B 4 AS 1/16 R; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 24.10.2017 – L 6 AS 159/17 B ER – beide zitiert nach juris; Stäbler in jurisPK-SGG, 1. Aufl., Stand: 14.10.2020, § 65a SGG Rn. 34.1). Jedenfalls mit beim SG abgegebenem Schriftsatz vom 13.10.2020, welcher vom Kläger handschriftlich unterschrieben war und dem unzweifelhaft zu entnehmen ist, dass er ein Berufungsverfahren gegen das Urteil des SG führen will, ist die Schriftform des § 151 Abs. 1 und 2 SGG gewahrt und damit – jedenfalls konkludent – die Berufungseinlegung formwirksam nachgeholt worden. Soweit das Schreiben erst am 13.10.2020 beim SG und damit nach Ablauf der Berufungsfrist (§ 151 SGG) eingegangen ist, war dem Kläger auch ohne weiteren Antrag von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs. 1 und Abs. 2 SGG). Es wäre dem Kläger ein Hinweis auf die fehlende qualifizierte Signatur bei der Übersendung des Berufungsschriftsatzes im Rahmen der gerichtlichen Fürsorgepflicht (Art. 2 und 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG) zu erteilen gewesen (zu einer etwaigen Mitteilungspflicht nach § 65a Abs. 6 SGG: Stäbler a.a.O. Rn. 35; dahin tendierend bzgl. § 65a Abs. 2 Satz 3 SGG a.F.: BSG, a.a.O; bejahend bei § 55a Abs. 2 Satz 3 a.F. Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO: BVerwG, Urteil vom 25.04.2012 – 8 C 18/11 – juris). Auch unter Berücksichtigung des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs in Bezug auf die Behandlung der Berufung beim LSG hätte der Hinweis so rechtzeitig erteilt werden können, dass der Kläger die Berufung formgerecht hätte übermitteln und einlegen können (vgl. dazu auch BAG, Beschluss vom 05.06.2020 – 10 AZN 53/20 – juris).
Streitgegenstand sind zunächst Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen (§ 16c SGB II), die der Beklagte mit Bescheid vom 07.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.05.2017 abgelehnt hat. Gegen die ablehnende Entscheidung hat der Kläger zulässigerweise eine kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 SGG) bzw. – sofern keine Ermessungsreduzierung auf Null gegeben sein sollte – eine kombinierte Anfechtungs- und Bescheidungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 SGG; vgl. dazu auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Auflage, § 54 Rn. 20b). Der Anspruch auf Eingliederungsleistungen stellt einen abtrennbaren Streitgegenstand dar (vgl. bereits BSG, Urteil vom 01.06.2010 – B 4 AS 63/09 R – m.w.N. – juris). Der Höhe nach hat der Kläger seine Klage beim SG ausweislich des in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich gestellten Klageantrages – der ihm ausweislich der Niederschrift (§ 122 SGG i.V.m. § 165 Satz 1 Zivilprozessordnung -ZPO-), die entsprechend den gesetzlichen Vorschriften ausgefertigt und vom Vorsitzenden sowie von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben worden ist (§ 122 SGG i.V.m. §§ 159, 160 ZPO), vorgelesen und von ihm genehmigt worden ist – auf 5.000,00 € begrenzt. Der Antrag ist zur Überzeugung des Senats in der Niederschrift zutreffend aufgenommen worden. Der zuletzt gestellte Antrag war für die Entscheidung des SG maßgeblich.
Soweit der Kläger im Berufungsverfahren über 5.000,00 € hinausgehende Eingliederungsleistungen begehrt, handelt es sich um eine zulässige Klageänderung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG). Auch der Beklagte hat im angefochtenen Bescheid über einen Antrag auf Leistungen von 10.045,00 € entschieden.
