Aktenzeichen 2 Ws 1116/19
Leitsatz
1. Nach der Außervollzugsetzung eines Haftbefehls eingetretene oder bekannt gewordene Umstände rechtfertigen dessen erneute Invollzugsetzung gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nur, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären (vgl. OLG Braunschweig BeckRS 2016, 123232) (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil kann die Invollzugsetzung eines Haftbefehls rechtfertigen, wenn der Rechtsfolgenausspruch erheblich zum Nachteil des Angeklagten von der dem Aussetzungsbeschluss zugrunde liegenden Prognose zur Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat sich der Angeklagte nach Kenntniserlangung von der erhöhten Straferwartung weiterhin dem Verfahren gestellt und sind auch sonst keine Anhaltspunkte für etwaige Fluchtabsichten bekannt geworden, rechtfertigt allein die erhöhte Straferwartung die erneute Invollzugsetzung des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nicht. (Rn. 15 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Auf die Beschwerde des Angeklagten S. R. wird der Beschluss des Landgerichts München I vom 01.10.2019 über die Invollzugsetzung des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 10.03.2018 aufgehoben. Ergänzend wird klargestellt, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 10.03.2018 und der Außervollzugsetzungsbeschluss des Amtsgerichts München vom 12.03.2018 bestehen bleiben.
II. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
I.
Gegen den Angeklagten wurde zunächst am 10.03.2018 durch das Amtsgericht München ein Haftbefehl (… Gs …) wegen Vergewaltigung gestützt auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO erlassen und dem Angeklagten am 12.03.2018 eröffnet. Im Rahmen dieser Haftbefehlseröffnung räumte der Angeklagte die Penetration der Scheide der damals 17jährigen Geschädigten A. W. mit einem Glied seines Zeigefingers sowie darauf folgend mit 2-3 cm seines teils erigierten Penis ein, wobei er angab, dass die Geschädigte so betrunken gewesen sei, dass sie sich nicht hätte wehren oder äußern können. Die Beimischung von KO-Tropfen in ein Getränk der Geschädigten bestritt der Angeklagte.
Aufgrund dieses Geständnisses wurde der Haftbefehl mit Beschluss des Amtsgerichts vom 12.03.2018 (853 Gs 298/18) gegen eine wöchentliche Meldeauflage, eine Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000 Euro und die Abgabe seines montenegrinischen Reisepasses außer Vollzug gesetzt. Nach Erfüllung der Auflagen wurde der Angeklagte am 13.03.2018 aus der Haft entlassen.
In der am 19.12.2018 vor dem Amtsgericht München – Schöffengericht – stattgefundenen Hauptverhandlung wurde der Angeklagte wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren acht Monaten verurteilt und der Haftbefehl sowie der Außervollzugsetzungsbeschluss aufrechterhalten. Zuvor hatte der Angeklagte an einem Täter-Opfer-Ausgleich teilgenommen, in dessen Rahmen er der Geschädigten 10.000 Euro als Schmerzensgeld zahlte und wegen der Tat um Entschuldigung bat.
In der vor dem Landgericht München I auf beiderseitige Berufung stattgefundenen Hauptverhandlung wurde der Angeklagte am 11.09.2019 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren zehn Monaten verurteilt. Eine Entscheidung hinsichtlich des Haftbefehls und des Außervollzugsetzungsbeschlusses wurde im Urteil nicht getroffen. Sein Geständnis hatte der Angeklagte am ersten Tag der Berufungshauptverhandlung widerrufen. Gegen das Urteil hat der Angeklagte am 12.09.2019 Revision eingelegt.
