Aktenzeichen 2 Ws 839/19
StPO § 306 Abs. 1, § 307 Abs. 1, 311 Abs. 2, § 462 Abs. 3, § 463 Abs. 6 S. 1, § 467 Abs. 1
Leitsatz
1. Die Entscheidung gem. § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB über den Nichtweitervollzug der Maßregel entfaltet unmittelbare Außenwirkung und ist bereits mit Erlass zu vollziehen. Dies ergibt sich aus den Vorschriften der §§ 307 Abs. 1, 463 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 462 Abs. 3 Satz 2 StPO, wonach bei einer Entscheidung nach § 67d Abs. 5 StGB nur die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufschiebende Wirkung hat (entgegen OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 26.09.2006 – 3 Ws 907/06, BeckRS 2006, 11785). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Verurteilte befindet sich mit Erledigterklärung der Unterbringung bis zu seiner Verlegung in den Vollzug der Freiheitsstrafe in „Organisationsunterbringung“. Diese Zeit ist nach allgemeinen Grundsätzen auf die Restfreiheitsstrafe anzurechnen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
2 NöStVK 399/17 — LGAUGSBURG LG Augsburg
Tenor
I. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten T… K… wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen vom 18.04.2019 aufgehoben.
II. Die Zeit der Organisationsunterbringung des Verurteilten im Bezirkskrankenhaus Günzburg ab dem 01. November 2018 bis zur Aufnahme des Verurteilten zur Strafvollstreckung in die Justizvollzugsanstalt Kaisheim am 16. November 2018 wird auf den noch zu verbüßenden Strafrest der Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts München vom 07.05.2015 nach Maßgabe des Berufungsurteils des Landgerichts München I vom 08.12.2015 angerechnet.
III. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten.
Gründe
I.
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 07.05.2015, Az. 831 Ls 267 Js 188906/14, rechtskräftig seit 05.03.2016, wurde der Verurteilte nach Maßgabe des Berufungsurteils des Landgerichts München I vom 08.12.2015, Az. 23 Ns 267 Js 188906/14, unter Einbeziehung der im Verfahren des Amtsgerichts München 1111 Ds 369 Js 172903/14 verhängten Einzelfreiheitsstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Daneben wurden die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt und ein Vorwegvollzug von einem Jahr Freiheitsstrafe angeordnet.
Der Verurteilte befindet sich nunmehr seit dem 18.06.2014 in Haft bzw. in Unterbringung, u.a. aufgrund oben genannten Urteils. Zuletzt befand sich der Verurteilte vom 03.07.2017 bis zum 16.11.2018 im Bezirkskrankenhaus Günzburg Klinik für Forensische Psychiatrie, seit dem 16.11.2018 in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim. Der Verlegung vorausgegangen war ein Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 31.10.2018, rechtskräftig seit 19.12.2018, mit dem die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt aufgrund oben genannten Urteils für erledigt erklärt und gleichzeitig die weitere Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts München I vom 08.12.2015 sowie eines weiteren „Urteils des Landgerichts München I vom 02.09.2015, Az. 26 Ns 464 Js 195271/13, in Verbindung mit dem Urteil des Amtsgerichts München vom 14.07.2014, Az. 821 Ds 195271/13“, nicht zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Mit Schreiben vom 28.01.2019 beantragte der Verurteilte, die „15 Tage vom 01.11.2018 – 16.11.2018“ auf seine aktuelle Haftzeitübersicht anzurechnen, da diese „im Abbruch eine Freiheitsentziehende Maßnahme war“.
