Sozialrecht

Versorgung, Bescheid, Ermessensentscheidung, Befreiung, Arzt, Facharzt, Bereitschaftsdienst, Kollision, Verpflichtungsklage, Versorgungsauftrag, Verwaltungspraxis, Anspruch, Trennung, Gleichbehandlung, schwerwiegender Grund, Grundsatz der Gleichbehandlung, Kosten des Verfahrens

Aktenzeichen  S 38 KA 331/19

Datum:
25.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38324
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage – es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG – ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, am Allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht teilzunehmen zu müssen.
Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, die den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufgetragen ist, umfasst auch die vertragsärztliche Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (§§ 73 Abs. 2, 75 S. 1 S. 1 und 2 SGB V). Auf dieser Rechtsgrundlage wurde die Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (BDO-KVB) erlassen, die hier in der Fassung vom 23.11.2012, in Kraft getreten am 20.4.2013, letztmalig geändert durch Beschluss der Vertreterversammlung vom 23.11.2019 zur Anwendung kommt. In deren § 2 sind diejenigen Ärzte, medizinische Versorgungszentren … aufgeführt, die zur Teilnahme an dem ärztlichen Bereitschaftsdienst verpflichtet sind. Nachdem der Antragsteller als Vertragsarzt mit vollem Versorgungsauftrag zugelassen ist, besteht für ihn eine entsprechende Verpflichtung (§ 2 Abs. 1 Ziff. 1).
Die Verpflichtung zur Teilnahme am Allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst entfällt nicht dadurch, dass unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet ist, dass eine Fachärztlicher Bereitschaftsdienst geschaffen wird, dem der Kläger zuzuordnen wäre. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 BDO-KVB kann die Beklagte Fachärztliche Bereitschaftsdienste für die Fachgruppen der Augenärzte, Chirurgen/Orthopäden, Frauenärzte, HNO-Ärzte und der Kinderund Jugendärzte einrichten. Andere Fachärztliche Bereitschaftsdienste können im Benehmen mit den betroffenen Allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienstgruppen eingerichtet werden, solange ein Sicherstellungsbedarf hierfür besteht (§ 7 Abs. 1 S. 3 BDO-KVB). Die Einrichtung von Fachärztlichen Bereitschaftsdienstgruppen hat zur Folge, dass deren Mitglieder nicht am Allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst teilnehmen müssen (§ 5 Abs. 3 S. 2 BDO-KVB). Der Kläger gehört als Internist /Nephrologie nicht zu dem in § 7 Abs. 1 S. 1 BDO-KVB genannten Personenkreis. Für die Fachgruppe der Internisten/Nephrologie wurde aber auch nicht von der Möglichkeit des § 7 Abs. 1 S. 3 BDO-KVB Gebrauch gemacht. Ein subjektiver Anspruch des Klägers auf Einrichtung eines Fachärztlichen Bereitschaftsdienstes besteht nicht. Während die Schaffung eines Allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienstes für die Beklagte verpflichtend ist (§ 1 BDO-KVB), handelt es sich vielmehr beim Fachärztlichen Bereitschaftsdienst um eine Ermessensentscheidung, die im Fall der Internisten/Nephrologie von dem Benehmen der betroffenen Allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienstgruppen abhängt und auch einen Sicherstellungsbedarf voraussetzt. Die Schaffung eines Fachärztlichen Bereitschaftsdienstes ist nicht verpflichtend, sondern liegt in der Gestaltungsfreiheit der Beklagten. Die Grenzen der Gestaltungsfreiheit sind nur bei Willkür und damit bei Verstoß gegen Art. 3 GG überschritten. Hierfür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte.
Auch ist für eine analoge Anwendung von § 7 Abs. 1 BDO-KVB kein Raum. Den Ausführungen des Klägers ist zu entnehmen, dass dieser die für ihn nach § 5 Abs. 4 der Qualitätssicherungs-Vereinbarung zu den Blutreinigungsverfahren nach § 135 Abs. 2 SGB V verpflichtende Dialyse-Rufbereitschaft als faktischen Fachärztlichen Bereitschaftsdienst beurteilt. Zum einen obliegt es der Beklagten und nicht ärztlichen Fachgruppen, Fachärztliche Bereitschaftsdienstgruppen einzurichten. Die Regelung in § 7 Abs. 1 BDO-KVB ist ersichtlich auf einen bestimmten Sachverhalt beschränkt, sodass von einem Analogieverbot auszugehen ist.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf vollständige Befreiung vom Bereitschaftsdienst.
§ 14 BDO-KVB enthält einen Befreiungstatbestand. Danach kann ein Vertragsarzt … aus schwerwiegenden Gründen ganz, teilweise oder vorübergehend und zusätzlich auch befristet (§ 14 Abs. 1) vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst befreit werden.
Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (auch Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst ganz, teilweise, vorübergehend, zeitlich befristet), wie sich der Formulierung „kann“ in § 14 Abs. 1 BDO-KVB entnehmen lässt. Ferner ist in Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu differenzieren zwischen der völligen Befreiung, der teilweisen oder vorübergehenden und zeitlich befristeten. Liegt ein schwerwiegender Grund für die Befreiung vor, ist zu prüfen, ob statt einer völligen Befreiung andere eingeschränkte Befreiungsmöglichkeiten wie zum Beispiel eine teilweise Befreiung in Betracht zu ziehen sind.
Unstrittig zwischen den Beteiligten ist offenbar, dass ein Befreiungsgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 S. 1 BDO-KVB besteht, so dass dies keiner Klärung durch das Gericht bedarf. Strittig zwischen den Beteiligten ist aber, ob die Voraussetzungen für eine vollständige Befreiung vorliegen. Die Beklagte hat nur eine teilweise Befreiung vom Bereitschaftsdienst u.a. erteilt, weil – die Befreiung vom Bereitschaftsdienst äußerst restriktiv zu handhaben sei und – sie der Auffassung ist, dass trotz der nach § 5 Abs. 4 der Qualitätssicherungs-Vereinbarung zu den Blutreinigungsverfahren nach § 135 Abs. 2 SGB V dem Kläger auferlegten Dialyse-Rufbereitschaft nach der Umstrukturierung des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes und nach Ausschöpfung der organisatorischen Möglichkeiten innerhalb der Berufsausübungsgemeinschaft diesem zumutbar ist, am vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst im reduzierten Umfang teilzunehmen.
Der Ärztliche Bereitschaftsdienst ist immanenter Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung. Mit seiner Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung nach § 95 SGB V übernimmt der Vertragsarzt auch die Verpflichtung, am Bereitschaftsdienst teilzunehmen. Es handelt sich also um keine neuen Pflichten und keine nachträgliche Erweiterung des Pflichtenkreises. Dies macht deutlich, dass an eine Befreiung vom Bereitschaftsdienst hohe Anforderungen zu stellen sind. Dabei sind selbst über das übliche Maß hinausgehende Unannehmlichkeiten und Erschwernisse, die mit der Teilnahme am Bereitschaftsdienst verbunden sind, hinzunehmen und führen nicht zu einem unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz. Liegen allerdings solche schwerwiegenden Gründe vor, die über die Grenze der Zumutbarkeit hinausgehen, kann grundsätzlich eine Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst in Betracht kommen (vgl. SG Marburg, Urteil vom 06.10.2010, Az S 12 KA 186/10). Ist bereits eine hälftige Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst – wie hier -gewährt worden, kommt es darauf an, ob im konkreten Fall eine solche teilweise Befreiung ausreicht, um ein Überschreiten der Grenze der Zumutbarkeit auszuschließen.
Das Gericht räumt ein, dass die geschilderten Tätigkeiten, vor allem die nach § 5 Abs. 4 der Qualitätssicherungs-Vereinbarung zu den Blutreinigungsverfahren nach § 135 Abs. 2 SGB V verpflichtende Dialyse-Rufbereitschaft für die behandelten Dialysepatienten (150-200) im Umfang von 1.592,5 Stunden/Jahr pro Arzt, aber auch die Behandlung von vielen Diabetes-Patienten (2.000) auch schwereren Grades, die Versorgung von Patienten sowohl in der Hauptpraxis, als auch in den beiden Filialen und die Kooperation mit den Krankenhäusern in C-Stadt und D-Stadt mit einer sehr hohen Arbeitsbelastung auch des einzelnen Arztes der Berufsausübungsgemeinschaft verbunden ist. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass der BAG vier Ärzte angehören, für die Dialyse-Rufbereitschaft immer nur ein Arzt zur Verfügung stehen muss und hierfür nicht ständig alle Mitglieder der BAG präsent sein müssen. Außerdem hat der Kläger nicht substantiiert vorgetragen, warum es nicht möglich ist, während den Zeiten des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes die Versorgung der Dialysepatienten durch andere Mitglieder der BAG sicherzustellen. Hinzu kommt, dass die Dienstfrequenz und damit einhergehend die Dienstbelastung nach der hälftigen Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst gering ist, wie sich aus der Dienstplaneinteilung für den Zeitraum vom 01.07.2020 bis 07.01.2021 ergibt (Heranziehung des Klägers an drei Tagen mit insgesamt ca. 23 Stunden). Diese Einteilung zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst ist dem Kläger überdies geraume Zeit vorher bekannt und kann rechtzeitig mit den Zeiten für die Dialyse-Rufbereitschaft organisatorisch so abgestimmt werden, dass es zu keiner Kollision der Dialyse-Rufbereitschaft mit der Teilnahme am Ärztlichen Bereitschaftsdienst kommt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Umfang der Tätigkeiten auch zu einem Teil auf einer unternehmerischen Entscheidung beruht. Dies gilt insbesondere für das Tätigwerden in den Krankenhäusern in C-Stadt und D-Stadt aufgrund einer Kooperationsvereinbarung. Insgesamt wird dadurch deutlich, dass der Ärztliche Bereitschaftsdienst für den Kläger leistbar und zumutbar ist sowie die Grenze der Zumutbarkeit bei Gewährung einer hälftigen Befreiung nicht überschritten wird.
