Aktenzeichen 11 CS 17.1318
FeV FeV § 11 Abs. 8, § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, § 46 Abs. 1 Satz 1, Nr. 9.1, 9.2.1, 9.2.2 und 9.4 der Anlage 4
Leitsatz
1 Bei einem gelegentlichen Cannabiskonsumenten liegen nicht schon dann Erkenntnisse vor, die die Annahme begründen würden, dass er gleichzeitig Cannabis und psychoaktiv wirkende Arzneimittel oder andere psychoaktiv wirkende Stoffe einnimmt, weil er solche Mittel im sog. „Darknet“ bestellt hat. (redaktioneller Leitsatz)
2 Der bloße Besitz solcher Stoffe würde die Fahrerlaubnisbehörde aber auch ohne weitere Anhaltspunkte für deren missbräuchliche Einnahme nicht berechtigen, ein ärztliches Gutachten anzuordnen, denn eine mit § 14 Abs. 1 S. 2 FeV vergleichbare Ermessensvorschrift hinsichtlich psychoaktiver Arzneimittel und Stoffe existiert nicht, woraus zu folgern ist, dass der bloße Besitz dieser Stoffe, im Gegensatz zum Besitz von Betäubungsmitteln, für behördliche Maßnahmen nicht ausreichend ist. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 7 S 17.652 2017-06-16 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 16. Juni 2017 wird in Nummer I aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nummer 1 und 2 des Bescheids des Landratsamts G. vom 28. April 2017 wird wiederhergestellt.
II. Unter Abänderung der Nummer II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts trägt der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klasse B mit Unterklassen.
Am 21. Juli 2015 führte die Polizeiinspektion G. bei dem Antragsteller eine allgemeine Verkehrskontrolle durch. Nach dem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum U. vom 7. August 2015 befand sich in der entnommenen Blutprobe eine Konzentration von 24,5 ng/ml THC-COOH. Die Gutachter stellten fest, dass eine Beeinflussung durch Cannabis zum Zeitpunkt der Blutentnahme bzw. der Fahrt nicht nachzuweisen sei.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2015 übersandte die Polizeiinspektion G. dem Landratsamt G. (im Folgenden: Landratsamt) einen Vorgang hinsichtlich des Antragstellers wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Danach bestellte der Antragsteller am 18. August 2014 im Internet zwei Gramm Haschisch, das an seine Adresse gesandt wurde. Ein Nachweis über den Erhalt war nicht vorhanden. Mit Verfügung vom 30. November 2015 stellte die Staatsanwaltschaft Memmingen das diesbezügliche Ermittlungsverfahren wegen eines Vergehens nach § 29 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) nach § 170 Abs. 2 StPO ein.
Mit Schreiben vom 24. Juli 2016 übersandte die Polizeiinspektion G. dem Landratsamt einen Vorgang wegen eines Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz (AMG). Danach erwarb der Antragsteller 40 rezeptpflichtige Tabletten Lorazepam im sog. „Darknet“, die ihm gemäß einer sichergestellten Verkaufsliste am 11. Januar 2015 zugesandt wurden. Der Ausgang des Strafverfahrens lässt sich den Akten nicht entnehmen.
Mit Schreiben vom 2. August 2016 forderte das Landratsamt den Antragsteller unter Schilderung der drei Vorfälle auf, bis 15. Oktober 2016 ein fachärztliches Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Aufgrund der Anzahl der Mitteilungen liege der Verdacht nahe, dass er regelmäßig Betäubungsmittel oder sog. Drogenersatzstoffe konsumiere. Es sei zu klären, ob er Betäubungsmittel i.S.d. BtMG oder andere psychoaktiv wirkende Stoffe, die die Fahreignung in Frage stellten, einnehme oder eingenommen habe. Die Anordnung werde auf § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 FeV gestützt.
Der Antragsteller legte kein Gutachten vor, sondern machte geltend, er habe zu keinem Zeitpunkt gegen das Betäubungsmittel- oder Arzneimittelgesetz verstoßen. Das Strafverfahren wegen eines Vergehens nach § 29 BtMG sei eingestellt worden. Eine Fahrt unter Cannabiseinfluss habe nicht vorgelegen, sondern es sei nur das inaktive Stoffwechselprodukt THC-COOH nachgewiesen worden.
