Sozialrecht

Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung

Aktenzeichen  L 19 R 1090/14

Datum:
28.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 124505
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.
2. Eine sog. arbeitsmarktbedingte Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt voraus, dass wenigstens eine teilweise Erwerbsminderung besteht. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 16 R 1168/12 2014-11-20 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 20.11.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat der Kläger für alle in Frage kommenden Leistungszeitpunkte wohl erfüllt, da er nach seinen Angaben nach der letzten Beschäftigung fortlaufend arbeitslos gemeldet war und Leistungen nach dem SGB II bezieht.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen ist der Kläger zur Überzeugung des Senats in der Lage, wenigstens 6 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, wobei es sich um leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit zum Haltungswechsel handeln muss. Ausgeschlossen sind Zwangshaltungen, Überkopfarbeit, Heben und Tragen von schweren Lasten, häufiges Bücken, häufiges Klettern oder Steigen, erhöhte Unfallgefährdung und übermäßige nervliche Belastung wie besonderer Zeitdruck, Nacht- und Wechselschicht und Lärm aber auch mehr als gelegentlicher Publikumsverkehr. Die Arbeit soll überwiegend in geschlossenen Räumen ohne Einflüsse von Kälte, Hitze, Zugluft, starken Temperaturschwankungen und Nässe zu erbringen sein.
Der Senat stützt sich wesentlich auf die Feststellungen des gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. G., aber auch auf die Darlegungen des Dr. L. und des Dr. S., die sich mit den Ausführungen des Dr. K. und des S. A. zu den erforderlichen Arbeitsbedingungen in weiten Teilen decken.
Eine volle Erwerbsminderung nach der Vorschrift des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI und ebenso eine teilweise Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI liegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen bei dem Kläger eindeutig nicht vor. Sämtliche im Verfahren gehörten Ärzte sind sich darin einig, dass der Kläger bei Beachtung der Einschränkungen der Arbeitsbedingungen ohne gesundheitliche Gefährdung mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann.
Damit scheidet auch die in der Rechtsprechung des BSG (Beschluss vom 11.12.1969 – Az. GS 4/69; Beschluss vom 10.12.1976 – Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – jew. zit. nach juris) begründete sog. arbeitsmarktbedingte Rente wegen voller Erwerbsminderung aus, weil sie als Grundlage wenigstens eine teilweise Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) voraussetzt (s.a. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 43 SGB VI Rn 30 mwN).
Selbst wenn wie im Fall des Klägers eine relevante quantitative Einschränkung seines Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen nicht besteht, kann in bestimmten Ausnahmefällen eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung erfolgen. Dazu müssten allerdings die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was entgegen den Ausführungen der Klägerseite aus Sicht des Senates nicht der Fall ist.
Zutreffend hat die Bevollmächtigte des Klägers darauf hingewiesen, dass nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, mehrschrittig vorzugehen ist. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel bestehen, ob der Leistungsgeminderte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen tatsächlich einsatzfähig ist, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach dem Vorliegen einer besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O. Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da die Arbeitsfelder Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Zwar sind auch hierbei noch Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu beachten. Es ist jedoch nicht belegt, dass der Kläger keinerlei Publikumsverkehr ausgesetzt sein darf. Ebenso sind besondere zusätzliche Einschränkung hinsichtlich weiterer Mitarbeiter (möglichst wenige), Führungspersonal (eher lockerer Führungsstil) und Arbeitsräumen (eher geräumig) nicht aus der gesundheitlichen Situation des Klägers zwingend abzuleiten, sondern nur als günstig anzusehen.
Aber selbst wenn man das Vorliegen von ernstlichen Zweifeln annehmen wollte, so stellen die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine – ggf. funktionale – Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Es liegen Einschränkungen der Arbeitsbedingungen vor, wie sie vielfach bei körperlich und psychisch beeinträchtigten Erwerbstätigen anzutreffen sind. Es ist ein hinreichendes körperliches Restleistungsvermögen, eine ungestörte Sinneswahrnehmung und eine zwar geschwächte, aber noch nicht aufgehobene psychische Stabilität vorhanden. Ein Ausschluss jeglichen Publikumsverkehrs oder weitere ungewöhnliche Einschränkungen der Arbeitsbedingungen – etwa beim Führungsstil oder hinsichtlich Kollegen – sind nicht nachgewiesen.
Der Kläger ist auch nicht gehindert, einen eventuellen Arbeitsplatz zu erreichen. Die Gehfähigkeit des Klägers ist zwar durch die Gesundheitsstörungen des Klägers limitiert, aber noch in dem geforderten Umfang 4-mal täglich mehr als 500 Meter in jeweils weniger als 20 Minuten) vorhanden. Auch die Zumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erscheint nicht völlig ausgeschlossen, wenn auch zu den Hauptverkehrszeiten durchaus fraglich. Dies kann aber dahingestellt werden, da der Kläger nach den Feststellungen im Verfahren in der Lage wäre, mit einem PKW zur Arbeit zu fahren.
Das Nichtvorliegen von teilweiser Erwerbsminderung schließt auch den Anspruch auf die hilfsweise beantragte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung aus (§ 43 Abs. 1 SGB VI).
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch des Klägers nicht als belegt ansehen, nicht zu beanstanden.
Ein Antrag auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ist nicht gestellt worden; er hätte auch keinen Erfolg gehabt, weil der Kläger aufgrund seines Geburtsdatums eindeutig nicht zu dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem war die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 20.11.2014 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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