Unter dem 25.09.2019 beantragte die Staatsanwaltschaft M. I die Invollzugsetzung des Haftbefehls. Das Landgericht München I setzte mit Beschluss vom 01.10.2019 den Haftbefehl in Vollzug, der dem Angeklagten nach seiner Festnahme am 07.10.2019 eröffnet wurde. Zur Begründung weist der Invollzugsetzungsbeschluss auf neu hervorgetretene Umstände hin, die die Verhaftung erforderlich machten und führte insoweit aus, dass die durch das Urteil des Landgerichts München gestiegene Höhe der Strafe dem Angeklagten deutlich vor Augen führe, dass ihm nun mit noch größerer Sicherheit eine empfindliche Freiheitsstrafe drohe und dies allein schon ein Anreiz sei, sich dem Verfahren dauerhaft zu entziehen.
Der Angeklagte und sein Verteidiger legten noch zu Protokoll am 07.10.2019 Beschwerde ein. Der Beschwerde half das Landgericht München I mit Beschluss vom gleichen Tag nicht ab und führte dabei ergänzend aus, dass der Angeklagte zwar derzeit über einen festen Wohnsitz, nicht jedoch über ausreichende soziale Bindungen verfüge. Er arbeite zwar in der Firma seines Bruders, habe jedoch bereits eine berufliche Veränderung geplant und darüber hinaus keine feste Partnerschaft, die einen Fluchtanreiz beseitigen könnten.
Der Verteidiger des Angeklagten führte in der Beschwerdebegründung vom 15.10.2019, eingegangen am selben Tag, im Wesentlichen aus, dass Gründe für eine Invollzugsetzung des Haftbefehls, insbesondere solche gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, nicht vorlägen, sich jedenfalls allein aus der gegenüber der amtsgerichtlichen Verurteilung höheren Verurteilung durch das Berufungsgericht keine „neu“ hinzugetretenen Umstände ergäben. Weder führe eine fehlende Partnerschaft zu einem höheren Fluchtanreiz noch habe der Angeklagte keine sozialen Beziehungen. So lebe er mit festem Wohnsitz seit Geburt in Deutschland und arbeite bei seinem Bruder in einem festen Anstellungsverhältnis. Auch die Familie des Angeklagten lebe in M.. Dem Verfahren habe er sich darüber hinaus zu jedem Zeitpunkt gestellt. Das Berufungsgericht habe daher auch im Rahmen der Urteilsbegründung offensichtlich keinen Grund für die Invollzugsetzung des Haftbefehls gesehen und insoweit keine Entscheidung getroffen.
Die seitens der Staatsanwaltschaft M. I unter dem 30.10.2019 hierzu abgegebene Stellungnahme verwies hinsichtlich des Haftgrundes der Fluchtgefahr zunächst auf die Begründungen des Landgerichts München I im Invollzugsetzungsbeschluss vom 01.10.2019 und dem Nichtabhilfebeschluss vom 07.10.2019 und führte weiterhin aus, dass die höhere Verurteilung von nunmehr drei Jahren zehn Monaten gegenüber der amtsgerichtlichen Verurteilung von zwei Jahren acht Monaten den Fluchtanreiz deutlich erhöhe. Dies sei ein neu hervorgetretener Umstand im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO. Der Angeklagte habe seit Beginn des Verfahrens gezeigt, dass es ihm erheblich darauf angekommen sei, in Freiheit zu bleiben. So sei er im Rahmen der Haftbefehlseröffnung am 12.03.2018 zu einem Geständnis bereit gewesen, um Haftverschonung zu erlangen und habe auch nach Widerruf seines Geständnisses mit einem positiven Ausgang gerechnet, so dass nun durch die Verurteilung die Invollzugsetzung des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertige. Eine erst einige Zeit nach Verkündung des Urteils ergangene Invollzugsetzungsentscheidung sei unschädlich, weil § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO hierzu keine Anforderungen stelle.
Die Akten wurden dem Oberlandesgericht am 21.10.2019, und nach Rückleitung der Akten zur Nachholung der Akteneinsicht am 19.11.2019 erneut zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die Beschwerde des Angeklagten ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO.
