Aktenzeichen 1 Ws 109/16 H, 1 Ws 110/16 H
StPO § 121 Abs. 1, § 122
EMRK Art. 5 Abs. 3 S. 2
Leitsatz
1. An einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert. (amtlicher Leitsatz)
2. Es widerspricht regelmäßig dem Beschleunigungsgebot, eine bereits erhobene Anklage wieder zurückzunehmen, um ein weiteres Verfahren hinzu zu verbinden, und dann erneut Anklage zu erheben. (amtlicher Leitsatz)
3. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich das hinzuverbundene Verfahren gegen andere Beschuldigte richtet und an den diesen zur Last liegenden Taten die bisherigen Beschuldigten nicht beteiligt waren. Etwaige neue Erkenntnisse zu einer Bandenstruktur müssen in das bereits laufende Gerichtsverfahren eingeführt werden. (amtlicher Leitsatz)
Tenor
Die Haftbefehle des Amtsgerichts Ansbach vom 13.06.2015 (Az.: 5 Gs 784/15 und 5 Gs 785/15) werden aufgehoben.
Gründe
I. Die am 12.06.2015 vorläufig festgenommenen Angeschuldigten befinden sich jeweils aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Ansbach vom 13.06.2015 (Az.: 5 Gs 784/15 und 5 Gs 785/15), eröffnet am selben Tage, seit dem 13.06.2015 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 21.12.2015 (Az.: 1 Ws 581/15 H und 1 Ws 582/15 H) hat der Senat bei der ersten Haftprüfung die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.
II. Nach §§ 121, 122 StPO hat das Oberlandesgericht jetzt erneut über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden. Obwohl Staatsanwaltschaft und Gericht den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für erforderlich halten, sind die Haftbefehle gleichwohl aufzuheben, weil die Voraussetzungen, unter denen Untersuchungshaft weiterhin angeordnet werden kann, bei den Angeschuldigten inzwischen nicht mehr vorliegen. Das Verfahren hat nämlich seit der letzten Senatsentscheidung vom 21.12.2015 nicht die in Haftsachen gebotene, auf dem Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegen gehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG, StV 2008, 421 m. w. N.). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Betroffenen vergrößert sich dabei regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. An einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher um so strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (BVerfG, StV 2013, 640).
Danach sind die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, jederzeit alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur zielorientierten Förderung des Verfahrens zu ergreifen und auf einen Abschluss des Ermittlungs-/Strafverfahrens hinzuarbeiten (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; BVerfG, StV 2007, 366, 367). Kommt es gleichwohl zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, so steht die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG, NJW 2006, 1336 m. w. N.); hierbei ist wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts selbst in Fällen der Schwerkriminalität eine Abwägung zwischen den Schutzinteressen der Allgemeinheit und dem Beschleunigungsgebot ausnahmslos unzulässig (BVerfG, StV 2006, 703; StV 2007, 366, 369; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. § 121 Rn. 20; Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. § 121 Rn. 6).
2. Vorliegend ist kein die bisherige Verfahrensdauer rechtfertigender Grund i. S. d. § 121 Abs. 1 StPO mehr ersichtlich. Es ist zu vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die die Angeschuldigten nicht zu vertreten haben, gekommen.
a) Wie im Senatsbeschluss vom 21.12.2015 ausgeführt, war der Ablauf des gegen die beiden hiesigen Angeschuldigten geführten Verfahrens (Az. 1062 Js 5397/15 Staatsanwaltschaft Ansbach) bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu beanstanden. Die Kriminalpolizei hatte die Ermittlungen am 09.11.2015 abgeschlossen, die Staatsanwaltschaft am 15.11.2015. Der Vorsitzende der Strafkammer hatte am 24.11.2015 Übersetzung und Zustellung der Anklageschrift mit einer Einlassungsfrist von 1 Monat verfügt. Diese Anklage hat die Staatsanwaltschaft Ansbach mit Verfügung vom 13.01.2016 zurückgenommen.
b) Unter einem anderen Aktenzeichen (1062 Js 6785/15) hat die Staatsanwaltschaft Ansbach parallel ein weiteres Verfahren gegen 6 andere Angeschuldigte geführt. Hier hat die Kriminalpolizei die Ermittlungen am 01.12.2015 abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Ansbach hat am 21.12.2015 die Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft München II verfügt, die die Übernahme mit Verfügung vom 30.12.2015 aber abgelehnt hat. Die Staatsanwaltschaft Ansbach hat daraufhin nach vorgenannter Rücknahme der Anklage vom 15.11.2015 wegen Sachzusammenhangs (bandenmäßige Begehung der beiden Verfahren zugrunde liegenden Taten) das ältere Verfahren zum jüngeren Verfahren verbunden, die Ermittlungen am 13.01.2016 abgeschlossen und unter dem 13.01.2016 eine neue Anklageschrift erstellt. Der Vorsitzende der Jugendkammer hat am 20.01.2016 die Zustellung der Anklageschrift – ohne vorherige Übersetzung – mit einer Einlassungsfrist von 1 Monat verfügt. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden. Als mögliche Hauptverhandlungstermine hat der Vorsitzende der Jugendkammer aufgrund der Überlastung der Strafkammern und Jugendkammern des Landgerichts Ansbach mit Haftsachen den Verteidigern (erst) den 12.05.2016 und den 13.05.2016 vorgeschlagen.
c) Es bestand keine Veranlassung, dem (ursprünglichen) Verfahren KLs 1062 Js 5397/15 keinen Fortgang zu geben und die zunächst erhobene Anklage wieder zurück zu nehmen. An der dem (neuen) Verfahren KLs 1062 Js 6785/15 jug zugrunde liegenden Tat sind die beiden hiesigen Angeschuldigten nicht beteiligt. Etwaige neue Erkenntnisse zu einer Bandenstruktur hätten in das bereits laufende Gerichtsverfahren eingeführt werden können und müssen. Einer gemeinsamen Verhandlung mit allen nunmehr Angeschuldigten hätte es dazu nicht bedurft.
d) Folge des fehlerhaften Vorgehens der Staatsanwaltschaft Ansbach ist, dass das Gericht bislang weder das Hauptverfahren eröffnen noch Termin zur Durchführung der Hauptverhandlung bestimmen konnte. Zwischen der Verfügung der Zustellung der ersten Anklageschrift am 24.11.2015 und der Verfügung der Zustellung der zweiten Anklageschrift am 20.01.2016 sind fast zwei Monate vergangen, ohne einen Verfahrensfortgang zu erzielen; dabei musste sich erst noch ein ganz anderer Spruchkörper in das umfangreiche Verfahren einarbeiten. Im Rahmen der einen Zeitraum von drei Monaten umfassenden Neun-Monats-Haftprüfung ist eine Verfahrensverzögerung von nahezu zwei Dritteln dieses Prüfungszeitraumes nicht hinnehmbar. Eine zusätzliche Verlängerung des Verfahrens wird dadurch eintreten, dass es sich jetzt gegen mehr Angeschuldigte richtet als gegen die beiden hiesigen Angeschuldigten und dass es mehr Tatvorwürfe umfasst als den gegen die beiden hiesigen Angeschuldigten gerichteten, dass das Verfahren somit komplexer geworden ist und eine umfangreichere Beweisaufnahme erfordern wird.