Aktenzeichen 3 Ws 1320/19, 3 Ws 1321/19, 3 Ws 1322/19, 3 Ws 1323/19, 3 Ws 1324/19, 3 Ws 1325/19
Leitsatz
Die Prüfung des dringenden Tatverdachts erfolgt ausschließlich auf der Grundlage des gegenwärtigen Stands der Ermittlungen, weshalb ein zur Anklageerhebung erforderlicher hinreichender Tatverdacht noch nicht gegeben sein muss. Beweistechnische Gesichtspunkte, etwa betreffend die Aufwändigkeit und Schwierigkeit weiterer erforderlicher Ermittlungen, können daher bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts berücksichtigt werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
33 Gs 1742/19 jug. 2019-12-09 AGAUGSBURG AG Augsburg
Tenor
1. Auf die weitere Haftbeschwerde der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 23.12.2019 werden die Beschlüsse der Jugendkammer des Landgerichts Augsburg vom 23.12.2019 aufgehoben.
2. Die Haftbefehle des Amtsgerichts Augsburg vom 09.12.2019 bleiben aufrechterhalten. Für die Beschuldigten A. L1. S., Y. A…, G. A., J… B… S., K. C. und E. C. G… wird die Untersuchungshaft angeordnet.
3. Die Beschuldigten haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens und ihre hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
I.
Die Beschuldigten befanden sich nach ihrer Festnahme seit dem 09.12.2019 aufgrund von Haftbefehlen des Amtsgerichts Augsburg vom 09.12.2019, allen Beschuldigten an diesem Tag eröffnet, ununterbrochen in Untersuchungshaft. In den auf die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie der Tatschwere gestützten Haftbefehlen wird ihnen Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt.
Die Beschuldigten haben gegen den jeweiligen Haftbefehl Haftbeschwerde eingelegt, der Beschuldigte L1. S… mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 10.12.2019, der Beschuldigte A. Y. mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 12.12.2019, der Beschuldigte C… mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 11.12.2019, der Beschuldigte S1. mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 12.12.2019, der Beschuldigte A. G. mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 12.12.2019 und der Beschuldigte G. mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 13.12.2019.
Das Amtsgericht Augsburg hat den Haftbeschwerden am 13.12.2019 bzw. hinsichtlich des Beschuldigten … am 16.12.2019 nicht abgeholfen.
Mit Beschlüssen der Jugendstrafkammer des Landgerichts Augsburg vom 23.12.2019 wurden die angegriffenen Haftbefehle des Amtsgerichts Augsburg vom 09.12.2019 aufgehoben und die Beschuldigten aus der Haft entlassen.
Der hiergegen von der Staatsanwaltschaft Augsburg eingelegten weiteren Haftbeschwerde vom 23.12.2019, bei Gericht eingegangen an diesem Tag, wurde mit Entscheidung des Landgerichts Augsburg vom 23.12.2019 nicht abgeholfen.
Die Staatsanwaltschaft hat mit Verfügung vom 27.12.2019 eine ergänzende Beschwerdebegründung abgegeben, die den Verteidigern am 27.12.2019 morgens per Fax übersandt wurde.
II.
Die weitere Haftbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist statthaft und im Übrigen zulässig (§§ 304 Abs. 1, 306 Abs. 1, 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO) und hat auch in der Sache Erfolg.
Die Beschuldigten sind der in den jeweiligen Haftbefehlen des Amtsgerichts Augsburg vom 09.12.2019 bezeichneten Taten dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus der Gesamtschau der bisher durchgeführten Ermittlungen, den Erkenntnissen aus den verschiedenen Videoaufzeichnungen, dem vorläufigen Sektionsergebnis des Instituts für Rechtsmedizin, den Aussagen der Zeugen V… D…, T… R… und des Geschädigten C. M….
