Sozialrecht

Vorläufige Zahlung (höherer) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts

Aktenzeichen  L 11 AS 210/17 B ER

Datum:
11.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2, § 172 Abs. 3 Nr. 1
SGB II SGB II § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 5

 

Leitsatz

Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 6 AS 1447/16 ER 2017-01-30 Bes SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.01.2017 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig ist die vorläufige Zahlung (höherer) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld – Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für November und Dezember 2016.
Der Antragsteller (ASt) beantragte im September 2016 Alg II. Ein Arbeitsverhältnis, aus dem zuletzt für Oktober 2016 eine Nettogehalt von 1.852,76 EUR (brutto 2.651,10 EUR) und für November 2016 von 411,23 EUR (brutto 612 EUR) erzielt wurde, beendete der Arbeitgeber zum 08.11.2016. Nach einem in den Akten des Ag befindlichen Kontoauszug des ASt erfolgte die Gutschrift des Augustgehalts am 02.09.2016. Mit Bescheid vom 21.12.2016 lehnte der Ag die Bewilligung von Leistungen für September bis November 2016 wegen fehlender Bedürftigkeit ab und bewilligte mit weiterem Bescheid vom 21.12.2016 Alg II iHv 488,17 EUR für Dezember 2016 (unter Anrechnung des Novembereinkommens) bzw iHv monatlich 702 EUR für Januar bis Februar 2017 (ohne Einkommensanrechnung). Am 04.01.2012 teilte der ASt ua mit, es sei nicht berücksichtigt worden, dass er in einem Monat 2.200 km bis 2.300 km gefahren sei, was 450 EUR bis 500 EUR ausmache. Für sein Auto habe er 1.067 EUR bezahlt. Auf eine telefonische Nachfrage des ASt am 17.02.2017 bezüglich „der Bearbeitung seiner Kündigung zum 08.11.2016“ teilte der Ag mit Schreiben vom 20.02.2017 mit, dies sei bereits berücksichtigt und es werde kein Einkommen mehr angerechnet. Für die Monate März 2017 bis Februar 2018 bewilligte der Ag – ohne Berücksichtigung eines Einkommens – Alg II iHv 702 EUR monatlich (Bescheid vom 10.02.2017).
Bereits am 19.12.2016 hat der ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) einsteiligen Rechtsschutz beantragt. Mit Beschluss vom 30.01.2017 hat das SG den Antrag abgelehnt. Der ASt habe gegen den Ablehnungsbescheid keinen Widerspruch eingelegt, weshalb es insofern an einem offenen Hauptsacheverfahren fehle. Für die Zeit ab 01.12.2016 liege kein Rechtsschutzbedürfnis vor, da Alg II nunmehr bewilligt worden sei.
Dagegen hat der ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Ab 09.11.2016 habe er keine Arbeit mehr gehabt. Er fordere noch Leistungen für die Zeit vom 09.11.2016 bis 30.11.2016 und für Dezember 2016, für den er nur 408 EUR erhalten habe.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG), aber nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind zuletzt nur noch Leistungen für November und Dezember 2016, die der ASt in seiner Beschwerdebegründung fordert. Für die Zeit ab Januar 2017 ist mit Bescheid vom 21.12.2016 bzw Bescheid vom 10.02.2017 Alg II ohne Anrechnung von Einkommen bewilligt worden. Die Beschwerde ist nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, da in der Hauptsache eine Berufung zulässig wäre. Der Wert der Beschwer liegt bei über 750 EUR, da – nach den Berechnungen im Bescheid vom 21.12.2016 – der maximale Leistungsanspruch für November und Dezember 2016 bei monatlich 697 EUR gelegen hätte. Damit fordert der ASt insgesamt 905,83 EUR (697 EUR für November 2016 und 697 EUR für Dezember 2016 abzüglich bereit bewilligter 488,17 EUR).