Die Staatsanwaltschaft führte in einem Vermerk vom 28.03.2019 inhaltlich aus, dass der Strafbeginn auf den 12.11.2018 vorverlegt worden sei, da der Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 31.10.2018 an diesem Tag bei der Staatsanwaltschaft eingegangen sei. Die Zeit vom 02.11.2018 bis zum 11.11.2018 könne nicht auf die Strafhaft im Verfahren 267 Js 188906/14 angerechnet werden. Der Beschluss vom 31.10.2018 sei erst am 19.12.2018 rechtskräftig geworden. Eine frühere Verschubung sei lediglich wegen Nr. 44.3 der WBayMRVG erfolgt. Veranlasst habe diese erst werden können, sobald der Beschluss am 12.11.2018 bei der Vollstreckungsbehörde eingegangen sei. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sich der Verurteilte noch im Maßregelvollzug befunden. Eine weitere Anrechnung des Maßregelvollzugs auf die Strafe habe nicht erfolgen können, weil die Zeit im Maßregelvollzug gemäß § 67 Abs. 4 StGB nur mit bis zu 2/3 der Strafe anrechenbar sei. Der 2/3-Zeitpunkt sei am 01.11.2018 gewesen. Bei der Zeit vom 02.11.2018 bis 11.11.2018 habe es sich auch nicht um sog. Organisationshaft gehandelt, da als solche nur der Zeitraum gewertet werden könne, der ab dem Eintritt der Urteilsrechtskraft bis zum tatsächlichen Unterbringungsbeginn verstreiche. Dem Vermerk beigefügt war eine Strafzeitberechnung. Das Strafende ist dort für den 30.10.2020 vermerkt.
Die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen hat den Antrag des Verurteilten mit Beschluss vom 18.04.2019, dem Verurteilten zugestellt am 25.04.2019, zurückgewiesen. Zur Begründung verwies sie im Wesentlichen auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft München I.
Der Verurteilte hat mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 02.05.2019, bei Gericht eingegangen am selben Tag, sofortige Beschwerde gegen den Beschluss vom 18.04.2019 eingelegt. In der Beschwerdebegründung vom 11.07.2019 führte die Verteidigerin aus, bei der Akte habe sich keine Strafzeitberechnung o.ä. befunden, der sie hätte entnehmen können, dass der Weitervollzug der Restfreiheitsstrafen auf den 12.11.2018 vorverlegt worden sei. Die sogenannte umgekehrte Organisationshaft über den 2/3-Zeitpunkt hinaus hätte aus verfassungsrechtlich verankerten Prinzipien im Bereich des Freiheitsgrundrechts angerechnet werden müssen. Bei Kumulierung von Maßregel und Strafe dürfe die Freiheitsentziehung im Ganzen nicht übermäßig sein. Anrechnungsausschlüsse dürften nicht ohne Beziehung zu Grund und Ziel der freiheitsentziehenden Maßregel erfolgen. Eine Therapie sei nach der Erledigungsentscheidung nicht mehr erfolgt, vielmehr sei der Verurteilte in der Maßregeleinrichtung nurmehr verwahrt worden. Die lange Zeit bis zu seiner Verlegung in die JVA sei allein auf die extrem lange Zeitdauer zurückzuführen, die die Übermittlung des Erledigungsbeschlusses in Anspruch genommen habe.
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Vorlageschreiben vom 05.08.2019 beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss vom 18.04.2019 ist statthaft (§ 462 Abs. 3 StPO) und auch im Übrigen zulässig (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO). Auch in der Sache hat sie Erfolg.
Die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt wurde durch Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 31.10.2018 gemäß § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB für erledigt erklärt, da die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 StGB nicht mehr vorlagen. Diese Entscheidung über den Nichtweitervollzug der Maßregel entfaltete nach Rechtsauffassung des Senats unmittelbare Außenwirkung und war bereits mit Erlass zu vollziehen. Dies ergibt sich aus den Vorschriften der §§ 307 Abs. 1, 463 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 462 Abs. 3 Satz 2 StPO, wonach bei einer Entscheidung nach § 67d Abs. 5 StGB nur die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufschiebende Wirkung hat.
Die entgegenstehende Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt (NStZ-RR 06, S. 387 f) überzeugt nicht. Anders als bei einer Entscheidung über beispielsweise den Widerruf einer Bewährung wird dem Verurteilten durch den sofortigen Vollzug der noch nicht rechtskräftigen Entscheidung nach § 67d Abs. 5 StGB nicht die Freiheit entzogen. Vielmehr befindet er sich bereits im freiheitsentziehenden Maßregelvollzug und wird von dort in die Strafhaft in die Justizvollzugsanstalt verbracht. Die Folgen eines sofortigen Vollzugs einer im weiteren Verlauf geänderten Entscheidung gemäß § 67d Abs. 5 StGB wären mit einer zweimaligen ungerechtfertigten Verschubung verhältnismäßig geringfügig und sind nicht vergleichbar mit dem sofortigen Vollzug einer Widerrufsentscheidung oder eines Urteils, für das in § 449 StPO ausdrücklich geregelt ist, dass es vor Eintritt der Rechtskraft nicht vollstreckbar ist. Es besteht deshalb kein Grund, von dem klaren Gesetzeswortlaut des § 307 Abs. 1 StPO abzuweichen.