Ein dringender Tatverdacht ist dann gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer rechtswidrig und schuldhaft begangenen Straftat ist. Die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung setzt der Begriff des dringenden Tatverdachts nicht voraus, es genügt vielmehr die bloße Möglichkeit der Verurteilung. Die Prüfung des dringenden Tatverdachts erfolgt ausschließlich auf der Grundlage des gegenwärtigen Stands der Ermittlungen, weshalb ein zur Anklageerhebung erforderlicher hinreichender Tatverdacht noch nicht gegeben sein muss (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 112 Rn. 5 f. m. w. N.). Beweistechnische Gesichtspunkte, etwa betreffend die Aufwändigkeit und Schwierigkeit weiterer erforderlicher Ermittlungen, können daher bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts berücksichtigt werden.
Nach diesem Maßstab besteht hier hinsichtlich aller sechs Beschuldigter der dringende Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag zum Nachteil des Getöteten R… S… in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten C. M.
Hinsichtlich des zugrunde liegenden Sachverhalts nimmt der erkennende Senat zunächst Bezug auf die Haftbefehle des Amtsgerichts Augsburg vom 09.12.2019 und den polizeilichen Ermittlungsbericht vom 17.12.2019. Soweit das Landgericht Augsburg in den angegriffenen Beschlüssen den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten zerlegt und auf dieser Grundlage einen dringenden Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag verneint, berücksichtigt es in prozessualer Hinsicht nicht ausreichend den vorläufigen Charakter der Prüfung des dringenden Tatverdachts und in tatsächlicher Hinsicht nicht hinlänglich das besondere gruppendynamische Gepräge des Tatgeschehens.
Sowohl aus den Aussagen polizeilich befragter Zeugen als auch aus den vom erkennenden Senat in Augenschein genommenen Videoaufzeichnungen zum Vortat- und Tatgeschehen erschließt sich mit für die Begründung eines dringenden Tatverdachts ausreichender Deutlichkeit, dass die Beschuldigten unmittelbar vor der Tat im öffentlichen Raum in einer provozierenden und für Außenstehende bedrohlich wirkenden Weise als Gruppe aufgetreten sind. Dieses gruppendynamische Verhalten setzt sich im eigentlichen Tat- und Nachtatgeschehen fort, indem die Beschuldigten das spätere Opfer, den Getöteten S., zunächst in ihre Mitte nehmen und bedrängen, sich nach dem vom Beschuldigten H1. S1. geführten Faustschlag gemeinsam von dem zu Boden gestürzten Opfer entfernen und den Geschädigten C. M… sowie die Zeuginnen D1. S1. und N. M., die dem am Boden liegenden schwer verletzten Geschädigten R. S1. zur Hilfe eilen wollen, abdrängen, den Geschädigten M. angreifen und sich schließlich gemeinsam vom Tatort entfernen.
Bei einer Gesamtbetrachtung wird das vom Landgericht vorgenommene Zerlegen des Geschehens in zahlreiche Einzelakte individueller Verdächtiger dem Tatbild nicht gerecht. Die von den Beschuldigten ausgehende Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit, die sich in den verfahrensgegenständlichen Straftaten realisiert hat, kann nicht allein durch eine isolierte Betrachtung und Würdigung individueller Handlungen erfasst werden, sondern bedarf außerdem einer sorgfältigen Berücksichtigung der Besonderheiten des Auftretens als Gruppe. So wohnt dem Handeln aus Personenvereinigungen heraus nach kriminologischer Erfahrung eine besondere Eigendynamik, Gefährlichkeit und soziales Konfliktpotenzial inne, was den Gesetzgeber wiederholt bewogen hat, spezifische Straftatbestände zu schaffen, die das Handeln aus Gruppen heraus besser erfassen. Darüber hinaus lässt das Handeln aus Personenvereinigungen heraus besondere Rückschlüsse darauf zu, ob und wie weit Beschuldigte Handlungen anderer Gruppenmitglieder billigen und durch ihre Präsenz fördern (vgl. zur psychischen Beihilfe durch Anwesenheit am Tatort BGH NStZ 1995, 490, 491; 2012, 347, 348; 2014, 351; zum Handeln in einem größeren Organisationsgefüge BGH NStZ 2017, 158). Schon das Auftreten als Teil einer Gruppe kann dabei über eine – grundsätzlich straflose – bloße Anwesenheit am Tatort hinausgehen und eine die Haupttat fördernde Wirkung haben. Das für eine Teilnahme unabdingbare Handeln kann ferner im Vorfeld der Tat liegen oder in einer von mehreren Beteiligten seit längerem praktizierten und eingespielten Übung bestehen. Ob die Beschuldigten hier – was das Landgericht in den angegriffenen Beschlüssen verneint – das spätere Opfer vor dem Faustschlag regelrecht „umzingelt“ haben oder einzelne Beschuldigte zum Zeitpunkt des Faustschlags einige Schritte abseits gestanden haben, ist vor diesem Hintergrund für die Frage des dringenden Tatverdachts einer Beihilfe zum Totschlag nicht allein entscheidend.
