Sozialrecht

Zeitlich spätere Geltendmachung des Arbeitslosengelsanspruchs im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs

Aktenzeichen  L 9 AL 229/13

Datum:
9.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 152547
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB III § 118, § 119, § 122 Abs. 1 S. 2, § 123 Abs. 1, § 127 Abs. 2
SGB I § 14 S. 1

 

Leitsatz

1 Die allgemeine Beratungspflicht der Bundesagentur für Arbeit als Sozialleistungsträger umfasst auch den Hinweis auf erkennbare Nachteile, die sich als Folge der Geltendmachung eines Sozialleistungsanspruches ergeben. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es besteht ein konkreter Anlass für eine sogenannte Spontanberatung bei „klar zutage liegenden Gestaltungsmöglichkeiten“, deren Wahrnehmung ein verständiger Leistungsberechtigter mutmaßlich nutzen würde. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. Mai 2013 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im zweiten Rechtszug.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig.
Der Senat ist an die auf § 144 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestützte Zulassung der Berufung durch das SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).
Die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 27.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß § 118 Abs. 1 SGB III (in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.2003 – BGBl I 2848, im Folgenden nur: a.F.) haben Anspruch auf Arbeitslosengeld Arbeitnehmer, die
1.arbeitslos sind,
2.sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und
3.die Anwartschaftszeit erfüllt haben.
Liegen die Anspruchsvoraussetzungen des § 118 Abs. 1 SGB III a.F. kumulativ vor, entsteht ein sogenanntes Stammrecht des Arbeitslosen als zu einem subjektiv-öffentlichen Recht verfestigter Besitzstand (vgl. Buser in Eicher/Schlegel, SGB III n.F., § 137, Rdnr. 3 u. 36 m.w.N.).
Gemäß § 118 Abs. 2 SGB III a.F. kann der Antragsteller bis zur Entscheidung über den Anspruch bestimmen, dass dieser nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll.
Der Arbeitslose kann insoweit durch Willenserklärung die Entstehung des Stammrechts verschieben, etwa um gemäß § 127 Abs. 2 SGB III a.F. eine längere Bezugsdauer des auszuzahlenden Arbeitslosengeldes zu erreichen.
Eine Verschiebung des Stammrechts kann jedoch noch nicht ausgeübt werden, wenn die Arbeitslosigkeit des Versicherten erst nach Ablauf von drei Monaten eintritt.
Dies folgt aus entsprechender Anwendung des § 122 Abs. 1 Satz 2 SGB III a.F., wonach eine Arbeitslosmeldung erst zulässig ist, wenn der Eintritt der Arbeitslosigkeit innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist (vgl. Buser in Eicher/Schlegel, a.a.O., § 137, Rdnr. 42 u. 45 m.w.N.; Gutzler in Mutschier, SGB III 6. Auflage, § 137, Rdnr. 14; Hölzer in Gagel, SGB III, § 137, Rdnr. 25).
Bei ihrer Arbeitslosmeldung am 05.01.2012 mit Wirkung zum 10.01.2012 hatte die Klägerin unstreitig eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld nach § 123 Abs. 1 SGB III a.F. von längstens 240 Leistungstagen erfüllt.
Die Klägerin war ferner ab 10.01.2012 unstreitig arbeitslos im Sinne von § 119 SGB III a.F.
Die Klägerin hat sich auch am 05.01.2012 mit Wirkung zum 10.01.2012 arbeitslos gemeldet und damit zu diesem Zeitpunkt der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt.
Bei der Arbeitslosmeldung handelt es sich um eine Tatsachenerklärung. Sie setzt die Beklagte davon in Kenntnis, dass der Leistungsfall der Arbeitslosigkeit droht und daher mit Vermittlungsbemühungen zu beginnen ist, um den Vorrang der Vermittlung zu wahren. Mit der Arbeitslosmeldung wird die Tatsache angezeigt, dass der Versicherte ab einem bestimmten Zeitpunkt arbeitslos ist (vgl. Behrend in Eicher/Schlegel, a.a.O., § 141, Rdnr. 25 f m.w.N.).
Im Regelfall wäre die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 10.01.2012 auf der Basis eines täglichen Bemessungsentgeltes von 29,50 € mit einen täglichen Leistungssatz von 13,98 € zugunsten der Klägerin auch zu Recht erfolgt, was in der Folge nach der befristeten Beschäftigung der Klägerin vom 16.01.2012 bis 15.07.2012 bei der Fa. Rodenstock mangels einer neuen Anwartschaft der Klägerin auf Arbeitslosengeld (vgl. § 142 Abs. 1 SGB III in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2011 – BGBl I 2854, im Folgenden nur: n.F.) zu einer Weiterbewilligung des am 10.01.2012 erworbenen Anspruchs ab 16.07.2012 führen würde.