Mit Bescheid vom 28. April 2017 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis, ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die unverzügliche Vorlage des Führerscheins und die sofortige Vollziehung an. Der Antragsteller sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, da er das zu Recht angeordnete ärztliche Gutachten nicht vorgelegt habe. Es müsse daher nach § 11 Abs. 8 FeV auf seine Ungeeignetheit geschlossen werden. Am 8. Mai 2017 gab der Antragsteller seinen Führerschein ab.
Über die gegen den Bescheid vom 28. April 2017 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Augsburg noch nicht entschieden (Au 7 K 17.651). Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. Juni 2017 abgelehnt. Die Klage werde voraussichtlich keinen Erfolg haben. Die Anordnung sei rechtmäßig. Aufgrund der Mitteilungen der Polizei stehe fest, dass der Antragsteller Cannabis konsumiert habe. Zwar würden sich nach Aktenlage keine Hinweise auf einen regelmäßigen Cannabiskonsum ergeben. Es ergäben sich jedoch zusätzlich weitere Hinweise, dass der Antragsteller den gelegentlichen Konsum und die Teilnahme am Straßenverkehr nicht trennen könne. Die Einstellung der Ermittlungsverfahren beruhe gerade nicht darauf, dass nicht nachweisbar gewesen wäre, dass der Antragsteller die jeweiligen Stoffe bestellt habe. Es sei nur nicht nachweisbar gewesen, ob er sie erhalten, konsumiert oder damit Handel getrieben habe. Durch den Versuch, die Stoffe zu erwerben, lägen Hinweise darauf vor, dass er nicht nur gelegentlich Cannabis konsumiere, sondern zusätzlich noch psychoaktiv wirkende Stoffe einnehme und damit die Fahreignung auch ohne Teilnahme am Straßenverkehr unter Wirkung dieser Stoffe entfalle. Daraus würden sich Tatsachen i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 FeV ergeben.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, die Anordnung des Gutachtens sei rechtswidrig gewesen. Zum Zeitpunkt der Verkehrskontrolle am 21. Juli 2015 habe er den Konsum von Cannabis und das Führen eines Kraftfahrzeugs getrennt. Es sei lediglich THC-COOH, aber kein THC festgestellt worden. Die angeblich wiederholten Kontakte des Antragstellers zu Betäubungsmitteln seien nicht nachgewiesen. Es sei auch mehr als weit hergeholt, einen Bezug zur Teilnahme am Straßenverkehr herzustellen und auf die fehlende Fahreignung zu schließen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorlegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet und die aufschiebende Wirkung der Klage ist wiederherzustellen, da diese voraussichtlich erfolgreich sein wird.
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. November 2016 (BGBl I S. 2722), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 21. Dezember 2016 (BGBl I S. 3083), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 liegt Kraftfahreignung bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis vor, wenn der Konsum und das Fahren getrennt werden können, kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen besteht und keine Störung der Persönlichkeit oder Kontrollverlust vorliegt. Voraussetzung für eine fehlende Fahreignung wegen Mischkonsums ist allerdings, dass der Mischkonsum eine kombinierte Rauschwirkung zur Folge haben kann (vgl. BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 3 C-32/12 – BVerwGE 148, 230 Rn. 21). Nach Nr. 9.4 der Anlage 4 liegt bei missbräuchlicher Einnahme (regelmäßig übermäßiger Gebrauch) von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln und anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen keine Kraftfahreignung vor.
Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 FeV ist die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anzuordnen, wenn Tatsachen die Annahme begründen, dass Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes oder missbräuchliche Einnahme von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen vorliegt. Hinsichtlich des Konsums von Cannabis ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein ärztliches Gutachten nur angeordnet werden darf, wenn Tatsachen auf einen regelmäßigen Konsum, der nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 die Kraftfahreignung ausschließt, hinweisen, oder wenn das Konsummuster zu klären ist, da gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 entweder weitere Tatsachen auf fehlendes Trennungsvermögen oder auf einen Mischkonsum, der eine kombinierte Rauschwirkung zur Folge hat, hinweisen (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 14 FeV Rn. 14).