Soweit der Kläger darüber hinaus im Berufungsverfahren Schadenersatz i.H.v. 200.000,00 € vom Freistaat Bayern bzw. monatliche Entschädigungszahlungen i.H.v. 3.500,00 € rückwirkend ab Antragstellung vom Beklagten fordert, ist eine solche Klageänderung bzw. -erweiterung i.S.v. § 99 SGG unzulässig. Weder hat der Beklagte ihr zugestimmt, noch ist sie sachdienlich. Eine Zustimmung des Beklagten liegt nicht vor. Zwar wird auch ein rügeloses Einlassen durch das Stellen eines Gegenantrages oder Äußerung zur Sache, ohne durch eine Gegenerklärung die Zulässigkeit der Klageänderung wenigstens vorsorglich zu rügen, als ausreichend angesehen. Der Beklagte hat vorliegend aber lediglich beantragt, die Berufung zurückzuweisen, und sich zum Vortrag des Klägers in Bezug auf den Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens geäußert, sich aber in keinster Art und Weise auf die erstmals im Berufungsverfahren neu vorgebrachten Erweiterungen hinsichtlich einer Klage auf Schadenersatz bzw. Entschädigung bezogen oder gar einen Antrag auf Abweisung der im Rahmen des Berufungsverfahrens erhobenen Klage auf Schadenersatz gestellt. Ein rügeloses Einlassen sieht der Senat daher nicht (so auch HessLSG, Urteil vom 11.03.2020 – L 6 AS 141/18 – juris). Auch eine Sachdienlichkeit vermag der Senat nicht zu erkennen. Es handelt sich um einen völlig neuen Anspruch und Prozessstoff. Die vom Beklagten geforderten Entschädigungszahlungen i.H.v. 3.500,00 € stellen keine Leistung i.S.v. §§ 16 ff. SGB II dar. Für entsprechende Amtshaftungsansprüche sind im Übrigen die Sozialgerichte nicht zu einer Entscheidung berufen (vgl. Art. 34 Satz 3 GG, §§ 12, 13, 71 Abs. 2 Nr. 2 Gerichtsverfassungsgesetz -GVG-, § 51 SGG). Auch eine Teilverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht wäre nicht zulässig (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 30.07.2014 – B 14 AS 8/14 B – juris). Soweit man in der Schadenersatzforderung i.H.v. 200.000,00 € einen Ersatz (auch) für eine überlange Verfahrensdauer nach § 202 Satz 2 SGG i.V.m. § 198 GVG sehen wollte, handelt es sich ebenfalls um einen völlig anderen Anspruch, der mit der vorliegend zu entscheidenden Frage, ob dem Kläger Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen nach dem SGB II zustehen, nicht im Zusammenhang steht, und für den weitere Sachverhaltsermittlungen anzustellen und eine völlig andere Anspruchsgrundlage zu prüfen wäre. Es kann daher dahinstehen, ob dieser Anspruch auch Gegenstand des Verfahrens ist, dessen Aktenzeichen der Kläger im Betreff entsprechender Schriftsätze ebenfalls aufgezählt hat. Auch für eine Entschädigungszahlung, die sich direkt auf die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) oder deren Umsetzungsprotokoll stützen soll, liegen die Voraussetzungen für eine zulässige Klageänderung bzw. -erweiterung nicht vor, denn eine Rechtswegzuständigkeit der Sozialgerichte i.S.v. § 51 SGG ist diesbezüglich nicht erkennbar, unabhängig davon, dass sich hieraus selbst keine Anspruchsgrundlage ergibt, sondern die Konvention nur als Auslegungshilfe in Bezug auf das einfache Recht heranzuziehen ist (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2012 – L 29 AL 337/09; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B – beide zitiert nach juris).
Im Ergebnis ist daher über die Klage auf Schadenersatz und Entschädigungszahlungen nicht zu entscheiden. Sie ist mangels Zulässigkeit der Klageerweiterung nicht Gegenstand des Verfahrens geworden.
Eine über die vom SG hinausgehende Verpflichtung des Beklagten – allein der Kläger hat Berufung eingelegt – zur Neuverbescheidung des Antrages des Klägers unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des SG kommt nicht in Betracht.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sowie hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger. Der Beklagte hat ihm daher auch (vorläufig) Alg II bewilligt.
Eine Verpflichtung des Beklagte zur Zahlung von Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen an den Kläger kann vom Senat nicht festgestellt werden. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die eine selbständige, hauptberufliche Tätigkeit aufnehmen oder ausüben, können Darlehen und Zuschüsse für die Beschaffung von Sachgütern erhalten, die für die Ausübung der selbständigen Tätigkeit notwendig und angemessen sind (§ 16c Abs. 1 Satz 1 SGB II). Zuschüsse dürfen nach § 16c Abs. 1 Satz 2 SGB II einen Betrag von 5.000,00 € nicht übersteigen. Leistungen zur Eingliederung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die eine selbständige, hauptberufliche Tätigkeit aufnehmen oder ausüben, können nur gewährt werden, wenn zu erwarten ist, dass die selbständige Tätigkeit wirtschaftlich tragfähig ist und die Hilfebedürftigkeit durch die selbständige Tätigkeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums dauerhaft überwunden oder verringert wird (§ 16c Abs. 3 Satz 1 SGB II). Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der selbständigen Tätigkeit soll die Agentur für Arbeit die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle verlangen (§ 16c Abs. 3 Satz 2 SGB II).
