Sozialrecht

Wegeunfall – Feststellung einer Läsion des Discus triangularis

Aktenzeichen  L 2 U 74/16

Datum:
19.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 55 Abs. 1 Nr. 3, § 109, § 143, § 151, § 153 Abs. 2
SGB VII SGB VII § 7, § 8 Abs. 2 Nr. 1, § 102

 

Leitsatz

Eine isolierte Diskusruptur als Gesundheitserstschaden gilt grundsätzlich als unwahrscheinlich. (amtlicher Leitsatz)
Abgerundete Ecken im Bereich des Discus triangularis sprechen für eine bereis länger zurückliegende unfallunabhängige Läsion. (amtlicher Leitsatz)
Offen bleibt, ob bei einer Diskusläsion von einem geeigneten oder ungeeigneten Unfallmechanismus ausgegangen werden kann. (amtlicher Leitsatz)
Zu den abstrakt feststellbaren Anspruchselementen im Rahmen einer Feststellungsklage (§ 55 SGG) gehören neben dem Versicherungsfall nach §§ 7, 8 SGB VII die unmittelbaren Unfallfolgen im engeren Sinn. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 13 U 73/14 2016-01-11 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 11. Januar 2016 wird zurückgewiesen.
II.
Die Beklagte trägt 1/10 der außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.
Der zuletzt noch gestellte Antrag auf Feststellung einer Läsion des Discus triangularis im Bereich des rechten Handgelenks als Folge des durch angenommenes Teilanerkenntnis vom 20. Oktober 2016 festgestellten Arbeitsunfalls ist gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässig (vgl. auch BSG vom 15. Februar 2005, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12). Zu den abstrakt feststellbaren Anspruchselementen gehören neben dem Versicherungsfall nach §§ 7, 8 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) die unmittelbaren Unfallfolgen im engeren Sinn, also die Gesundheitsschäden, die wesentlich (und deshalb zurechenbar) spezifisch durch den Gesundheitserstschaden des Versicherungsfalls verursacht wurden (Bayer. LSG, Urt. v. 27.11.2013, Az.: L 2 U 104/13 – juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 03.05.2013, Az.: L 3 U 29/11 – juris).
Der Feststellungsantrag ist jedoch im Sinne des § 102 SGB VII unbegründet. Zwar liegt ein Arbeitsunfall nach §§ 7, 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII am 20. Dezember 2012 unstreitig vor. Als Erstschaden besteht dabei jedoch nur eine Handgelenksdistorsion rechts mit Kapselzerrung, wie dies die Beklagte im Hinblick auf die gutachterlichen Äußerungen des Dr. C. zutreffend angenommen hat.
Zutreffend hat das Sozialgericht die Läsion des Discus triangularis im Bereich des rechten Handgelenks nicht als Folge des Unfalls vom 20. Dezember 2012 anerkannt und sich dabei auf das Gutachten des Dr. C. gestützt. Gemäß § 153 Abs. 2 SGG kann auf die Ausführungen des Sozialgerichts in den Entscheidungsgründen verwiesen werden, auch soweit die Kammer nicht dem Gutachten des Dr. A. gefolgt ist.
Dabei ist das Sozialgericht auch von einer zutreffenden Kausalitätsbeurteilung ausgegangen. Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheits(erst)schaden sowie für die Kausalität zwischen Gesundheits(erst)schaden und weiteren Gesundheitsschäden als Unfallfolgen einschließlich Verschlimmerungen gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG vom 17. Februar 2009 – Az. B 2 U 18/07 R – Juris Rdnr. 12), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache für das Entstehen eines neuen bzw. die Verschlimmerung eines bereits bestehenden Gesundheitsschadens wesentlich ist, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (vgl. BSG vom 17. Februar 2009, a. a. O.) sowie auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten (vgl. BSG vom 9. Mai 2006 – Az.: B 2 U 1/05 R – Juris Rdnr. 17). Gesichtspunkte für die Beurteilung sind neben der versicherten Ursache als solcher, einschließlich Art und Ausmaß der Einwirkung, u. a. die konkurrierende Ursache (nach Art und Ausmaß), der zeitliche Ablauf des Geschehens, das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte (vgl. BSG vom 9. Mai 2006 – Az.: B 2 U 1/05 R – Juris Rdnr. 16).
