Aktenzeichen 202 StRR 16/20
StPO § 318, § 333, § 337, § 353, § 354 Abs. 2 S. 1, § 358 Abs. 2 S. 3
Leitsatz
1. Das Bestehen einer physischen Abhängigkeit ist für die Annahme eines Hangs i.S.v. § 64 Satz 1 StGB ebenso wenig erforderlich wie die Feststellung, dass bei dem Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist. Der Annahme eines Hangs steht deshalb nicht entgegen, dass der Angeklagte in einem festen Arbeitsverhältnis tätig ist und seine weitere berufliche Fortbildung in Angriff nimmt. Die Beeinträchtigung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit indiziert zwar einen Hang, ihr Fehlen schließt ihn indes nicht aus (st.Rspr.; u.a. Anschluss an BGH, Beschl. v. 19.04.2016 – 3 StR 566/15 = NStZ-RR 2016, 246; 05.06.2018 – 2 StR 200/18 und Urt. v. 18.07.2019 – 4 StR 80/19 bei juris). (Rn. 3 – 4)
2. Die Bereitschaft, ein ‚Anti-Gewalt-Training‘ zur Kontrolle der unter Alkoholeinfluss immer wieder an den Tag gelegten und zu Straftaten deutlich jenseits bloßer Bagatellfälle führenden Aggressivität zu absolvieren, kann als Indiz für eine über die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung hinausgehenden konkrete Erfolgsaussicht der Maßregelanordnung zu werten sein. (Rn. 5)
3. Ist nicht auszuschließen (§ 337 StPO), dass das Berufungsgericht im Falle einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB auf eine geringere Strafe erkannt hätte, weil sich eine Unterbringung – etwa wegen einer die Dauer der Strafe ggf. überschreitenden Maßregeldauer – als zusätzliches Strafübel auswirken kann, führt der dem Urteil im Hinblick auf § 64 StGB anhaftende Erörterungsmangel zur Aufhebung des Strafausspruchs insgesamt und nicht nur insoweit, als eine Entscheidung über eine Unterbringung unterblieben ist (u.a. Anschluss an BGH, Beschl. v. 16.02.2012 – 2 StR 29/12 = NStZ-RR 2012, 202 = StV 2013, 148; Urt. v. 08.07.2015 – 2 StR 139/15 bei juris; OLG Schleswig, Beschl. v. 15.01.2015 – 1 Ss 4/15 = SchlHA 2015, 335 und OLG Hamm, Beschl. v. 11.09.2014 – 3 RVs 65/14 bei juris). (Rn. 7)
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 26. August 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 11.04.2019 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, in der Berufungshauptverhandlung wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil vom 26.08.2019 als unbegründet verworfen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Die zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 06.02.2020 abgegebene Stellungnahme des Verteidigers des Angeklagten vom 02.03.2020 mit der Erklärung, dass die Nichtanwendung des § 64 StGB bzw. dessen fehlende Erörterung nicht von der Revision ausgenommen werde, lag dem Senat vor.
II.
Das aufgrund der nach § 318 StPO wirksamen Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch (vgl. hierzu zuletzt BayObLG, Beschluss vom 26.02.2020 – 202 StRR 4/20 [zur Veröffentlichung bestimmt]) nur noch diesen betreffende und wegen der entsprechenden Erklärung der Revision die Nichterörterung des § 64 StGB einschließende statthafte (§ 333 StPO) Rechtsmittel führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im gesamten Strafausspruch, weil die Berufungskammer – wie schon das Amtsgericht – die Frage einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gänzlich unerörtert gelassen hat, obwohl es sich aufgrund der festgestellten Umstände aufdrängte, dass die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB vorliegen können, nämlich dass beim Angeklagten ein Hang gegeben ist, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen und nicht zuletzt die verfahrensgegenständliche Anlasstat darauf beruht. Die unterlassene Prüfung der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt führt vorliegend auch zur Aufhebung der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitstrafe.
1. Der Senat nimmt insoweit zunächst zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die zutreffenden, mit der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. zuletzt u.a. nur BGH, Beschluss vom 01.10.2019 – 2 StR 108/19 und Urt. v. 18.07.2019 – 4 StR 80/19 beide bei juris; siehe auch OLG Hamm, Beschluss vom 30.01.2020 – 4 RVs 7/20 bei juris, jeweils m.w.N.) im Einklang befindlichen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in deren vorgenannter Antragsschrift Bezug und macht sich diese insbesondere auch insoweit zu eigen, als die aufgezeigten tatrichterlichen Feststellungen ohne weiteres die Annahme nahelegen, dass bei dem Angeklagten von einer eingewurzelten, auf psychischer Disposition beruhenden oder durch Übung erworbenen intensiven Neigung und deshalb von einem Hang im Sinne von § 64 Satz 1 StGB auszugehen ist, immer wieder Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen und das verfahrensgegenständliche Tatgeschehen vom 02.08.2008 im Anschluss an ein Abstinenzversagen darauf beruhte. Das Bestehen einer bereits physischen Abhängigkeit ist für die Annahme eines Hangs ebenso wenig erforderlich (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19.04.2016 – 3 StR 566/15 = BeckRS 2016, 9869 = NStZ-RR 2016, 246 [Ls] und 05.06.2018 – 2 StR 200/18 bei juris; ferner Fischer StGB 67. Aufl. § 67 Rn. 7, jeweils m.w.N.) wie die Feststellung, dass bei dem Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 18.07.2019 – 4 StR 80/19 bei juris m.w.N.).