Der sofortige Vollzug der Entscheidung ist auch aus tatsächlichen Erwägungen angezeigt. Dieser liegt zum einen im Interesse der Maßregelvollzugseinrichtung, die eine schnelle Verlegung von „Abbrechern“ im Interesse des Therapiekonzepts und der Therapie der Mituntergebrachten begrüßen dürfte. Aus diesen Gründen findet auch eine Therapie des „Abbrechers“ nach Erledigterklärung der Maßregel in der Maßregelvollzugseinrichtung in aller Regel nicht mehr statt. Zum anderen ergibt sich aus Nr. 44.3 der WBayMRVG, dass auch aufgrund der angenommenen Gefährlichkeit von Therapieabbrechern so schnell wie möglich eine Rückführung in die Strafhaft erfolgen soll.
Vorliegend trägt die Argumentation der Staatsanwaltschaft auch schon deshalb nicht, weil diese ohnehin nicht die Rechtskraft der Entscheidung vom 31.10.2018 am 19.12.2018 abgewartet hat, bevor sie den Verurteilten am 16.11.2018 in die JVA zurückführte. Dies zeigt, dass auch sie nicht von einer aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels des Verurteilten ausgegangen ist. Zwar führt sie aus, die Verlegung habe alleine aufgrund Nr. 44.3 der WBayMRVG, also die angenommene Gefährlichkeit von Therapieabbrechern beruht. Diese tatsächlichen Erwägungen ändern aber nichts daran, dass die Verlegung nicht hätte erfolgen dürfen, wenn aus rechtlichen Gründen die Rechtskraft der Entscheidung hätte abgewartet werden müssen. Konsequent zu Ende geführt heißt die Berufung auf Nr. 44.3 der WBayMRVG auch, dass eine Rückführung zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen sollte, der vorliegend aus organisatorischen Gründen (Postlauf, Geschäftsgang) erst am 16.11.2018 war. Damit war der Zeitpunkt der Rückführung aber durch organisatorische Gegebenheiten bestimmt und nicht aus Rechtsgründen gewählt. Genau dies beschreibt der Begriff der „Organisationshaft“ bzw. „Organisationsunterbringung“.
Nach alldem befand sich der Verurteilte in der Zeit nach der im Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 31.10.2018 ausgesprochenen Erledigterklärung der Unterbringung bis zu seiner am 16.11.2018 erfolgten Verlegung in den Vollzug der Freiheitsstrafe in „Organisationsunterbringung“. Diese Zeit ist nach allgemeinen Grundsätzen auf die Restfreiheitsstrafe anzurechnen. Zwar lässt sich den Ausführungen der Staatsanwaltschaft in dem Vermerk vom 28.03.2019 und der ihm angehängten Vollstreckungsübersicht entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft ohnehin von einem Weitervollzug bereits ab dem 12.11.2018 ausgeht. Der weitere Zeitraum bis zum 16.11.2018 wurde jedoch zur Klarstellung in den Tenor aufgenommen, da im Tenor des Beschlusses vom 18.04.2019 auch der sich auf diesen Zeitraum beziehende Antrag zurückgewiesen wurde und die Vollzugsübersichten der JVA Kaisheim weiterhin den 16.11.2018 als Zeitpunkt der Weitervollstreckung nennen. Entsprechendes gilt für den 01.11.2018, der auch nach Auffassung der Staatsanwaltschaft auf die Strafe anzurechnen ist (allerdings gemäß § 67 Abs. 4 StGB), auch hier wurde der Antrag aber im Beschluss zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 467 Abs. 1 StPO analog.