Sozialrecht

Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung

Aktenzeichen  L 19 R 94/15

Datum:
28.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 2, § 241 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.
2. In Ausnahmefällen kann eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung selbst dann erfolgen, wenn keine quantitative Einschränkung besteht, jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sind.  (redaktioneller Leitsatz)
3. Zunächst ist zu prüfen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, usw.; wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen bestehen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen.  (redaktioneller Leitsatz)
4. Im dritten Schritt ist von der Rentenversicherung eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 3 R 24/13 2014-12-18 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 18.12.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat die Klägerin sowohl zum Zeitpunkt der Antragstellung als auch später unproblematisch erfüllt, da bei ihr nach § 43 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI der maßgebliche Zeitraum fortlaufend durch Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung, die allerdings spätestens mit dem 10. Geburtstag des Kindes enden, verlängert worden ist. Eine Anwendung von § 241 Abs. 2 SGB VI würde dagegen nicht in Betracht kommen, da die Klägerin zum 01.01.1984 noch nicht gearbeitet hatte und damit offensichtlich die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt gehabt haben konnte.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Eine volle Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI liegt bei der Klägerin nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht vor. Sämtliche im Verfahren gehörten Ärzte sind sich darin einig, dass die Klägerin bei Beachtung der Einschränkungen der Arbeitsbedingungen ohne gesundheitliche Gefährdung mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig sein kann.
Zwar könnte die beantragte Rente wegen voller Erwerbsminderung nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss vom 11.12.1969 – Az. GS 4/69; Beschluss vom 10.12.1976 – Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – jeweils zitiert nach juris) auch in Betracht kommen, wenn eine teilweise Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) vorliegen würde, eine Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeübt würde und der Teilzeitarbeitsmarkt für die Klägerin als verschlossen anzusehen wäre (s.a. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 43 SGB VI Rn 30 mwN). Unabhängig von der Diskussion darüber, ob diese Rechtsprechung auch aktuell noch zur Anwendung zu bringen ist, scheitert ein derartiger Rentenanspruch daran, dass bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats keine teilweise Erwerbsminderung im Rechtssinne vorliegt.
Die Klägerin ist vielmehr noch in der Lage, wenigstens 6 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, solange es sich um leichte bis höchstens gelegentlich mittelschwere Arbeiten handelt und die Beschränkungen der Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Ausgeschlossen sind Heben und Tragen von Lasten mit mehr als 10 kg, dauerhaftes Sitzen, Stehen und Gehen ohne die Möglichkeit zum selbstbestimmten Haltungswechsel und Zwangshaltungen im Knien, Hocken, Bücken und in gebeugten Positionen.
Der Senat stützt sich wesentlich auf die Feststellungen des gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. B., aber auch auf die Darlegungen des Dr. R. und der Dr. C. zu den erforderlichen Arbeitsbedingungen. Er folgt nicht der Ansicht von Frau Dr. C., wonach eine quantitative Einschränkung auf 4 Stunden täglich erforderlich sei, um unzumutbare Gesundheitsrisiken bei der Klägerin zu vermeiden. Auf gezielte Nachfrage hat Dr. C. nämlich ausschließlich damit argumentiert, dass der Klägerin von zweistündigen sitzenden Tätigkeiten abzuraten sei. Gerade dies ist aber eine Einschränkung, die an einer Vielzahl geeigneter Arbeitsplätze beachtet werden kann, ohne dass eine zeitliche Einschränkung der Erwerbstätigkeit daraus resultieren würde.
In bestimmten Ausnahmefällen kann eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung allerdings selbst dann erfolgen, wenn, wie bei der Klägerin, keine quantitative Einschränkung besteht; dazu müssten jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was aus Sicht des Senates nicht der Fall ist. Für die Prüfung ist nach dem BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen würde, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O. Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da fast alle Arbeitsfelder als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Sicherstellung der Möglichkeit des Haltungswechsels und die Beschränkung auf wenig rückenbelastende Anforderungen, die keine ungewöhnlichen Einschränkungen darstellen.
Die von der Klägerin hilfsweise beantragte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung kommt ebenfalls nicht in Betracht, da die Klägerin, wie bereits ausgeführt wurde, an geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich mindestens 6 Stunden einsatzfähig ist und damit nicht teilweise erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ist.
Ein Antrag auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ist nicht gestellt worden; er hätte auch keinen Erfolg gehabt, weil die Klägerin aufgrund ihres Geburtsdatums eindeutig nicht zu dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch der Klägerin nicht als belegt ansehen, nicht zu beanstanden und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 18.12.2014 war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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