Die Eingliederungsleistungen müssen dabei u.a. auch erforderlich i.S.d. Zielvorgaben der §§ 1 und 3 SGB II sein – diese Regelungen sind zwar nicht anspruchsbegründend, stecken aber als programmatische Kernaussagen und Grundsätze den Leistungsrahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab (vgl. dazu BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 3/05 R – juris – mit Verweis auf BT-Drs. 15/1516 S. 50, 51). Sie müssen zur Vermeidung oder Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich sein, was nur der Fall ist, wenn ein Eingliederungserfolg mit hinreichender Sicherheit vorhergesagt werden kann. Nach § 16c Abs. 3 Satz 1 SGB II muss zu erwarten sein, dass die selbständige Tätigkeit wirtschaftlich tragfähig ist. Die dabei anzustellende Prognose im Rahmen einer ex-ante-Betrachtung setzt eine Plausibilitätsprüfung eines schlüssigen Konzeptes in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit der Überwindung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit voraus (vgl. dazu auch Harks in jurisPK-SGB II, 4. Aufl., Stand: 11.10.2019, § 16c Rn. 25 und 26 m.w.N.). Den Kläger treffen dabei Mitwirkungspflichten zur Vorlage von Unterlagen, um den Sachverhalt ermitteln zu können (vgl. zum Einstiegsgeld: BSG, Urteil vom 05.08.2015 – B 4 AS 46/14 R – juris).
Ein Nachweis für die Tragfähigkeit der vom Kläger geplanten (Erweiterung seiner) selbständigen Tätigkeit ist nicht ersichtlich. Wie sich aus § 16c Abs. 3 Satz 2 SGB II ergibt, soll der Beklagte zur Beurteilung der Tragfähigkeit der selbständigen Tätigkeit die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle verlangen. Hierzu hat der Kläger zuletzt gegenüber dem Beklagten per E-Mail vom 06.06.2020 mitgeteilt, dass eine Tragfähigkeitsbescheinigung niemand erbringen könne und er eine Prognose des Beklagten nicht akzeptiere. Es kann daher dahinstehen, ob sich der Beklagte auf den Aktenvermerk seiner Mitarbeiterin vom 06.03.2018 stützen kann, die von einer fehlenden Tragfähigkeit ausgeht – nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs.16/10810, S. 47) sollen SGB II-Leistungsträger, die eine eigene Kompetenz zur Bewertung von Unternehmen aufgebaut haben, auf die Einschaltung einer externen fachkundigen Stelle verzichten können (vgl. dazu auch Harks a.a.O. Rn. 27) -, denn ohne die vom Kläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (§ 16c Abs. 3 Satz 2 SGB II) vorzulegende Tragfähigkeitsbescheinigung wäre eine anders ausfallende Prognosentscheidung nicht zu treffen. Anhand einer Tragfähigkeitsbescheinigung kann die Rentabilität der angedachten selbständigen Tätigkeit beurteilt werden. Die Nichtbeibringung stellt damit einen Umstand dar, der in der Sphäre des Klägers liegt, so dass die Nichterweislichkeit zu seinen Lasten geht (so auch Urteil des Senats vom 16.05.2019 – L 11 AS 869/18 – nicht veröffentlicht). Soweit der Kläger selbst Hochrechnungen anstellt, welche Gewinne ihm möglich wären, kann dies die Tragfähigkeitsbescheinigung nicht ersetzen, denn der Kläger selbst ist – auch wenn er über Fachkenntnisse im Musikbereich verfügt – keine sachkundige Stelle für die Beurteilung der maßgeblichen wirtschaftlichen Tragfähigkeit des Geschäftskonzepts.
Soweit der Kläger vorbringt, dass ihm das Geld für eine Tragfähigkeitsbescheinigung fehle, hat er hierzu keine Nachweise erbracht, zumal eine Recherche im Internet ergeben hat, dass nach der Initiative des Expertennetzwerks Deutschland „Deutschland startet“ (https://www.deutschland-startet.de/tragfaehigkeitsbescheinigung/) je nach Stelle die Bescheinigung zwischen 30,00 € und 150,00 € kostet und bei der IHK meist kostenlos ist. Es ist damit nicht erkennbar, dass es dem Kläger nicht zumutbar wäre, eine solche Stellungnahme einzuholen, da er grds. auch im Hinblick auf die Modifizierung des Amtsermittlungsgrundsatzes durch § 16c Abs. 3 Satz 2 SGB II zur Kostentragung verpflichtet ist (vgl. Harks in jurisPK-SGB II, 4. Aufl., Stand: 11.10.2019, § 16c Rn. 27 und 27.2). Ggf. bestünde zudem die Möglichkeit, eine Übernahme der Kosten im Rahmen der freien Förderung nach § 16f SGB II beim Beklagten zu beantragen (vgl. dazu Sächsisches LSG, Beschluss vom 09.12.2013 – L 3 AS 1800/13 B PKH – juris; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: März 2019, § 16b Rn. 92).