2. Der Annahme eines Hangs i.S.v. § 64 StGB steht deshalb nicht entgegen, dass der Angeklagte als Elektroniker seit April 2018 unverändert in einem festen Arbeitsverhältnis berufstätig ist und nunmehr beabsichtigt, die Meisterprüfung in Angriff zu nehmen (BU S. 4 Mitte). Denn die Beeinträchtigung der Gesundheit oder der Arbeits- und Leistungsfähigkeit durch den Alkoholkonsum indiziert zwar einen Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB, ihr Fehlen schließt diesen indes nicht aus (BGH a.a.O.).
3. Auch sonst kann dem Urteil nicht entnommen werden, dass weitere tatbestandliche Voraussetzungen des § 64 StGB nicht erfüllt sind. Insbesondere fehlen Anhaltspunkte dafür, dass es an einer nach § 64 Satz 2 StGB erforderlichen hinreichend konkreten und stets einzelfallbezogen zu beurteilenden, über die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung hinausgehenden Aussicht auf einen Behandlungserfolg einer – hier erstmaligen – Entziehungsbehandlung fehlt (zum insoweit anzulegenden Prüfungsmaßstab vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 14.08.2019 – 4 StRR 147/19 = NStZ-RR 2020, 38 und 30.07.2019 – 2 StRR 172/19 = NStZ-RR 2020, 71, jeweils m.w.N.; zu den Voraussetzungen für die Annahme eines ‚symptomatischen Zusammenhangs‘ zwischen Hang und Anlasstat zuletzt BGH, Urt. v. 27.06.2019 – 3 StR 443/18 = NStZ-RR 2019, 308 m.w.N.). Die Bereitschaft, nunmehr ein ‚Anti-Gewalt-Training‘ zur besseren Kontrolle seiner unter Alkoholeinfluss immer wieder an den Tag gelegten und zu Straftaten deutlich jenseits bloßer Bagatellfälle führenden Aggressivität zu absolvieren (BU a.a.O.), könnte als Indiz für eine konkrete Erfolgsaussicht einer Maßregelanordnung zu werten sein.
4. Einer Nachholung einer Unterbringungsanordnung steht schließlich nicht entgegen, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Dass die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt den Angeklagten nicht beschwert, hindert das Revisionsgericht im Übrigen nach st.Rspr. nicht, auf eine zulässig erhobene, die Nichtanwendung des § 64 StGB – wie hier – nicht ausdrücklich vom Rechtsmittelangriff ausnehmende Revision des Angeklagten das Urteil insoweit aufzuheben, wenn eine Prüfung der Maßregel unterblieben ist, obwohl die tatrichterlichen Feststellungen dazu Anlass gegeben haben (st.Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 03.12.2019 – 4 StR 553/19 = NStZ-RR 2020, 48 und 30.07.2019 – 2 StR 93/19 = NStZ-RR 2020, 37; ferner u.a. BGH, Beschluss vom 05.06.2018 – 2 StR 200/18 bei juris; 02.09.2017 – 3 StR 307/17 bei juris; 05.03.2014 – 3 StR 12/14 bei juris; 07.01.2009 – 3 StR 458/08 = NStZ 2009, 261 = BGHR StGB § 64 Ablehnung 11 und schon Urt. v. 07.10.1992 – 2 StR 374/92 = BGHSt 38, 362 = StV 1992, 572 = NStZ 1993, 97 = NJW 1993, 477 = BGHR StPO § 344 Abs. 1 Beschränkung 3).
III.
Aufgrund des aufgezeigten Erörterungsausfalls unterliegt das angefochtene Urteil mit den zugehörigen Feststellungen insgesamt der Aufhebung und nicht nur insoweit, als eine Entscheidung über eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist. Denn der Senat kann unter den gegebenen Umständen, wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend feststellt, ungeachtet der gravierenden Vorstrafensituation des Angeklagten jedenfalls nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausschließen (§ 337 StPO), dass das Berufungsgericht im Falle der Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt tatsächlich auf eine – noch – geringere Strafe als auf eine unbedingte Freiheitsstrafe von neun Monaten erkannt hätte (vgl. hierzu auch die Fallgestaltung bei BGH, Beschluss vom 05.03.2014 – 3 StR 12/14 bei juris), schon weil sich eine gegebenenfalls anzuordnende Unterbringung im Ergebnis als zusätzliches Strafübel auswirken und deshalb Einfluss auf das Strafmaß nehmen kann. Dies gilt namentlich dann, wenn die Maßregeldauer – wie hier – die Dauer der Strafe unter Umständen überschreiten kann (BGH, Beschluss vom 16.02.2012 – 2 StR 29/12 = NStZ-RR 2012, 202 = StV 2013, 148 und Urt. v. 08.07.2015 – 2 StR 139/15 bei juris; vgl. auch OLG Schleswig, Beschluss vom 15.01.2015 – 1 Ss 4/15 = SchlHA 2015, 335 und OLG Hamm, Beschluss vom 11.09.2014 – 3 RVs 65/14 bei juris). Die zur neuen Entscheidung berufene Strafkammer wird daher nunmehr nicht nur unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt, sondern auch über den Strafausspruch einschließlich der – wenn auch nach Sachlage fern liegenden – Frage einer Aussetzung der Vollstreckung einer gegebenenfalls wiederum erkannten Freiheitsstrafe zur Bewährung neu zu verhandeln und zu befinden haben.
IV.
Wegen des dargestellten Sachmangels ist das angefochtene Urteil einschließlich der Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.