Strafrecht

Definition der selbstständigen prozessualen Tat nach fristauslösendem Haftbefehl

Aktenzeichen  1 Ws 149/18 H

Datum:
16.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 11009
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 121 Abs. 1, § 122 Abs. 1, § 264

 

Leitsatz

1. Neue selbstständige prozessuale Taten, die nach Erlass des bestehenden und vollzogenen Haftbefehls bekannt werden und die der Beschuldigte vor Erlass des vollzogenen fristauslösenden Haftbefehls begangen haben soll, gehören nicht zu „derselben Tat“ und können daher, wenn sie Gegenstand eines erweiterten und vollzogenen Haftbefehls geworden sind, trotz der Zugehörigkeit der Tat zu einer Serie gleichgerichteter Taten einen neuen Fristenlauf auslösen (im Anschluss an OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.06.2016, Az. 1 Ws 257/16 H, StraFo 2016, Heft 11/2016; StV, Heft 7/2017). (Rn. 5)
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Beginn der neuen Sechs-Monatsfrist ist nicht der Erlass oder die Erweiterung des Haftbefehls, sondern die Erlassreife hinsichtlich der neuen haftrelevanten Tat(en), also der Zeitpunkt, in dem der einfache Tatverdacht sich zum dringenden verdichtet hat. (Rn. 5)
3. Dieser Zeitpunkt ist nicht notwendig derjenige, zu dem die letzten Beweismittel vorlagen. Bilden diese erst eine ausreichend tragfähige Grundlage für die Kriminalpolizei, alle bereits vorliegenden Erkenntnisse in einer Gesamtschau in den Blick zu nehmen und so zu bewerten, dass die einzelnen Taten konkret festgestellt und dem Beschuldigten seine eigenen Tatbeiträge sicher zugeordnet werden konnten, ist den Strafverfolgungsbehörden bei einem enormen Umfang des Verfahrens ein Zeitraum von drei Wochen zuzubilligen (Fortführung von OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.12.2015, Az. 1 Ws 585/15 H, betreffend die Möglichkeit der fiktiven Bestimmung eines späteren maßgeblichen Zeitpunktes). (Rn. 8)

Tenor

Eine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft ist nicht veranlasst.

