Sozialrecht

Unfallereignis muss die wesentliche Bedingung für die Verschlimmerung des Gesundheitschadens sein

Aktenzeichen  S 9 U 195/15

Datum:
15.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 134062
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 12, § 8 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Ein aktiv geführter Vorgang mit bewusster Kraftanstrengung, die keine – gewollte oder durch die Umstände aufgezwungene – besondere Kraftentfaltung erfordert, erfüllt nicht das Merkmal eines von außen einwirkenden Ereignisses und ist daher kein Arbeitsunfall.  (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 04.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, aber in der Sache nicht erfolgreich.
Die Entscheidung der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Wie die Beklagte zutreffend ausführte, stand der Kläger gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII im Rahmen seines Feuerwehrdienstes zwar grundsätzlich unter dem Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Versicherungsschutz umfasst hierbei jedoch nicht sämtliche Tätigkeiten, sondern bezieht sich nur auf Arbeitsunfälle bzw. Berufskrankheiten (§ 7 SGB VII).
Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität, vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2006, B 2 U 1/06 R; BSG, Urteil vom 04.09.2007, B 2 U 24/06 R). Die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls und gegebenenfalls die Entschädigung durch Zahlung von Verletztengeld bzw. Verletztenrente setzen voraus, dass die Gesundheitsstörung Folge eines Versicherungsfalles ist (§§ 7, 8 SGB VII)). Das Unfallereignis muss wesentliche Bedingung für die Entstehung bzw. Verschlimmerung des Gesundheitsschadens gewesen sein und gegenüber sonstigen schädigungsfremden Faktoren, wie z.B. einer Vorerkrankung von überragender Bedeutung oder zumindest annähernd gleichwertiger Bedeutung (wesentliche Mitursache) sein. Dabei beruht die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Theorie der wesentlichen Bedingung zwar, ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie, auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie (conditio-sine-qua-non) als Ausgangsbasis. Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg für die praktische Rechtsanwendung ist aber in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R). Eine naturwissenschaftliche Ursache, die nicht als wesentlich anzusehen und damit keine Ursache im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung ist, kann als Gelegenheitsursache bezeichnet werden. Bei der wertenden Betrachtungsweise ist in diesem Zusammenhang bei einer Vorerkrankung darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkung bedurfte, sondern das jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (vgl. BSG vom 30.01.2007 – B 2 U 8/06 R).
Die anspruchsbegründenden Tatsachen, d.h. neben dem Arbeitsunfall auch die Gesundheitsstörung, müssen mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein. Bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985 – 2 RU 43/84). Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden (haftungsbegründende Kausalität) sowie Folgeschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ist demgegenüber hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend. Dies liegt dann vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Die bloße Möglichkeit eines Zusammenhanges genügt jedoch nicht.
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass die Beklagte zu Recht die Anerkennung eines entschädigungspflichtigen Arbeitsunfalls abgelehnt hat. Auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid vom 04.02.2015 und im Widerspruchsbescheid vom 07.07.2015 wird Bezug genommen. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird diesbezüglich abgesehen, da die Kammer die Klage aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 136 Abs. 3 SGG).
„Ergänzend hierzu ist lediglich anzumerken, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme im gerichtlichen Verfahren keine andere Bewertung rechtfertigt. Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der Ausführungen des im gerichtlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. R.
Zum einen ist hier festzuhalten, dass ein Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vorliegend nicht gesichert ist. Zum anderen lässt sich, selbst wenn ein Unfallereignis zu unterstellen wäre, eine haftungsbegründende Kausalität (ursächlicher Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und Gesundheitsschaden) nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit begründen.
Der Kläger hat den Unfallhergang im Schreiben an die BKK der B. AG vom 22.10.2014 detailliert geschildert. Danach hat der Kläger im Rahmen eines Einsatzes der Freiwilligen Feuerwehr B. am … versucht, mit der rechten Hand (hinter dem Rücken ergreifend) die Schiebetür des Einsatzwagens von hinten links nach vorne zuzuziehen. Dieser Vorgang erfolgte wegen der räumlichen Enge im Stehen, da sich neben den Feuerwehrkameraden ein Behälter mit Ölbinder im Mannschaftsraum befunden hatte. Bei dem Zuziehen der Tür verspürte der Kläger einen Stich im rechten Ellenbogengelenk.