Für das Ergebnis sprechen auch mehrere Entscheidungen der Sozialgerichte, denen gleiche oder zumindest vergleichbare Sachverhalte zugrunde lagen. So war das Sozialgericht Marburg (SG Marburg, Urteil vom 07.03.2007, S 12 KA 927/06) der Auffassung, ein Nephrologe, der zusammen mit einem anderen Nephrologen Dialyseleistungen in einer Gemeinschaftspraxis erbringt, habe keinen Anspruch auf Befreiung vom Bereitschaftsdienst. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW, Beschluss vom 29.08.2011, Az L 11 KA 55/11 B ER) hatte sich damit zu befassen, ob ein Onkologe, der nach § 5 der Onkologie-Vereinbarung vom 01.10.2009 zur Rufbereitschaft (24 Stunden) verpflichtet ist, einen Anspruch auf Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst hat. Dies hat das Gericht mit der Begründung verneint, die Rufbereitschaft sei nicht ansatzweise mit dem Notfalldienst vergleichbar. Sogar eine belegärztliche Tätigkeit rechtfertigt nach der Entscheidung des SG Marburg (SG Marburg, Urteil vom 06.10.2010, Az S 12 KA 186/10) grundsätzlich nicht die Befreiung vom vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst (Anmerkung: anders in Bayern: dort ist die belegärztliche Tätigkeit ausdrücklich als Befreiungsgrund nach § 14 Abs. 1 S. 2 lit. e BDO-KVB genannt).
Soweit der Kläger darauf hinweist, es sei Verwaltungspraxis, bei drei Nephrologensitzen eine vollständige Befreiung vom vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst auszusprechen, ist bereits fraglich, ob die BAG mit dieser Konstellation vergleichbar ist. Zwar gibt es insgesamt drei Nephrologensitze mit insgesamt drei Versorgungsaufträgen, jedoch zusätzlich einen hälftigen Allgemeinärztlichen Versorgungsauftrag.
Letztendlich kommt es jedoch darauf nicht an.
Eine gelebte Verwaltungspraxis führt zur Selbstbindung der Verwaltung und verpflichtet die Behörde zur Wahrung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Grundgesetz, in gleichgelagerten Fällen gleich zu entscheiden (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.01.2006, Az L 3 R 3/05; VG Braunschweig, Urteil vom 06.06.2012, Az 6 A 122/11). Der Behörde kann aber nicht verwehrt werden, ihre Verwaltungspraxis zu ändern oder sogar aufzugeben, insbesondere dann, wenn sich die Verwaltungspraxis als rechtswidrig erweist und/oder für eine Änderung bzw. Aufgabe der Verwaltungspraxis sachlich einleuchtende Gründe vorliegen (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 05.10.2018, Az 20 K 2276/18).
Wie die Beklagte ausgeführt hat, kam es mit der neuen Bereitschaftsdienstordnung in der Fassung vom 23.11.2012, in Kraft getreten am 20.4.2013, zu einer Neuordnung der Bereitschaftsdienststruktur (§ 5 BDO-KVB). Damit verbunden waren weniger Dienstzeiten, eine Wunschdienstplanung, größere Bereitschaftsdienstbereiche und die Einführung von Sitz- und Fahrdiensten. Letztendlich hat die Neuordnung zu einer geringeren Belastung der Mitglieder des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes geführt, wovon auch der Kläger profitiert. Die Umsetzung dieser neuen Strukturen fand bis 2018 statt. Damit liegen sachlich einleuchtende Gründe für eine Aufgabe einer bestehenden Verwaltungspraxis vor. Allein deshalb vermag der Kläger einen Anspruch auf vollständige Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht auf die vergangene Verwaltungspraxis der Beklagten zu stützen. Konkrete Anhaltspunkte für die Behauptung des Klägers, die Beklagte habe ihre Verwaltungspraxis auch nach Umstrukturierung fortgesetzt, sind nicht ersichtlich.
Auch wenn es nicht entscheidungserheblich ist, weist das Gericht darauf hin, dass der Antragsteller nicht einfach darauf verwiesen werde, er habe mehrere Möglichkeiten, seine mit dem Bereitschaftsdienst verbundenen Belastungen zu reduzieren (Rückgriff auf die Vertretungsmöglichkeit bzw. den sog. Bereitschaftsdienstpool). Hierzu ist zu bemerken, dass es meist immer Mittel und Wege gibt, der Verpflichtung zur Teilnahme am Bereitschaftsdienst nachzukommen. Im Ergebnis würde dies darauf hinauslaufen, dass eine Befreiung vom Bereitschaftsdienst dann nie zu erteilen wäre, was nach Auffassung des Gerichts mit dem Befreiungstatbestand der § 14 BDO-KVB nicht zu vereinbaren ist.
Aus den genannten Gründen war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.

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