Gründe

I.
Der Beschuldigte befindet sich in dieser Sache seit dem 10.11.2017 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der zunächst bestehende Haftbefehl des Amtsgerichts Fürth vom 09.11.2017 umfasste lediglich zwei Taten betreffend den Zeitraum 14. bis 16.08.2017. Der Beschuldigte soll bei verschiedenen Banken ausgefüllte Überweisungsträger aus den dafür vorgesehenen Kästen entnommen, diese abfotografiert und anschließend neue Überweisungsträger mit den erlangten Daten und der gefälschten Unterschrift eingeworfen haben, um die Banken zu Überweisungen auf von dem Beschuldigten angegebene, teilweise unter Alias-Personalien eröffnete Konten zu veranlassen. Am 10.04.2018 hat das Amtsgericht Fürth einen dem aktuellen Verfahrensstand angepassten Haftbefehl erlassen, dem Beschuldigten eröffnet am 17.04.2018. Die dortigen Fälle 1 und 2 entsprechen dem ursprünglichen Tatvorwurf; darüber hinaus enthält dieser Haftbefehl jetzt 64 weitere vergleichbare Taten, betreffend den Zeitraum 12.09.2016 bis 09.11.2017.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat die Akten mit Schreiben vom 26.04.208 über die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg zum Zwecke der Haftprüfung dem Senat vorgelegt, ist aber der Auffassung, dass eine Entscheidung des Senats über die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht veranlasst sei, nachdem sich aufgrund der im Haftbefehl vom 10.04.2018 neu erfassten Taten der Prüfungstermin verschoben habe.
II.
Das Oberlandesgericht hat nicht nach §§ 121, 122 StPO über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden, da die Sechs-Monatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO noch nicht abgelaufen ist.
Die weiteren in den Haftbefehl vom 10.04.2018 aufgenommenen Taten führen trotz der Zugehörigkeit der Tat zu einer Serie gleichgerichteter Taten dazu, dass sich der Prüfungstermin für die oberlandesgerichtliche Haftprüfung auf den 20.08.2018 verschiebt.
1. Der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat ist nach § 121 StPO grundsätzlich auf sechs Monate beschränkt und nach Ablauf dieser Frist aufzuheben, wenn das Oberlandesgericht nicht die Haftfortdauer anordnet. Um eine Reservehaltung von Haftgründen oder Haftbefehlen zum Unterlaufen der Frist auszuschließen, ist der Tatbegriff bei § 121 StPO weiter zu fassen als die Tat i. S. v. § 264 StPO. Der Normzweck der Begrenzung der Untersuchungshaft wird dadurch effektiv gewährleistet, dass zum Tatbegriff alle Taten rechnen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des vollzogenen Haftbefehls bekannt waren. Dieser Konsequenz dürfen sich die Verfolgungsbehörden nicht dadurch entziehen, dass sie (zunächst) davon absehen, den Erlass eines „Überhaft-Haftbefehls“ herbeizuführen, und diesen erst bei Herannahen des Endes einer in anderer Sache verbüßten Haft beantragen (BVerfG StV 2006, 251). Ein sogenanntes Aufsparen („Vorrätighalten“) von Tatvorwürfen (während anderweitig laufender Haft) für einen zusätzlichen Haftbefehl zulasten des Beschuldigten ist unzulässig. Neue selbstständige prozessuale Taten, die nach Erlass des bestehenden und vollzogenen Haftbefehls bekannt werden und die der Beschuldigte vor Erlass des vollzogenen fristauslösenden Haftbefehls begangen haben soll, gehören aber nicht zu „derselben Tat“ und können daher, wenn sie Gegenstand eines erweiterten und vollzogenen Haftbefehls geworden sind, trotz der Zugehörigkeit der Tat zu einer Serie gleichgerichteter Taten einen neuen Fristenlauf auslösen (im Anschluss an OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.06.2016, Az. 1 Ws 257/16 H, StV 2017, 457; KK-Schultheis, StPO, 7. Aufl., § 121 Rn. 10, 11 m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 121 Rn. 14). Maßgeblicher Zeitpunkt für den Beginn der neuen Sechs-Monatsfrist ist nicht der Erlass oder die Erweiterung des Haftbefehls, sondern die Erlassreife hinsichtlich der neuen haftrelevanten Tat(en), also der Zeitpunkt, in dem der einfache Tatverdacht sich zum dringenden verdichtet hat.
2. Dies zu Grunde gelegt verschiebt sich vorliegend der Prüfungszeitpunkt für die oberlandesgerichtliche Haftprüfung auf den 20.08.2018.
Dem Haftbefehl des Amtsgerichts Fürth vom 10.04.2018 liegen 64 neue Taten zu Grunde, welche noch nicht Gegenstand des früher bestehenden Haftbefehls des Amtsgerichts Fürth vom 09.11.2017 waren. Dabei handelt es sich um selbständige prozessuale Straftaten, die nachträglich, nach Erlass des zum damaligen Zeitpunkt vollzogenen Haftbefehls vom 09.11.2017 bekannt geworden sind. Die Zugehörigkeit zur bis zur Festnahme des Beschuldigten andauernden Serie gleichgerichteter Straftaten hindert das Auslösen einer neuen Haftprüfungsfrist aus den oben dargelegten Gründen nicht. Die neuen Taten sind weiterhin so erheblich, dass Haftrelevanz gegeben ist.
In Folge dessen beginnt eine neue Sechs-Monatsfrist zu dem Zeitpunkt zu laufen, mit welchem ein auf den zusätzlichen Taten beruhender Haftbefehl hätte erwirkt werden können. Vorliegend handelt es sich um eine über das Bundesgebiet verstreute Serie gleichgerichteter Taten im Zeitraum vom 12.09.2016 bis zum 09.11.2017 mit mehreren Beteiligten und unterschiedlicher Rollenverteilung. Die letzten Aussagen der Mitbeschuldigten datieren auf den 09.01.2018 und den 24.01.2018 (Mitbeschuldigter R.-C2 V1) und auf den 30.01.2018 (Mitbeschuldigter F. S1). Insbesondere hat der Mitbeschuldigte F. S1 am 30.01.2018 detaillierte Angaben gemacht zum Umfeld des Beschuldigten, zu dessen Vorgehensweise bei der Ausführung der Taten und dessen die sonstigen Beteiligten beherrschende Rolle sowie auf ihm vorgelegten Lichtbildaufnahmen den Beschuldigten identifiziert. Dies bildete eine ausreichend tragfähige Grundlage für die Kriminalpolizei, alle bereits vorliegenden Erkenntnisse in einer Gesamtschau in den Blick zu nehmen und so zu bewerten, dass die einzelnen Taten konkret festgestellt und dem Beschuldigten seine eigenen Tatbeiträge sicher zugeordnet werden konnten. Dafür war den Strafverfolgungsbehörden angesichts des enormen Umfangs des Verfahrens ein Zeitraum von drei Wochen zuzubilligen (zur Möglichkeit der fiktiven Bestimmung eines späteren maßgeblichen Zeitpunktes vgl. bereits OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.12.2015, Az. 1 Ws 585/15 H).
Maßgeblicher Zeitpunkt ist damit nicht die letzte Aussage des Mitbeschuldigten F. S1 vom 30.01.2018, sondern der geschätzte Abschluss der erforderlichen Auswertung drei Wochen später am 20.02.2018. Ab diesem Tage hätte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Haftbefehlserweiterung bezüglich der weiteren Fälle betreiben können.
Damit beginnt am 20.02.2018 eine neue Sechs-Monatsfrist zu laufen, so dass sich der Prüfungszeitpunkt für die oberlandesgerichtliche Haftprüfung auf den 20.08.2018 verschiebt. Die Sache ist somit an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zurückzugeben.

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