Sozialrecht

Versicherungsschutz bei erweitertem häuslichen Bereich für Weg zur Arbeit von jeder Wohnung aus

Aktenzeichen  L 2 U 26/16

Datum:
8.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII SGB VII § 2, § 3, § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Grundsätzlich stellt bei zwei gleichwertigen Wohnungen die näher zum Ort der Tätigkeit gelegene den Lebensmittelpunkt dar. Jedoch ergibt sich auch für den Weg von der entfernter liegenden Wohnung Versicherungsschutz, wenn es sich um einen erweiterten häuslichen Bereich handelt (Anschluss an BSG BeckRS 1994, 30751563). (Rn. 30 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein erweiterter häuslicher Bereich liegt vor, wenn der Versicherte aus besonderen, in seinen familiären Verhältnissen liegenden Gründen den Weg zur Arbeit gewöhnlich von wechselnden Ausgangspunkten zurücklegen muss, ohne dass einer für sich genommen den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bildet. Dann besteht von jedem Ausgangspunkt Versicherungsschutz. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3 Aufgrund der Beweisaufnahme können Indizien für einen erweiterten häuslichen Bereich die Intensität einer Liebesbeziehung, die gemeinsam verbrachte Zeit in beiden Wohnungen, die Akzeptanz der in der zweiten Wohnung ebenfalls lebenden Ursprungsfamilie, das Verbringen von Kleidungsstücken sowie das Waschen der Wäsche sein. Insbesondere bei jungen Personen können typische familiäre Übergangssituationen von der Lösung des Elternhauses bis zur endgültigen alleinigen Wohnung die Erweiterung des Versicherungsschutzes rechtfertigen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
4 Im Übrigen setzt die Rechtsprechung des BSG (zB BeckRS 2002, 30296416) zum dritten Ort ein angemessenes Verhältnis der Entfernung vom dritten Ort zur Arbeitsstelle im Verhältnis zur üblichen Wegstrecke voraus. Das ist bei einer Entfernung von 46 km anstatt 1,6 km nicht der Fall. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 9 U 166/15 2015-11-18 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I.
Das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 18.11.2015 und der Bescheid der Beklagten vom 24.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2015 werden aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Unfall des Klägers vom 24.10.2014 ein Arbeitsunfall ist.
II.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III.
Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das SG die auf Feststellung eines Arbeitsunfalls gerichtete Klage abgewiesen. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig. Die Klage ist auch begründet, weil der Unfall des Klägers vom 24.10.2014 ein bei der Beklagten versicherter Arbeitsunfall ist.
Rechtsgrundlage für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist § 8 SGB VII. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist ein Arbeitsunfall der Unfall, den ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Versicherte Tätigkeiten sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Versichert ist dabei der Weg von der Wohnung zur versicherten Tätigkeit und nach § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben. Dieser Weg beginnt mit Verlassen des häuslichen Wirkungskreises und endet mit dem Erreichen des Betriebsgeländes, in der Regel also mit dem Durchschreiten z.B. eines Eingangstores. Als Grenzpunkt des versicherten Weges ist in Absatz 2 Nr. 1-4 nur der Ort der Tätigkeit, nicht aber der andere Ort genannt. Dieser ist in erster Linie, aber nicht ausschließlich (nämlich vorbehaltlich der Rechtsprechung zum sogenannten „dritten Ort“) der Lebensmittelpunkt, also die Wohnung der versicherten Person (Keller in Hauck/ Noftz, SGB, 05/15, § 8 SGB VII Rdnr. 196). Die Rechtsprechung des BSG im Rahmen des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zum dritten Ort, wonach auch Wege zur Arbeit von anderen Orten als dem Lebensmittelpunkt aus versichert sein können, wenn der Aufenthalt am dritten Ort länger als 2 Stunden beträgt, kommt vorliegend nicht zum Tragen, da nach dieser Rechtsprechung Voraussetzung für einen Versicherungsschutz ist, dass die Entfernung des „dritten Ortes“ zur Arbeitsstelle in einem angemessenen Verhältnis zur üblichen Wegstrecke steht (ständige Rechtsprechung, zum Beispiel BSG, Urteil vom 03.12.2002 Az. B 2 U 18/02 R). Unter diesem Aspekt kann die Wohnung der Freundin in A-Stadt im Vergleich zur Wohnung des Klägers in B-Stadt nicht als geeigneter „dritter Ort“ angesehen werden, da die Entfernung zur Arbeit von B-Stadt aus nur 1,6 km und von A-Stadt aus 46 km betrug, sodass von einem „angemessenen Verhältnis“ nicht mehr die Rede sein kann.
Zutreffend hat das SG auch ausgeführt, dass keine Familienwohnung im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII vorliegt. Nach Auffassung des Senats handelt es sich nämlich bei der Wohnung in B-Stadt nicht lediglich um eine einfache Unterkunft, sondern um eine gleichwertige Wohnung.
