Aktenzeichen 3 OLG 6 Ss 4/17
StGB § 46a Nr. 1, § 49 Abs. 1, § 55 Abs. 1, § 56f Abs. 3 S. 2, § 58 Abs. 2 S. 2
StPO § 333, § 353 Abs. 2
Leitsatz
1. Die strafgerichtliche Verurteilung nach § 4 Satz 1 GewSchG wegen Zuwiderhandlungen gegen eine Anordnung nach § 1 GewSchG setzt voraus, dass das Strafgericht die materielle Rechtmäßigkeit der Schutzanordnung überprüft und dabei die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GewSchG eigenständig feststellt und im Urteil darstellt; an die Entscheidung des Familiengerichts ist es insoweit nicht gebunden (Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 28.11.2013 – 3 StR 40/13 = BGHSt 59, 94 = NJW 2014, 1749 = JZ 2014, 630 = NStZ 2014, 651 und 28.01.2016 – 3 StR 521/15 = NStZRR 2016, 135). (amtlicher Leitsatz)
Tenor
I.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 29. September 2016 mit den zugehörigen Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung, ausgenommen der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Feststellungen, die bestehen bleiben, aufgehoben.
II.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
I. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten am 14.07.2015 wegen Zuwiderhandlungen gegen eine bestimmte vollstreckbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz (§ 4 Abs. 1 Satz 1 GewSchG) in 20 Fällen, hiervon in zwei Fällen in Tateinheit mit Sachbeschädigung und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Beleidigung und Sachbeschädigung, unter Auflösung der aus einer seit dem 19.05.2015 rechtskräftigen Vorverurteilung vom 11.05.2015 wegen Diebstahls und Betrugs in 4 Fällen resultierenden Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und Einbeziehung der zugrundeliegenden Einzelstrafen im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§ 55 Abs. 1 StGB) zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwei Jahren; die Vollstreckung der aufgelösten Gesamtfreiheitsstrafe aus der Vorverurteilung war zur Bewährung ausgesetzt worden. Auf die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht, das von der Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung ausgegangen ist und das Rechtsmittel deshalb als unbeschränkt behandelt hat, mit Urteil vom 29.09.2016 das Urteil 1. Instanz im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass es den Angeklagten nach Auflösung der aus der Vorverurteilung vom 11.05.2015 resultierenden Gesamtfreiheitsstrafe in ihre Einzelstrafen und deren Einbeziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt hat. Im Hinblick auf die vom Angeklagten aufgrund der Vorverurteilung als Bewährungsauflage vollständig abgeleisteten 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit hat die Berufungskammer bestimmt, dass diese gemäß §§ 58 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. 56f Abs. 3 Satz 2 StGB mit zwei Wochen auf die Dauer der von ihm erkannten Gesamtfreiheitsstrafe anzurechnen sind.
Gegen dieses Berufungsurteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt.
II. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der statthaften (§ 333 StPO) und auch im Übrigen zulässigen Revision des Angeklagten zwingt den Senat zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil es das Landgericht versäumt hat, die materielle Rechtmäßigkeit der auf Antrag der Nebenklägerin mit Beschluss des Familiengerichts vom 21.02.2014 nach mündlicher Verhandlung erlassenen vollstreckbaren Anordnung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 GewSchG zu überprüfen, nämlich deren tatbestandliche Voraussetzungen eigenständig festzustellen und im Urteil darzustellen (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 28.11.2013 – 3 StR 40/13 = BGHSt 59, 94 = NJW 2014, 1749 = JZ 2014, 630 = NStZ 2014, 651 und vom 28.01.2016 – 3 StR 521/15 = NStZ-RR 2016, 135). Die getroffenen Feststellungen der Berufungskammer genügen den genannten Anforderungen nicht.
Die Verurteilung nach § 4 Satz 1 GewSchG wegen Zuwiderhandlungen gegen eine Anordnung nach § 1 GewSchG setzt nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass das Strafgericht die materielle Rechtmäßigkeit der Schutzanordnung überprüft und dabei deren tatbestandliche Voraussetzungen eigenständig feststellt; an die Entscheidung des Familiengerichts ist es insoweit nicht gebunden (BGH a. a. O.). Das Landgericht hätte daher die tatsächlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GewSchG feststellen und im Übrigen auch die Rechtmäßigkeit der familiengerichtlichen Anordnung wertend prüfen müssen, was es indes unterlassen hat.
III. Der aufgezeigte Erörterungs- und Darstellungsmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Schuld- und Strafausspruch. Jedoch können die bisherigen rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur Verwirklichung des Schuldspruchs in vollem Umfang bestehen bleiben, weil sie von dem aufgezeigten, die Urteilsaufhebung bedingenden Rechtsfehler nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Im Falle einer neuerlichen Verurteilung des Angeklagten bedürfen sie allerdings – wie ausgeführt – der Ergänzung.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO).
IV. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat noch auf Folgendes hin: Aufgrund des bereits dem Urteil des Amtsgerichts anhaftenden gleichartigen Erörterungs- und Darstellungsmangel ist das Landgericht im Ergebnis zu Recht von der Unwirksamkeit der vom Angeklagten erklärten Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen, weshalb das Rechtsmittel weiterhin als unbeschränkt zu behandeln ist.
Im Hinblick auf die Möglichkeit einer fakultativen Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB werden gegebenenfalls die von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Voraussetzungen (sog. kommunikativer Prozess’) näher in den Blick zu nehmen sein (vgl. neben BGH, Urteil vom 19.10.2011 – 2 StR 344/11 = StV 2012, 150 = BGHR StGB § 46a Nr. 1 und BGH, Beschluss vom 20.09.2016 – 3 StR 174/16 [bei juris] auch OLG Bamberg, Urteil vom 19.09.2006 – 3 Ss 106/05 = NStZ-RR 2007, 37, jeweils m. w. N.).
Bei der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe ist nicht die einer Vorverurteilung zugrunde liegende Gesamtstrafe einzubeziehen, sondern die jeweiligen Einzelstrafen.