Aktenzeichen L 6 P 58/14
SGB XI SGB XI § 38a
SGB XI SGB XI § 43a
SGB XI SGB XI § 71 Abs. 4
SGB XI SGB XI § 123 Abs. 2 S. 1
SGB X SGB X § 31 S. 1
Leitsatz
Zu den Voraussetzungen der Gewährung von Pflegegeld nach der Übergangsregelung des § 123 SGB XI (verbesserte Pflegeleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter (amtlicher Leitsatz)
Die Auszahlung von Pflegegeld nach § 123 SGB X setzt auch für Versicherte ohne zuerkannte Pflegestufe (Pflegestufe 0) das Vorliegen von häuslicher Pflege im Sinne des Ersten Teils des Dritten Abschnitts des SGB XI voraus. (amtlicher Leitsatz)
Bei Unterbringung in einer Einrichtung der Behindertenhilfe nach § 43a i. V. m. § 71 Abs. 4 SGB XI liegt anders als bei Unterbringung in einer ambulant betreuten Wohngruppe i. S.v. § 38a SGB XI stationäre Unterbringung und keine häusliche Pflege vor. (amtlicher Leitsatz)
Tenor
I.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23. Juli 2014 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist nicht begründet.
Im Ergebnis zutreffend hat das SG die Klage auf ungekürzte Auszahlung des Pflegegeldes abgewiesen. Allerdings erweist sich die Klage nicht bereits als unzulässig. Dem Schreiben vom 09.09.2013 kommt auch ohne entsprechende Rechtsbehelfsbelehrung Regelungscharakter im Sinne des § 31 SGB X zu, da dort eine Entscheidung über die Höhe der Kürzung des dem Grunde nach bewilligten Pflegegeldes getroffen wurde. Aber selbst wenn man dieser Auffassung nicht folgen würde, wäre die Klage nicht unzulässig. Denn der Widerspruch vom 16.09.2013 richtet sich in der Sache nicht ausschließlich gegen die mit Schreiben vom 09.09.2013 konkret vorgenommene Leistungskürzung, sondern insgesamt gegen die Klarstellung, dass das mit Bescheid vom 08.01.2013 dem Grunde nach bewilligte Pflegegeld nur für Zeiten der häuslichen Pflege gezahlt werden kann. Der Rechtsbehelf des Klägers ist damit nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung dahingehend auszulegen, dass damit jedenfalls auch die mit Schreiben vom 21.01. sowie mit Bescheid vom 08.02.2013 insoweit vorgenommene Einschränkung angegriffen werden sollte. Da sich die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 15.10.2013 nicht auf die Unzulässigkeit des Widerspruchs aufgrund fehlender Verwaltungsaktqualität des Schreibens vom 09.09.2013 oder auf die Verfristung des Widerspruchs im Hinblick auf den Bescheid vom 08.02.2013 berufen, sondern eine Entscheidung in der Sache getroffen hat, wären etwaige Form- und Fristverletzungen damit geheilt (Meyer-Ladewig, SGG, 11. Auflage 2014, Rn. 7 zu § 84).
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf ungekürzte Auszahlung des Pflegegeldes in Höhe von Euro 120 (aktuell Euro 123) pro Monat zu, da ihm für die Zeit des Aufenthaltes im Wohnheim des E.-Sozialwerks ein Anspruch auf Pflegegeld nicht zusteht. Nach der Vorschrift des § 123 Abs. 1 SGB XI haben Versicherte, die wegen erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz die Voraussetzungen des § 45a SGB XI erfüllen, neben den Leistungen nach § 45b SGB XI bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungsverfahrens regelt, Ansprüche auf Pflegeleistungen nach Maßgabe der folgenden Absätze. Für Versicherte ohne Pflegestufe bestimmte sodann § 123 Abs. 2 Satz 1 SGB XI in der bis 31.12.2014 geltenden Fassung die folgenden monatlichen Ansprüche:
1. Pflegegeld nach § 37 in Höhe von 120 Euro oder
2. Pflegesachleistungen nach § 36 in Höhe von bis zu 225 Euro oder
3. Kombinationsleistungen aus den Nummern 1 und 2 (§ 38)
sowie Ansprüche nach den §§ 39 und 40.