Im hier zu entscheidenden Einzelfall ist die Klägerin jedoch ausnahmsweise aufgrund einer fehlerhaften Beratung der Klägerin anlässlich ihrer persönlichen Arbeitslosmeldung am 05.01.2012 mit Wirkung zum 10.01.2012 durch die Mitarbeiter der Agentur für Arbeit Z… im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches so zu stellen, als habe sie bei ordnungsgemäßer Beratung ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld erst ab 16.07.2012 geltend gemacht mit der Folge, dass auch die Bruttoarbeitsentgelte der Beschäftigung vom 16.01.2012 bis 15.07.2012 bei der Fa. R… beim Bemessungsentgelt zu berücksichtigen sind.
Zwar hat die Klägerin ausweislich der vorliegenden Beratungsvermerke bei ihrer Arbeitslosmeldung am 05.01.2012 lediglich mitgeteilt, dass sie bis 09.01.2012 bei der Fa. S… beschäftigt sei und zum 16.01.2012 ein neues Arbeitsverhältnis bei der Fa. R… beginne. Dafür, dass der Beklagten zu diesem Zeitpunkt bekannt war, dass die Klägerin ihre neue Beschäftigung ab 16.01.2012 in Vollzeit ausüben werde, liegen keine Nachweise vor.
Aufgrund der allgemein bekannten Tatsache, dass die Beschäftigten der Fa. S… in aller Regel Teilzeitarbeitsverhältnisse inne hatten und aufgrund der bereits am 05.01.2012 den Mitarbeitern der Agentur für Arbeit Z… bekannten zeitlichen Kürze des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für lediglich sechs Tage bis zur erneuten Beschäftigungsaufnahme am 16.01.2012 bestand jedoch zur Überzeugung des Senats im hier vorliegenden Einzelfall Anlass für eine Beratung der Klägerin, den Anspruch auf Arbeitslosengeld ab 10.01.2012 nicht geltend zu machen.
Gemäß § 14 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechten und Pflichten nach den Sozialgesetzbuch.
Diese allgemeine Beratungspflicht der Beklagten als Sozialleistungsträger umfasst im gegebenen Fall auch den Hinweis auf erkennbare Nachteile, die sich als Folge der Geltendmachung eines Sozialleistungsanspruches ergeben. Ein Arbeitsloser ist gegebenenfalls zu veranlassen, seinen Antrag auf Arbeitslosengeld zurückzustellen, wenn dies für ihn günstiger ist (vgl. Mrozynski, SGB I, 5. Auflage, § 14, Rdnr. 11 m.w.N.).
Insbesondere besteht ein konkreter Anlass für eine sogenannte Spontanberatung bei „klar zutage liegenden Gestaltungsmöglichkeiten“, deren Wahrnehmung ein verständiger Leistungsberechtigter mutmaßlich nutzen würde (vgl. Scholz in Mutschier, a.a.O., § 323, Rdnr. 9 m.w.N.).
Aus den o.g. Gründen bestand im hier vorliegenden Ausnahmefall Veranlassung für die Mitarbeiter der Agentur für Arbeit Z…, die Umstände der bekannten Vorbeschäftigung der Klägerin bei der Fa. S… und der gleichfalls bekannten Folgebeschäftigung bei der Fa. R… zu erfragen und der Klägerin insoweit die Konsequenzen einer Geltendmachung ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld ab 10.01.2012 aufzuzeigen.
Das SG hat in seinem Urteil vom 16.05.2013 zutreffend auf die vergleichbare gesetzliche Möglichkeit einer Verschiebung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld gemäß § 118 Abs. 2 SGB III a.F. hingewiesen. Auch hinsichtlich dieser Dispositionsmöglichkeit des Arbeitslosen über seinen Anspruch, die bis zum Erlass des Bescheides über die Bewilligung von Arbeitslosengeld ausgeübt werden kann, muss die Beklagte im Einzelfall umfassend aufklären und beraten.
Der Senat verweist insoweit auf die die Rechtslage völlig korrekt wiedergebende Geschäftsanweisung der Beklagten zu § 14 SGB I (Stand 05/2012), hier: Abschnitt 1.2, wonach die Beratung der Beklagten dem Einzelnen die Kenntnisse und Entscheidungsgrundlagen vermitteln solle, die er zur vollen Wahrnehmung seiner Rechte und zur korrekten Erfüllung seiner Pflichten benötige. Die Beratung müsse richtig, unmissverständlich und umfassend sein. Der Versicherungsträger sei gehalten, auf alle nahe liegenden Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, damit der Ratsuchende seine Entscheidung in voller Kenntnis aller Konsequenzen treffen könne. Die alleinige Aushändigung von Merkblättern reiche zur Erfüllung der Beratungspflicht nicht aus.
Aufgrund der oben dargelegten Verletzung der Beratungspflicht der Beklagten im vorliegenden Fall, die zu einem sozialrechtlichen Nachteil zu Lasten der Klägerin aufgrund der Fixierung der Höhe ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach ihrer (erneuten) Arbeitslosmeldung zum 16.07.2012 geführt hat, ist die Beklagte verpflichtet, im Wege des so genannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn sie ihre Beratungspflicht rechtmäßig erfüllt hätte (vgl. Scholz in Mutschler, a.a.O., § 323, Rdnr. 10).
Das SG hat die Beklagte somit zu Recht verpflichtet, der Klägerin Arbeitslosengeld ab 16.07.2012 unter Einbeziehung des ab 16.01.2012 bei der Fa. R… erzielten Bruttoarbeitsentgelts zu gewähren.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16.05.2013 ist nicht daher begründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (vgl. § 160 Abs. 2 SGG).

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