Im weiteren Fortgang der Ermittlungen wird daher der Frage, welche besondere Verbundenheit zwischen den Beschuldigten bestanden hat, namentlich ob und wie weit die einzelnen Beschuldigten bereit waren, durch das Auftreten als Gruppe hervorgerufene soziale Konflikte und daraus resultierende weitere Schädigungshandlungen zu billigen und mitzutragen, eine entscheidende Bedeutung zukommen. Aufgrund des derzeitigen Stands der Ermittlungen lässt sich diese Frage noch nicht abschließend beurteilen, sondern sind weitere Ermittlungen zum Vorfeld der Tat und dem Hintergrund und Charakter der Gruppenbildung erforderlich. Nach Aktenlage, insbesondere aufgrund der im polizeilichen Zwischenbericht vom 17.12.2019 dargestellten Erkenntnisse, besteht aber bereits die Möglichkeit, dass sich der bestehende Verdacht der Beihilfe zum Totschlag durch weitere Ermittlungen erhärtet und die Beschuldigten entsprechend verurteilt werden.
Bei den Beschuldigten bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, der Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 1 Nr. 3 StPO und der besondere Haftgrund der Tatschwere gemäß § 112 Abs. 3 StPO. Ein Totschlag stellt eine Katalogtat nach § 112 Abs. 3 StPO dar. Ferner müssen als Voraussetzung der Haft Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme der Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann bereits ausreichen. Ein Fluchtverdacht und ein Verdunkelungsanreiz können im vorliegenden Verfahren nicht ausgeschlossen werden.
Die Beschuldigten, von denen Lxx Sxx und G… A… zur Tatzeit Jugendliche, die Übrigen Heranwachsende waren, haben angesichts des Tatvorwurfs der Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, wobei insbesondere die gravierenden Verletzungsfolgen zu berücksichtigen sind, im Falle einer Verurteilung – auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht – mit Freiheitsentzug zu rechnen, der nicht mehr zu Bewährung ausgesetzt werden kann. Hiervon geht ein hoher Fluchtanreiz aus, dem keine ausreichenden Bindungen der Beschuldigten gegenüberstehen.
Es steht daher zu befürchten, dass sich die Beschuldigten absetzen oder untertauchen, um sich dem weiteren Verfahren zu entziehen, wenn sie auf freien Fuß kämen.
Im Übrigen wird auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft Augsburg in der ergänzenden Beschwerdebegründung vom 27.12.2019, dort Ziffer IV., Bezug genommen.
Bei den jugendlichen Beschuldigten kommen mildere Maßnahmen nach § 72 JGG nicht in Betracht. Der Zweck der Untersuchungshaft kann durch keine anderen Maßnahmen erreicht werden.
Für eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 Abs. 1 StPO) fehlt es aus denselben Gründen an einer ausreichenden Vertrauensgrundlage. 3 Ws 1320/19 – Seite 6 – Angesichts der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe ist die Untersuchungshaft verhältnismäßig (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO). Hier ist zu sehen, dass auch noch der Verdacht einer fahrlässiger Körperverletzung zum Nachteil der Geschädigten D2. S2. und einem besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs im Raume steht.
Die Beschlüsse der Jugendkammer des Landgerichts Augsburg waren daher aufzuheben.
Auf die Frage der Auswirkungen des Näheverhältnisses zwischen einer Beisitzerin und einem Beamten der Staatsanwaltschaft kam es für das Beschwerdeverfahren nicht an.
Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §§ 464, 465 StPO (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 473 Rn. 15)