Diesen Sachverhalt zu Grunde gelegt, kann nach der oben angeführten Legaldefinition des Unfalls ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis nicht angenommen werden. Denn ein aktiv geführter Vorgang, wie vorliegend, mit bewusster Kraftanstrengung, die keine – gewollte oder durch die Umstände aufgezwungene – besondere Kraftentfaltung (vgl. „Grabsteinurteil“: BSG, Urteil vom 29.11.2011, B 2 U 10/11) erfordert, erfüllt nicht das Merkmal eines von außen einwirkenden Ereignisses. Dass das Zuziehen der Schiebetür bereits eine besondere Kraftentfaltung darstellt und dadurch ein äußeres Ereignis begründet wird, wie vom Bundessozialgericht in teleologisch ausweitender Subsumtion der Legaldefinition umschrieben (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2011, B 2 U 10/11), vermag die Kammer nicht zu erkennen. Eine generelle oder zusätzliche Einwirkung von außen im Sinne des Unfallbegriffs der gesetzlichen Unfallversicherung, wie eine plötzlich auftretende zusätzliche Belastung einer vorgespannten Sehne mit unnatürlicher Längendehnung, ist nicht gesichert nachgewiesen. Es ist daher von einer alltäglichen Belastung auszugehen. Der geschilderte Bewegungsablauf, d. h. die hinter dem Rücken ausgeführte Bewegung, beinhaltet zwar eine ungewöhnliche Art eine Tür zu schließen, lässt aber keine maßgebliche Belastung der distalen Bizepssehne erkennen. Bei dem geschilderten Bewegungsablauf war weder eine kraftvolle Beugung im Ellenbogengelenk notwendig, noch eine kraftvolle Auswärtsdrehung des Unterarms wie beispielsweise bei einer Beugung im Ellenbogen gegen Widerstand bzw. bei einer kraftvollen Auswärtsdrehung in dieser Weise. Denn die Schiebetür sollte weder hochgehoben werden, noch war ein Griff heraus zu drehen, umzudrehen oder Ähnliches.
Zur Überzeugung der Kammer ist zudem die haftungsbegründende Kausalität nicht gegeben, denn das angeschuldigte Ereignis war nicht wesentlich kausal für die eingetretene Bizepssehnenruptur. Nach einer Gesamtbetrachtung, worunter neben dem zeitlichen Zusammenhang u. a. auch der Unfallhergang, dokumentierte Vorschädigungen sowie die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zählen, ist von einer erhöhten Vulnerabilität aufgrund von Verschleißveränderungen auszugehen und der geschilderte Hergang lediglich als Gelegenheitsursache zu bezeichnen.
Grundsätzlich ist anzumerken, dass eine Sehne eine sehr hohe Reißfestigkeit hat und bei entsprechender Beanspruchung eher der knöcherne Ansatz der Sehne ausreißt, als dass die Sehne selbst reißt. Die Muskelkraft, die notwendig wäre, um eine Sehne zu zerreißen, ist ein Vielfaches von der Kraft, die tatsächlich ein Muskel aufbringen kann. Eine entsprechende Situation ist vorliegend unter Berücksichtigung der Untersuchungsbefunde ohne Begleitverletzungen plausibel nicht zu begründen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der oben beschriebene Unfallhergang mit willentlicher Kraftanstrengung ohne zusätzliche Einwirkung keinen geeigneten Unfallmechanismus für eine traumatische Schädigung der distalen Bizepssehne darstellt, da der Körper insoweit über ausreichende Sicherungsmechanismen verfügt. Bei einer nicht degenerativ geschädigten Sehne kommt es nur bei einer unerwarteten zusätzlichen Muskelbelastung oder einem direkten Schlag auf die angespannte Sehne zu einer Ruptur (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 407 f.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor bzw. ist nicht nachgewiesen.
Beim Kläger ist von einer vorgeschädigten distalen Bizepssehne am rechten Arm auszugehen. Die aus dem kernspintomographischen Befund vom 20.09.2014 ersichtliche Schadensanlage am Ellenbogengelenk und die degenerativen Strukturveränderungen im gesamten Strecksehnenansatz lassen auf degenerative Veränderungen im gesamten Sehnenansatzbereich schließen. Art und Intensität der unfallbedingten Einwirkungen (hier: willentliche Kraftanstrengung ohne zusätzliche Einwirkung) lassen darüber hinaus die Schlussfolgerung zu, dass die degenerative Vorschädigung an der distalen Bizepssehne in ihrer Ausprägung bereits so leicht ansprechbar war, dass eine rechtlich erhebliche unfallvorbestehende Sehnendegeneration im Sinne einer Gelegenheitsursache vorlag.
Im Ergebnis geht die Kammer in wertender Betrachtung davon aus, dass ein Unfallereignis im Sinne der Legaldefinition nicht nachweisbar gesichert ist und die Vorschädigung der rechten distalen Bizepssehne des Klägers allein wesentliche Ursache für die Bizepssehnenteilruptur war.
Das nach den Grundsätzen der privaten Unfallversicherung erstellte Gutachten von Dr. L. vom 11.10.2015 kann nicht für eine Beurteilung herangezogen werden, da dieses Gutachten nicht einmal ansatzweise eine kausale Diskussion erkennen lässt.
Die gutachterliche Stellungnahme von Herrn U. führt zudem zu keiner anderen Einschätzung. Das Gutachten vom 01.03.2016 kommt zwar zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Ereignis vom 28.07.2014 um einen Arbeitsunfall handele. Das Gutachten begründet aber nicht, worin konkret das „Unfallereignis“ zu sehen ist. Der Hinweis auf die gebotene Eile der Tätigkeit und auf den zeitlichen Zusammenhang reicht hierfür jedenfalls nicht aus. Außerdem lässt es eine Auseinandersetzung mit den Kausalitätsgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung vermissen. Soweit davon ausgegangen wird, dass distale Bizepssehnenrupturen nahezu ausschließlich im Sinne von traumatischen Rupturen auftreten, entspricht dies nicht der neueren Lehrmeinung (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 407).
Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig und deshalb nicht zu beanstanden. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

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