Es kann mehrere rechtlich wesentliche (Mit-)Ursachen geben. Ist jedoch eine Ursache – allein oder gemeinsam mit anderen Ursachen – gegenüber anderen Ursachen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursachen(n) „wesentlich“ und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (vgl. BSGE 12, 242, 245). Eine Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als „wesentlich“ anzusehen ist, kann auch als „Gelegenheitsursache“ oder Auslöser bezeichnet werden (vgl. BSG vom 9. Mai 2006, a. a. O., Juris Rdnr. 15 m. w. N.).
Hinsichtlich des Beweismaßstabes ist zu beachten, dass das Vorliegen eines Gesundheits(erst)schadens bzw. eines Gesundheitsfolgeschadens (Unfallfolgen) im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen muss, während für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitserst- bzw. -folgeschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, wie sie auch Dr. C. nicht ausschließt, genügt (vgl. BSG vom 2. April 2009, Az.: B 2 U 29/07 R – Juris Rdnr. 16).
Dabei ist die Beurteilung der Kausalität im Ergebnis eine Frage der richterlichen Würdigung. Verursacht sind die Gesundheitsstörungen, wenn der Unfall gegenüber sonstigen schädigungsfremden Faktoren wie z. B. Vorerkrankungen nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung von überragender Bedeutung für die Entstehung der Gesundheitsstörung war oder zumindest von annähernd gleichwertiger Bedeutung (wesentliche Mitursache).
Vor diesem Hintergrund ist gegenüber dem Urteil des Sozialgerichts ergänzend auszuführen, dass dessen Ausführungen durch die vom Senat eingeholte Stellungnahme des Dr. C. vom 17. Juli 2016 bekräftigt werden. Der Kläger stützt seine Berufung auf die Gutachten des Dr. A. und des Dr. S.. Mit Ersterem hat sich Dr. C. in der ergänzenden Stellungnahme nochmals auseinandergesetzt und im Ergebnis dessen Ansicht nicht geteilt. Entscheidend ist, dass eine zentrale Diskusläsion, wie intraoperativ diagnostiziert, in der MRT-Aufnahme des rechten Handgelenks vom 7. Januar 2013 nicht nachvollzogen werden kann. Darüber hinaus wäre gemäß den vorliegenden bildgebenden Verfahren von einer isolierten Diskusruptur auszugehen; insbesondere wurde ein Knochenödem niemals festgestellt; dies ergibt sich auch nicht aus der MRT-Aufnahme. Eine horizontal verlaufende Signalanhebung zwischen dem Meniskoid und dem Discus articularis beurteilte der Gutachter nicht als Ruptur, sondern als anatomisch vorgegebene Trennschicht. Eine isolierte Diskusruptur als Gesundheitserstschaden bzw. Unfallfolge gilt grundsätzlich als unwahrscheinlich.
Aus dem dokumentierten OP-Befund ergibt sich ferner, dass die Ecken im Bereich des Discus triangularis abgerundet und damit nicht ausgefranzt waren. Hierzu hat bereits das Sozialgericht zutreffend unter Verweis auf das Gutachten des Dr. C. hingewiesen, dass diese Form der Defektbildung für eine bereits länger zurückliegende unfallunabhängige Läsion sowie Zeichen einer Chondrokalzinose spricht.
Auch das festgestellte Handgelenksganglion spricht nicht für eine traumatische Diskusläsion. Nach Darstellung des Dr. C. haben derartige Ganglien nahezu ausschließlich konstitutionelle Ursachen. Eine traumatische Genese würde eine entsprechende Einblutung voraussetzen, die beim Kläger auch intraoperativ nicht festgestellt wurde.
