Strafrecht

Rechtmäßige Ausweisungsverfügung wegen Totschlags

Aktenzeichen  M 12 K 17.130

Datum:
12.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133508
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 8
AufenthG § 11 Abs. 3 S. 2, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 53, § 54, § 55, § 58 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3,  § 72 Abs. 2
AsylG § 6, § 42 S. 1
RDGEG § 3, § 5

 

Leitsatz

1. Die Verurteilung zu 12 Jahren Freiheitsstrafe aufgrund Totschlags als die öffentliche Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße beeinträchtigendes Kapitaldelikt führt unter Berücksichtigung vorhandener Wiederholungsgefahr wegen bei der Tat gezeigter krimineller Energie, einer hohen Intensität der Tathandlung, eines rationalen Vorgehens bei der Tatausführung und seit 2004 hinweg vorliegender Straffälligkeiten zu einer Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt.(Rn. 25 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus.(Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
4. Nach den nicht abschließenden Kriterien des § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.    (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
5 Art. 8 Abs. 1 EMRK steht einer Ausweisungsverfügung bei Fehlen einer Kernfamilie und einer beruflichen Integration im Bundesgebiet sowie bei der Möglichkeit der Integration und des Aufbaus einer neuen Existenz im Heimatland nicht entgegen.      (Rn. 37 – 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2017 entschieden werden, obwohl weder der Kläger noch seine Bevollmächtigte erschienen sind. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Der Kläger ist über seine Bevollmächtigte form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch den Beklagten getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
I.
Die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der BRD gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Dies ist hier der Fall.
1. Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Dabei gilt für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16 m.w.N.). Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht.
Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts T… vom … Juni 2010, rechtskräftig seit 20. September 2010, wegen Totschlags zu 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Unter Berücksichtigung der vom Kläger bei seiner Tat gezeigten kriminellen Energie ist die Wiederholungsgefahr beim Kläger gegeben. Bei der vom Kläger begangenen Straftat handelt es sich um eine besonders schwere Straftat, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße beeinträchtigen. Totschlag ist ein Kapitaldelikt, das das Leben als höchstes Schutzgut betrifft und damit die Grundinteressen der Gesellschaft berührt. Zudem ließ sich beim Kläger eine hohe Intensität der Tathandlung feststellen. Das Opfer erlitt 14 Stichwunden, vier davon waren lebensgefährlich bis tödlich. Zudem ging der Kläger rational vor, indem er das Opfer nicht auf offener Straße, sondern erst in der Wohnung attackierte. Der Kläger ist zudem seit 2004 über Jahre hinweg straffällig gewesen. Die Liste seiner Vorstrafen umfasst verschiedenartige Delikte. Auch die zweifache offene Bewährung konnte den Kläger nicht davon abhalten, weitere Straftaten zu begehen.
Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei dem Totschlag um eine einmalige Beziehungstat handelt, die weitere Gewaltdelikte ggf. unwahrscheinlich erscheinen ließe. Eine Beziehungstat in diesem Sinne liegt nicht immer schon dann vor, wenn die Tat im Rahmen einer Beziehung begangen wurde (BayVGH B.v. 29.1.2014 – 10 ZB 13.1137 – juris Rn. 6). Die Tat war, wie das Landgericht T… in seinem Urteil feststellt, nicht einem Affektzustand geschuldet, da der Kläger seine Tat rational gesteuert beging und auch nach der Tat rational, ruhig und gefasst war. Die gesamte Tat war von Handlungsunterbrechungen geprägt. Im Nachtatverhalten fehlte es auch an einer charakteristischen Erschütterung, in welcher der Betreffende nicht selten planlos und impulsiv agiert.
Soweit die Klägerbevollmächtigte einwendet, die Tat sei zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung bereits sieben Jahre her und der Kläger habe in der Zwischenzeit keine weiteren Straftaten begangen, was auch im Rahmen einer Inhaftierung keine Selbstverständlichkeit sei, führt dies nicht zum Entfall der Wiederholungsgefahr. Die beanstandungsfreie Führung während der Haft genügt für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12- juris Rn. 19 f.; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 34). Vielmehr muss sich der Kläger in Freiheit bewähren. Ob dem Kläger nach der Haft eine Integration gelingen wird, kann derzeit nicht abgesehen werden. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, den Verlauf der Strafhaft abzuwarten, bevor er über eine Ausweisung entscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 15.4.2013 – 1 B 22.12 – juris).