Die Beschwerde ist auch begründet. Die Invollzugsetzung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Vorliegend kommt sowohl nach der Begründung des Invollzugsetzungsbeschlusses als auch ergänzend des Nichtabhilfebeschlusses nur der erneute Vollzug gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO in Betracht. Insoweit müssen neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen.
„Neu“ im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung (so BVerG, B. v. 11.07.2012 – 2 BvR 1092/12 -, juris Rn. 43 m.w.N., OLG Braunschweig, B. v. 26.09.2016 – 1 Ws 246/16, BeckRS 2016, 123232).
Ein nach Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (BVerfG, a.a.O., Rn. 45).
Vorliegend hat sich am Tatvorwurf der Anklage gegenüber dem Inhalt des Haftbefehls nichts geändert. Auch die erstinstanzliche Verurteilung zu zwei Jahren acht Monaten erfolgte wegen der von Anfang an vorgeworfenen Tat. Dem Angeklagten wurde bereits bei der Haftbefehlseröffnung vor Augen geführt, dass nur ein frühzeitiges Geständnis die Chance für eine Haftverschonung biete. Unter diesem Eindruck, aber in Kenntnis eines noch durchzuführenden Hauptverfahrens und einer für die Tat bestehenden erheblichen Straferwartung zeigte sich der Angeklagte zunächst geständig, so dass der Außervollzugsetzungsbeschluss mit den genannten Auflagen erging. Der Angeklagte stellte sich dem Verfahren und kam offensichtlich weiterhin seiner wöchentlichen Meldeauflage nach, jedenfalls ergibt sich aus dem Akteninhalt nichts Gegenteiliges. Daran änderte sich auch nach der erstinstanzlichen Verurteilung zu einer Haftstrafe nichts.
In Kenntnis einer möglicherweise deutlich höheren Strafe, auf die er seitens des Landgerichts in der Berufungsverhandlung ausweislich der insoweit übereinstimmenden Ausführungen der Beschwerde und der Staatsanwaltschaft in der Stellungnahme vom 30.10.2019 auch vielfach hingewiesen worden war, widerrief er dennoch sein Geständnis und stellte sich dem Verfahren bis zur Urteilsverkündung. Auch die Festnahme aufgrund des Invollzugsetzungsbeschlusses erfolgte an seiner Melde- und Wohnadresse. Anhaltspunkte einer Fluchtplan knapp einen Monat nach der Verurteilung zu einer nunmehrigen Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten lagen ausweislich des polizeilichen Vermerks zur Festnahme des Angeklagten nicht vor.
Der Angeklagte hat trotz einer von Anfang an zu erwartenden und ihm auch immer wieder ins Gedächtnis gerufenen möglichen hohen Freiheitsstrafe auch nach der Verurteilung hierzu das in ihn mit dem Außervollzugsetzungsbeschluss gesetzte Vertrauen zu keinem Zeitpunkt erschüttert.
Zwar könnte der Umstand, dass der Angeklagte sein Geständnis widerrufen hat, insoweit „neu“ im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sein, dass der Haftrichter bei Kenntnis eines fehlenden Geständnisses möglicherweise keinen Außervollzugsetzungsbeschluss erlassen hätte. Allerdings ist es das ureigenste Recht des Angeklagten, seine Verteidigungsstrategie zu ändern und auch sein Geständnis zu widerrufen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Widerruf des Geständnisses und die dann getätigte Einlassung des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs bereits im ersten Hauptverhandlungstermin vor dem Landgericht München I am 18.07.2019 erfolgte, der Angeklagte auch trotz der Hinweise zur Möglichkeit einer Verböserung der Strafe sich weiterhin an sechs Verhandlungstagen dem Verfahren stellte und daher auch am 07.10.2019 nahezu weitere drei Monate nach dem Widerruf des Geständnisses festgenommen werden konnte. Neu hervorgetretene Umstände lagen damit zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr vor.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.