Für den vorliegend vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Pflegegeld nach Ziff. 1 richten sich die weiteren Voraussetzungen damit nach § 37 SGB XI. Diese Vorschrift regelt den Anspruch auf Pflegegeld bei häuslicher Pflege für Versicherte, welche die Voraussetzungen einer Pflegestufe erfüllen. Leistungsberechtigt sind hierbei nur Pflegebedürftige der Pflegestufe I, II oder III, die häuslich gepflegt werden. Diese Voraussetzung gilt auch für Versicherte ohne Pflegestufe. Dies ergibt sich zum einen bereits aus der Verweisung des § 123 Abs. 2 Satz 1Nr. 1 SGB XI auf § 37 SGB XI, eine Vorschrift des dritten Abschnitts des ersten Titels des SGB XI (Leistungen der häuslichen Pflege). Dass eine Zahlung von Pflegegeld bei Aufenthalt in stationären Einrichtungen nicht in Betracht kommt, ergibt sich daneben auch aus dem Wortlaut des § 123 Abs. 1 Satz 1SGB XI. Dieser nimmt ausdrücklich Bezug auf „Versicherte, die … die Voraussetzungen des § 45a erfüllen“. § 45a regelt aber ausschließlich Leistungen an Pflegebedürftige in häuslicher Pflege (Udsching, SGB XI 4. Auflage 2015, Rn. 4 zu § 123; vgl. auch juris-PK, Rn. 7 zu § 123, „… bei häuslicher Pflege…“).
Letztlich wird der Bezug zur häuslichen Pflege auch durch die mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I) vom 17.12.2015 (BGBl. I 2222) mit Wirkung vom 01.01.2015 vorgenommene Erweiterung des § 123 Abs. 2 S. 1 SGB XI deutlich. Für Versicherte mit Pflegestufe 0 wurde dadurch die Möglichkeit geschaffen, Leistungen der Pflegeversicherung zur pflegerischen Versorgung und Betreuung über die rein häusliche Pflege hinaus auch in ambulant betreuten Wohngruppen, teilstationären Einrichtungen der Tages- und Nacht- und Kurzzeitpflege zu erhalten. Hierdurch wurden die Unterstützungsleistungen der Pflegeversicherung, die entsprechende Versicherte seit Inkrafttreten des PNG für die Betreuung und Versorgung nur in häuslicher Umgebung beanspruchen konnten, zweck- und bedarfsgerecht ergänzt (Kasseler Kommentar, Koch, Rn. 2a zu § 123 SGB XI). Würde § 123 SGB XI Ansprüche in dem vom Kläger verstandenen Sinne umfassend, d. h. auch für alle sonstigen, insbesondere auch alle stationären Pflegeformen gewähren, hätte es dieser Ergänzung nicht bedurft.
Aus all dem ergibt sich, dass § 123 Abs. 2 SGB XI keinen Anspruch auf Pflegegeld bei dauerhaftem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gewährt. Hierbei spielt der Umstand, dass für den Aufenthalt des Klägers im Wohnheim aufgrund fehlender Pflegebedürftigkeit derzeit keine Leistungen nach § 43a SGB XI durch die Beklagte erbracht werden, keine Rolle. Maßgeblich ist alleine, ob es sich bei dem Wohnheim um eine stationäre Einrichtung im Sinne von § 43a i. V. m. § 71 Abs. 4 SGB XI handelt. Dies ist nach der Auskunft des zuständigen überörtlichen Sozialhilfeträgers der Fall und wird auch auf der Internet-Präsenz des E.-Sozialwerks so bestätigt. Danach stellt das Wohnheim, in welchem sich der Kläger aufhält (A-Straße, A-Stadt), ein stationäres Wohnangebot für psychisch erkrankte Menschen dar (http://www. w.E.-s…de/…). Es handelt sich insbesondere nicht um die – ebenfalls vom E.-Sozialwerk angebotene – Sonderform einer im Wesentlichen organisatorisch selbstständigen ambulanten Wohngruppe im Sinne von § 38a SGB XI.
Ein Anspruch auf Pflegegeld besteht damit nur für Zeiten, in welchen sich der Kläger in häuslicher Pflege bei seinen Eltern befindet. Dass insbesondere die Mutter den Kläger auch unter der Woche des Öfteren besucht und hierbei möglicherweise auch Verrichtungen der Grundpflege erbringt, ändert nichts an der Tatsache, dass sich der Kläger in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe i. S. v. § 71 Abs. 4 SGB XI aufhält. Einen weitergehenden Anspruch vermag der Kläger auch nicht aus den Informationsschreiben der Beklagten aus dem Jahr 2012 herzuleiten, da diese keine Verwaltungsakte darstellen. Auch die mit Bescheid vom 08.01.2013 vorgenommene Bewilligung von Pflegegeld dem Grunde nach steht nicht entgegen, da bei einem anteiligen Ruhen wegen stationärem Aufenthalt in einer Einrichtung nach § 71 Abs. 4 SGB XI die anteilige Kürzung des Pflegegeldes gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist, vgl. §§ 34 Abs. 2 S. 1 2. HS, § 37 Abs. 2 S. 1 SGB XI. Letztlich geht auch der Verweis der Klägerbevollmächtigten auf das Gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen zu § 38 SGB XI fehl, da der Kläger gerade keine Kombinationsleistungen im Sinne dieser Vorschrift in Anspruch nimmt.
Die Berufung ist demnach als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.