Die Ausweisung verfolgt im Übrigen – neben dem spezialpräventiven Zweck zu verhindern, dass der Kläger weitere Straftaten begeht – gleichzeitig auch den Zweck andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation, von der Begehung eines Tötungsdelikts abzuschrecken (vgl. zu der Zulässigkeit generalpräventiver Zwecke auch nach neuem Recht: BayVGH, B.19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris Rn. 34; U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – juris Rn. 38 und B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 10). Es entspricht insofern auch der Verwaltungspraxis des Beklagten – freilich unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls – im Rahmen von Gewalt- und Tötungsdelikten eine Ausweisung anzuordnen.
2. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
a) § 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet nach dieser Gesamtabwägung überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
b) Es besteht im Fall des Klägers ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist. Dies ist beim Kläger durch die Freiheitsstrafe von 12 Jahren der Fall.
Darüber hinaus besteht auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib und Leben oder mit List begangen worden ist. Dies ist beim Kläger aufgrund der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren wegen Totschlags der Fall.
c) Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht weder ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG noch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 AufenthG gegenüber. Denn der Kläger hat weder eine Aufenthaltsnoch eine Niederlassungserlaubnis noch treffen auf ihn die übrigen Tatbestände des § 55 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu. Seine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, zuletzt befristet bis 8. April 2010, ist ausgelaufen.
d) Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG durchzuführende Gesamtabwägung ergibt unter Berücksichtigung der §§ 54, 55 AufenthG und unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, weil das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
Steht dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 AufenthG bzw. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber, so führt dies nicht ohne weiteres zur Ausweisung des Ausländers. Der Gesetzgeber geht selbst davon aus, dass die in § 54 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch mehr oder weniger Gewicht entfalten können, so dass ein besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nicht per se zur Ausweisung führen muss (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 52). Erst im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49).
Vorliegend überwiegt das besonders schwere Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der BRD, insbesondere spricht Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
(1) Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
(2) Der Kläger ist erst 2003 im Alter von 3… Jahren eingereist und ist daher kein faktischer Inländer. Er ist nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Er ist in Deutschland nicht beruflich integriert, sondern war nur in unregelmäßigen Abständen erwerbstätig. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger Urdu sowie Panjabi in Wort und Schrift beherrscht und dem Aufbau einer Existenz in Pakistan daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Er kann die ggf. vorhandenen kulturellen Hürden mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Darüber hinaus ist der Kläger als erwachsener Mann in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland eine neue Existenz aufbauen können. Weiter hat der Kläger keine schützenswerten familiären Bindungen im Bundesgebiet. Er hat keine Kernfamilie im Bundesgebiet.
(3) Vor diesem Hintergrund fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Bleibeinteresse des Klägers muss angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr sowie dem damit einhergehenden schwerwiegenden Ausweisungsinteresse zurückstehen. Dabei war im Rahmen des Bleibeinteresses des Klägers auch zu würdigen, dass er sich in der jetzigen Strafhaft seit circa sieben Jahren bisher beanstandungsfrei führt und dort arbeitet. Es überwiegt angesichts der Schwere und der Art der begangenen Straftaten sowie der bestehenden Wiederholungsgefahr aber das öffentliche Ausreiseinteresse. Der Schutz der Bevölkerung vor Gewalttaten bis hin zu Tötungsdelikten stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, zu dessen Wahrung die Ausreise des Klägers erforderlich ist. Das vom Kläger begangenen Gewaltdelikt ist eine besonders schwerwiegende Straftat und darf daher in die Abwägung mit dem entsprechenden Gewicht