Weitere Anhaltspunkte dafür, dass eine Tragfähigkeitsbescheinigung nicht erforderlich ist, sind nicht ersichtlich, so dass ein Abweichen vom im Regelfall vorgegebenen Verlangen („soll“) im Rahmen des § 16c Abs. 3 Satz 2 SGB II nicht angezeigt ist. Wollte man den Aktenvermerk der Mitarbeiterin des Beklagten vom 06.03.2018 als Stellungnahme einer fachkundigen Stelle ansehen, dann würde sich aufgrund der dort vorgenommenen Beurteilung der geplanten Tätigkeit ebenfalls kein Hinweis auf eine Tragfähigkeit geben.
Damit können die Tatbestandsvoraussetzungen schon mangels Tragfähigkeitsnachweises nicht festgestellt werden. Der Kläger lehnt die Einholung und Vorlage einer Stellungnahme einer fachkundigen Stelle ab, so dass ihn die Feststellungslast trifft. Es handelt sich um Umstände, die in seiner Sphäre liegen. Eine Verpflichtung des Beklagten zur Bewilligung von Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen scheidet damit aus. Im Übrigen ist im Hinblick auf die nunmehr über 5.000,00 € hinausgehenden Forderungen des Klägers darauf zu verweisen, dass Zuschüsse für die Anschaffung von Sachgütern (§ 16c Abs. 1 Satz 1 SGB II) einen Betrag von 5.000,00 € nicht übersteigen dürfen (§ 16c Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Eine Abänderung des Urteils des SG dahingehend, den Beklagten zur Leistungserbringung an den Kläger zu verurteilen, scheitert schließlich auch daran, dass selbst bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen die Leistungserbringung im Ermessen des Beklagten steht. Die Gerichte sind bezüglich der Überprüfung von Ermessensentscheidungen eines Leistungsträgers gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG darauf beschränkt zu kontrollieren, ob dieser (1.) seiner Pflicht zur Ermessensbetätigung nachgekommen ist (Ermessensnichtgebrauch), er (2.) mit seiner Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat, d.h. eine nach dem Gesetz nicht zugelassene Rechtsfolge gesetzt hat (Ermessensüberschreitung), oder (3.) von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Abwägungsdefizit und Ermessensmissbrauch). Bei der Überprüfung darf das Gericht nicht eigene Ermessenserwägungen an die Stelle derjenigen des Leistungsträgers setzen. Eine Verurteilung zur Leistung kommt nur dann in Betracht, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Eine solche Ermessensreduzierung ist nicht erkennbar. Sofern die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen sollten, wären die verschiedenen Ermessensgesichtspunkte zu ermitteln und abzuwägen. Dabei können z.B. die Erfolgsaussichten der Maßnahme im Vergleich zu konkret entstehenden Kosten oder die Aussichten auf eine Eingliederung in ein Beschäftigungsverhältnis zu berücksichtigen sein. Auch die vom Kläger vorgebrachten Behinderungen sowie die Vorgaben der BRK könnten hierbei eine Rolle spielen. Zu Recht weist das SG darüber hinaus auf die Prüfung alternativer Finanzierungsmöglichkeiten, die Klärung des aktuellen Finanzbedarfs und die Abwägung, in welchem angemessenen, aber auch verhältnismäßigen Maße Mittel als Zuschuss oder als Darlehen eingesetzt werden könnten, hin. Dass das Ermessen des Beklagten auf Null reduziert sein soll, mithin nur eine Erbringung der geforderten Leistungen in Betracht kommen würde, vermag der Senat demnach nicht zu erkennen.
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen. Nachdem der Beklagte selbst keine (Anschluss-)Berufung eingelegt hat, war eine Aufhebung des Urteils des SG in Bezug auf die darin enthaltene Aufhebung der Bescheide und die Verpflichtung des Beklagten zur erneuten Entscheidung nicht zu prüfen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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