Das Begehren des ASt kann im Rahmen einer Hauptsache grundsätzlich mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht werden, so dass vorliegend § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes darstellt. Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG, Beschluss vom 25.10.1998 – 2 BvR 745/88 – BVerfGE 79, 69 (74); Beschluss vom 19.10.1977 – 2 BvR 42/76 – BVerfGE 46, 166 (179); Beschluss vom 22.11.2002 – 2 BvR 745/88 – NJW 2003, 1236).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Kel-ler/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 86b Rn 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbezie-hung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vor-gegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Breith 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen und deshalb eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in den Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, droht, ist eine Versagung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nur dann möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist (vgl BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 – 1 BvR 1335/13). Für eine Entscheidung aufgrund einer sorgfältigen und hinreichend substantiierten Folgenabwägung ist nur dann Raum, wenn eine – nach vorstehenden Maßstäben durchzuführende – Rechtmäßigkeitsprüfung auch unter Berücksichtigung der Kürze der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelmäßig zur Verfügung stehenden Zeit nicht verwirklicht werden kann, was vom zur Entscheidung berufenen Gericht erkennbar darzulegen ist (vgl zum Ganzen auch: BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 – 1 BvR 1335/13; Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Breith 2005, 803; weniger eindeutig: BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014 – 1 BvR 1453/12).
Im Hinblick auf die vom Ag für November und Dezember 2016, mithin für bereits abgelaufene Zeiträume, begehrten Leistungen fehlt es an einem Anordnungsgrund. Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt werden, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Kel-ler/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl Beschluss des Senates vom 12.04.2010 – L 11 AS 18/10 B ER). Beides ist vorliegend nicht der Fall. Ein besonderer Nachholbedarf, der – insbesondere trotz der zwischenzeitlich bewilligten Leistungen und der tatsächlich erzielten Lohnzahlungen – noch aktuell fortwirken könnte, ist nicht erkennbar. Auch besteht der Anspruch nicht eindeutig. Zwar dürfte der ASt mit seinem Schreiben am 04.01.2017 Widerspruch gegen die Bescheide vom 21.12.2016 eingelegt haben, da er sich insbesondere gegen den Umfang der Einkommensanrechnung wendet. Ein solcher könnte vorliegend auch ohne Unterschrift formgerecht erhoben worden sein (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 84 Rn 3). Hierüber wird der Ag noch zu befinden haben. Damit ist noch nicht bestandskräftig über den Leistungsanspruch für November und Dezember 2016 entschieden. Allerdings ist derzeit nicht offensichtlich, dass ein höherer Anspruch besteht. Maßgeblich ist dafür zum einen, wann das jeweilige Einkommen zugeflossen ist. Der Ag ist – ausgehend vom Augusteinkommen, das im September gutgeschrieben worden ist – von einem Zufluss der jeweiligen Lohnzahlungen im Folgemonat ausgegangen. Nur wenn das Oktober- bzw Novembereinkommen dem ASt bereits früher zugeflossen sein sollte, was dieser nachzuweisen hätte, könnte sich insofern ein höherer Leistungsanspruch ergeben (zur Maßgeblichkeit des Zuflusszeitpunkts vgl nur: BSG, Urteil vom 28.10.2014 – B 14 AS 36/13 R; Urteil vom 12.12.2013 – B 14 AS 76/12 R). Nicht abschließend geklärt werden kann, inwiefern noch Werbungskosten bei der Einkommensanrechnung in Abzug zu bringen wären. Der ASt macht im Schreiben vom 04.01.2017 Fahrtkosten und Aufwendungen für einen Pkw geltend, die ggf im Rahmen von § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II vom anzurechnenden Einkommen abzusetzen sein könnten. Da das Einkommen aus Erwerbstätigkeit auch jeweils mehr als 400 EUR betragen hat, können Aufwendungen von mehr als 100 EUR diesbezüglich bei Nachweis berücksichtigt werden. Allerdings ist unklar, wann und in welcher konkreten Höhe die vom ASt behaupteten Werbungskosten angefallen sind. Dies wird der Ag im Rahmen des Widerspruchsverfahrens ggf noch zu ermitteln haben. Von einem eindeutig bestehenden, höheren Anspruch auf Alg II für November und Dezember 2016 kann aber derzeit nicht ausgegangen werden.
Nach alledem war die Beschwerde des ASt gegen den Beschluss des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

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