Die Handgelenksbeschwerden sind schließlich auch durch beim Kläger existente unfallunabhängige Faktoren zu begründen wie insbesondere die o.g. Chondrokalzinose und eine beim Kläger vergleichsweise kurze ausgebildete Elle. Diese beim Kläger vorliegende Längenvariante (sog. Ulna-Minus) stellt zwar nicht unbedingt einen krankhaften Faktor dar. Allerdings kann sich hierbei der Druck auf den Discus triangularis bei Belastung verstärken (vgl. z. B. http://www.handchirurgie-krems.at/handgelenksschmerz.html); es kommt zu einer Verlagerung in Richtung Handwurzel (sog. Ulna-Impaction). Dabei verschleißt der Discus triangularis im Laufe des Lebens und nimmt aufgrund der immer wieder auftretenden Belastung Schaden.
Die Beklagte stützte ihre Ablehnung der Anerkennung einer unfallbedingten Diskusläsion vor allem auf die Ungeeignetheit des Unfallmechanismuses, hier eines Auffahrunfalls. Es handelte sich dabei tatsächlich nicht um einen schwerwiegenden Auffahrunfall; die Airbags des VW Passat wurden nicht ausgelöst. Der Kläger konnte auch anschließend die Heimfahrt mit dem Fahrzeug fortsetzen. Auch wenn das Fahrzeug des Klägers bei dem Aufprall bereits stand, muss somit eine vergleichsweise geringe Krafteinwirkung auf den Körper des Klägers vorgelegen haben. Letztlich kann der Senat aber im Hinblick auf die oben genannten Gründe dahinstehen lassen, ob grundsätzlich bei einer Diskusläsion von einem geeigneten oder ungeeigneten Unfallmechanismus ausgegangen werden kann (offen auch in der Fachliteratur, so z. B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 541 f, 544 ff).
Aus dem Gutachten des Dr. S. lässt sich der klägerische Anspruch auf Feststellung der Unfallfolge nicht ableiten, da dieser keinerlei Begründung für seine Annahme, dass der gesamte Schaden am rechten Handgelenk unfallbedingt sei, erkennen lässt. Eine Auseinandersetzung mit den oben dargestellten Kausalitätsgrundsätzen in der gesetzlichen Unfallversicherung lässt dieser Sachverständige vermissen.
Allein das zeitliche Auftreten der Beschwerden in Zusammenhang mit einem Unfallereignis ist jedenfalls für den Nachweis der Unfallkausalität nicht ausreichend. Ferner lösen die nach Ansicht von Dr. C. erlittene Kapselzerrung und Handgelenksdistorsion ebenfalls Schmerzen aus, die jedoch innerhalb von wenigen Wochen wieder folgenlos abheilen.
Der Senat folgt damit wie das Sozialgericht den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Dr. C. in dessen Gutachten, die durch die vom Senat eingeholte Stellungnahme bekräftigt wurden. Insgesamt ist vom Vorliegen eines Vorschadens auszugehen, nämlich einer Defektbildung mit abgerundeten Ecken, die für eine länger zurückliegende unfallunabhängige Läsion sprechen, sowie Zeichen einer Chondrokalzinose. Als Gesundheitserstschaden ist lediglich eine Handgelenksdistorsion sowie eine Kapselzerrung festzustellen.
Die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des Dr. A. nach § 109 SGG war nicht erforderlich. Dies käme nur in Betracht, wenn sich durch die ergänzende Stellungnahme entscheidende Gesichtspunkte ergeben hätte, zu denen sich der Gutachter nach § 109 SGG noch nicht hatte äußern können (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 109 Rdnr. 10 b). Dr. A. hat bereits ein umfassendes Gutachten nach § 109 SGG erstellt. Die ergänzende Stellungnahme des Dr. C. bringt keine neuen Tatsachen zutage, vielmehr bekräftigt der Sachverständige darin lediglich seine Ausführungen aus dem Gutachten, indem er zu dem Gutachten des Dr. A., zur Stellungnahme des beratenden Arztes Dr. B. und zur Berufungsbegründung in denkbar knapper Form nochmals Stellung bezieht. Es gibt insbesondere kein Automatismus, dass das Gericht nach einer ergänzenden Stellungnahme nach § 106 SGG auch eine nach § 109 SGG einholen muss. Der 109-Gutachter muss nicht das „letzte Wort“ haben (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O.; Behn, SozV 1990, S. 29 ff, 34).
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenfolge stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.

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