Der Versicherungsschutz im Sinne eines Wegeunfalls war jedoch deshalb zu bejahen, weil der Kläger seinen Lebensmittelpunkt und seine Wohnung zum Zeitpunkt des Unfalls nicht nur in B-Stadt, sondern auch bei seiner Freundin in A-Stadt hatte. Er befand sich im Zeitpunkt des Unfalls auch auf dem direkten Weg von der Wohnung in A-Stadt zu seiner Arbeitsstelle in B-Stadt.
Grundsätzlich stellt bei zwei gleichwertigen Wohnungen die näher zum Ort der Tätigkeit gelegene Wohnung den Lebensmittelpunkt des Klägers dar (Wagner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK- SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 8 SGB VII Rz. 239) – hier also die Wohnung des Klägers in B-Stadt.
Der Kläger hatte im Zeitpunkt des streitgegenständlichen Unfalls seinen Lebensmittelpunkt bzw. seine Wohnung sowohl in der von ihm selbst unterhaltenen Wohnung in B-Stadt als auch bei der Familie seiner Freundin in A-Stadt. Der Versicherungsschutz ergibt sich aus den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum sogenannten „erweiterten häuslichen Bereich“ (vgl. BSG, Urteil vom 18.10.1994, Az. 2 RU 31/93 = SozR 3-2200 § 550 Nr. 10). Von einem solchen erweiterten häuslichen Bereich spricht das BSG, wenn der Versicherte aus besonderen Gründen, die in seinen familiären Verhältnissen liegen, den Weg zur Arbeit gewöhnlich von wechselnden Ausgangspunkten aus zurücklegen muss, ohne dass einer für sich genommen den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bildet. In einem solchen Fall besteht von jedem dieser Ausgangspunkte aus Versicherungsschutz. Ein solcher „erweiterter häuslicher Bereich“ ist z. B. von der Rechtsprechung bejaht worden, wenn sich die wechselnden Ausgangspunkte aus der familiären Situation ergeben, in der sich eine 19-jährige Versicherte langsam von ihrem Elternhaus lösen will und drei Tage pro Woche bei ihren Eltern und an den restlichen Tagen bei ihrem Freund wohnt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.1997, L 10 U 851/97, HVBGInfo 1998, S. 30 ff.).
Ein solcher erweiterter häuslicher Bereich, der zur Erweiterung des Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Unfallversicherung führt, lag nach der Überzeugung des Senats im Zeitpunkt des Unfalles vor. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Würdigung aller Zeugenaussagen sowie der Schlüssigkeit des Vorbringens des Klägers besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Kläger und seine damalige Freundin und jetzige Ehefrau D. A. sich am 04.10.2013 kennengelernt hatten und, nachdem sie seit dem 10.03.2014 ein festes Paar bildeten, so viel Zeit wie möglich zusammen verbrachten. Jedes zweite Wochenende übernachtete die Freundin in der Wohnung des Klägers in B-Stadt. Im Übrigen versuchte der Kläger so viel Zeit wie möglich bei seiner Freundin zu Hause in A-Stadt zu verbringen und hatte sich zu diesem Zweck im Mai 2014 ein Auto gekauft. Es bestand hierzu die volle Unterstützung seitens der Familie der Freundin. Wenn er bei der Freundin in A-Stadt übernachtete, was jedenfalls mehrmals wöchentlich der Fall war, fuhr er morgens direkt in die Arbeit. Der Kläger hatte auch einen Teil seiner Kleidung in das Zimmer seiner Freundin verbracht, wo er einen Teil des Schrankes belegte. Er lebte dort wie ein Familienmitglied, indem er dort verköstigt wurde, sich duschte, im Haushalt mithalf, sich seine Wäsche von der Mutter der Freundin waschen ließ usw. Insgesamt ist der Senat der Auffassung, dass der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls mindestens so viel Zeit bei der Freundin in A-Stadt verbrachte wie in seiner eigenen Wohnung in B-Stadt. Diese Verhältnisse waren auf grundsätzlich unbestimmte Zeit angelegt. Dass die Beziehung im Zeitpunkt des Unfalles tatsächlich bereits so eng war wie vom Kläger und allen Zeugen geschildert, wird auch indirekt dadurch bestätigt, dass der Kläger und seine damalige Freundin im Mai 2016 eine gemeinsame Wohnung in A-Stadt nahmen und im weiteren Verlauf des Jahres 2016 heirateten und ein gemeinsames Kind bekamen. Es war nachvollziehbar, dass der Kläger zunächst seine Wohnung in B-Stadt aufrechterhielt, da er nicht wusste, wie sich die künftigen beruflichen Pläne seiner damaligen Freundin, die im Unfallzeitpunkt noch nicht das Abitur hatte, entwickeln würden. Insoweit lag der klassische Anwendungsfall eines sogenannten erweiterten häuslichen Bereichs vor, bei dem die familiären Verhältnisse dazu führen, dass jemand ständig von wechselnden Ausgangspunkten den Weg zur Arbeit antritt. Es lag auch eine typische familiäre Übergangssituation vor, für die eine derartige Erweiterung des Versicherungsschutzes gerechtfertigt ist.
Damit ist der Unfall infolge einer nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Tätigkeit eingetreten und stellt als sogenannter Wegeunfall einen Arbeitsunfall im Sinne des § 8 SGB VII dar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG). Die Rechtsprechung zum sogenannten erweiterten häuslichen Bereich stützt sich auf ein vereinzelt gebliebenes älteres Urteil des BSG, sodass die Frage, ob das BSG die damalige Entscheidung fortführt bzw. ausbaut, von grundsätzlicher Bedeutung ist.

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