eingestellt werden. Die Schwelle, nach der gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, ist beim Kläger um das Sechsfache überschritten. Die Schwelle des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG ist sogar noch deutlicher überschritten. Ergänzend ist bei der Gewichtung des Ausweisungsinteresses zu sehen, dass die Verurteilung, die der Beklagte zum Anlass für die Ausweisung genommen hat, die Letzte in einer Kette von strafrechtlichen Verfehlungen ist, die dem Kläger zur Last zu legen sind. Erstmals wurde er im Jahr 2004 wegen Einreise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt und unerlaubtem Aufenthalt ohne Pass und Urkundenfälschung sowie wegen des Vortäuschens einer Straftat zur Verantwortung gezogen. 2004 erfolgte eine weitere Verurteilung wegen falscher uneidlicher Aussage in Tateinheit mit Strafvereitelung zu 5 Monaten Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung. 2005 wurde der Kläger zu 100 Tagessätzen wegen Beleidigung in zwei tatmehrheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung, 2007 zu 5 Monaten Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung wegen vorsätzlichen Vollrausches verurteilt. 2008 wurde der Kläger zu 90 Tagessätzen wegen mittelbarer Falschbeurkundung verurteilt. Der Kläger ist in regelmäßigen Abständen straffällig geworden und zeigte sich unbeeindruckt von drohenden Konsequenzen und der zweifachen offenen Bewährung. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger daran gelegen ist, sich zukünftig rechtstreu zu verhalten. Insgesamt hat der Kläger mehrere Chancen, ein straffreies Leben zu führen, nicht ergriffen. Es handelt sich bei der zuletzt abgeurteilten Tat um ein besonders schweres Delikt. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig.
II.
Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 2 des angegriffenen Bescheids auf zehn Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
1. Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat der Beklagte sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
2. Der Beklagte berücksichtigte bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam er in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid verfügten Fristsetzung.
Der Beklagte durfte nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Frist von über fünf Jahren festsetzen, da der Kläger auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Der Beklagte berücksichtigte im Einzelnen, dass der Kläger eine schwere Straftat begangen hat und von ihm eine massive Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte im Rahmen seines Ermessens einen Zeitraum von zehn Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Klägers Rechnung tragen zu können. Aufgrund des immens hohen Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter ist die bemessene Frist zur Erreichung des Zweckes der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt.
Diese Frist ist auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der fehlenden persönlichen und familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet nicht zu relativieren. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
III.
Die Abschiebungsanordnung aus der Haft heraus ist nicht zu beanstanden. Sie ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG. In diesem Fall bedarf es gemäß § 59 Abs. 5 AufenthG keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Benennung Pakistans als Zielstaat ist nicht zu beanstanden, insbesondere war Pakistan in der Abschiebungsandrohung nicht gem. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als Staat zu bezeichnen, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf. Der Beklagte hat zwar grundsätzlich vor Erlass der Abschiebungsandrohung unter Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt; § 72 Abs. 2 AufenthG) zu prüfen, ob zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG vorliegen. Gemäß §§ 6, 42 Satz 1 AsylG ist die Ausländerbehörde aber an die Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag und das Vorliegen der Voraussetzung für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gebunden. Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 17. November 2003 den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt und das Vorliegen von Abschiebungshindernissen verneint. Die vom Kläger vorgebrachten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote waren daher durch den Beklagte nicht zu prüfen. Dem Kläger verbleibt die Möglichkeit, einen Asylfolgeantrag zu stellen.
Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden. Insbesondere erscheint eine Frist zur freiwilligen Ausreise von einer Woche angesichts der derzeitigen Inhaftierung als angemessen, vgl. § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
IV.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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