2. Im vorliegenden Fall sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV für die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens nicht erfüllt. Im Übrigen wird mit der Begutachtensanordnung auch nicht nach dem Konsummuster hinsichtlich Cannabis und einem eventuellen Mischkonsum gefragt, sondern es wird alleine die Frage gestellt, ob der Antragsteller Betäubungsmittel i.S.d. BtMG oder andere psychoaktiv wirkende Stoffe einnimmt bzw. einnahm, die die Fahreignung in Frage stellen.
Tatsachen, die die Annahme begründen, dass der Antragsteller regelmäßig Cannabis konsumiert, sind auch nach Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht ersichtlich. Tatsachen, dass er andere Betäubungsmittel konsumieren könnte, sind ebenfalls nicht hinreichend konkret, sondern es handelt sich um einen bloßen Verdacht, der nicht ausreicht (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 14 Rn. 11). Bei den vom Antragsteller im sog. „Darknet“ bestellten Tabletten ist nicht geklärt, ob diese unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) fallen. Lorazepam ist zwar in Anlage III zum BtMG genannt, Zubereitungen, die – ohne einen weiteren Stoff der Anlagen I bis III zum BtMG zu enthalten – je abgeteilte Form bis zu 2,5 mg Lorazepam enthalten, sind davon aber ausgenommen. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller diese Tabletten tatsächlich erhalten hat und ggf. welcher weiteren Verwendung er sie zugeführt hat.
Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die Tabletten unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und der Antragsteller sie auch erhalten hat, wäre dann aber vorrangig ein ärztliches Gutachten nach § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV im Ermessens Weg wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln anzuordnen gewesen, solange keine über den bloßen Besitz hinausgehenden Tatsachen vorliegen, die auf eine Einnahme der Tabletten durch den Antragsteller hinweisen. Solche Tatsachen lassen sich den geschilderten Vorgängen nicht entnehmen.
Unabhängig davon, dass das Landratsamt danach nicht gefragt hat, liegen auch keine hinreichenden Tatsachen für die Annahme vor, der Antragsteller nehme gelegentlich Cannabis und andere psychoaktiv wirkende Stoffe in der Art und Weise ein, dass eine kombinierte Rauschwirkung gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 entsteht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Antragsteller um einen gelegentlichen Cannabiskonsumenten handelt, liegen keine Erkenntnisse vor, die die Annahme begründen würden, dass er gleichzeitig Cannabis und psychoaktiv wirkende Arzneimittel oder andere psychoaktiv wirkende Stoffe einnimmt. Die Tatsache, dass er solche Mittel im sog. „Darknet“ bestellt hat, reicht dafür nicht aus.
3. Ebenso sind keine hinreichenden Tatsachen dafür ersichtlich, dass der Antragsteller psychoaktiv wirkende Arzneimittel oder andere psychoaktiv wirkende Stoffe missbräuchlich, d.h. gemäß Nr. 9.4 der Anlage 4 regelmäßig und übermäßig gebraucht. Eine Anordnung nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 FeV ist damit ebenfalls nicht zulässig. Es ist schon nicht geklärt, ob der Antragsteller die bestellten Tabletten erhalten hat. Der bloße Besitz solcher Stoffe würde die Fahrerlaubnisbehörde aber auch ohne weitere Anhaltspunkte für deren missbräuchliche Einnahme nicht berechtigen, ein ärztliches Gutachten anzuordnen, denn eine mit § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV vergleichbare Ermessensvorschrift hinsichtlich psychoaktiver Arzneimittel und Stoffe existiert nicht. Daraus kann geschlossen werden, dass der bloße Besitz dieser Stoffe, im Gegensatz zum Besitz von Betäubungsmitteln, für behördliche Maßnahmen nicht ausreichend ist.
4. Der Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, Anh. § 164 Rn. 14).
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).