Aktenzeichen Ks 104 Js 5331/17, Ks 104 Js 5638/17
Leitsatz
1. Ein Rücktritt vom Versuch ist ausgeschlossen, wenn der Versuch fehlgeschlagen ist. Fehlgeschlagen ist der Versuch, wenn der Taterfolg aus Sicht des Täters mit den bereits eingesetzten oder zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr erreicht werden kann, ohne dass eine ganz neue Handlungs- und Kausalkette in Gang gesetzt wird (Bestätigung von BGH BeckRS 2015, 2708). Maßgeblich ist dabei die Sicht des Täters unmittelbar nach Ende seiner letzten Ausführungshandlung. (Rn. 364 – 365) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein unbeendeter Versuch kommt auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seiner letzten Tathandlung den Eintritt des Taterfolgs zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne diesen doch nicht herbeiführen, und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Verwirklichung des Taterfolges absieht (Bestätigung von BGH BeckRS 2020, 17786). (Rn. 370) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Der Angeklagte H. N. ist schuldig des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
2. Er wird deshalb zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
3. Im Übrigen wird der Angeklagte freigesprochen.
4. Die in der Türkei erlittene Auslieferungshaft ist im Maßstab 1:2 auf die unter Ziff. 2 verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen.
5. Der Angeklagte wird verurteilt, an den Nebenkläger S. R. ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000,– EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.04.2021 zu zahlen.
6. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Nebenklägers S. R. sowie die durch den Adhäsionsantrag des Nebenklägers entstandenen besonderen Kosten und notwendigen Auslagen des Nebenklägers. Soweit der Angeklagte freigesprochen wurde, trägt die Staatskasse die ausscheidbaren Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen des Angeklagten.
7. Das Urteil ist in Ziffer 5. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Angewandte Vorschriften: §§ 211 Abs. 1 und 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB Entscheidungsgründe:
A. Zu den persönlichen Verhältnissen
Gründe
I. Zu der Biographie des Angeklagten
Der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 46 Jahre alte Angeklagte wurde 1974 in Aleppo in Syrien geboren. Er ist verheiratet und syrischer Staatsangehöriger.
Der Angeklagte hat fünf Brüder und eine Schwester. Davon leben (Stand Februar 2019) zwei Brüder im Irak, ein Bruder in den Niederlanden, ein Bruder in Syrien und ein Bruder und die Schwester in Istanbul in der Türkei.
Zur Kindheit und Jugend des Angeklagten konnte die Kammer keine Feststellungen treffen. Im Jahr 1998 heiratete der Angeklagte die 1973 in Aleppo/Syrien geborene Zeugin H. S.-M.. Aus dieser Ehe ging zunächst die Tochter M. N. hervor, die amtlich 2000, möglicherweise tatsächlich auch schon ein oder zwei Jahre früher, geboren wurde. Nachdem es in der Ehe – auch während der Schwangerschaft der Zeugin S.-M. mit der M. N. – mehrfach zu Gewalttätigkeiten des Angeklagten gegenüber seiner Ehefrau kam, trennte sich diese noch während der Schwangerschaft von ihm. Etwa sechs Monate nach der Trennung wurde die Ehe geschieden. Die gemeinsame Tochter M. N. wuchs in der Folge etwa zwölf Jahre lang bei ihrer Mutter, der Zeugin S.-M., und deren Familie auf.
Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau heiratete der Angeklagte eine weitere Ehefrau namens A. N.. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor, zwei Jungen und ein Mädchen. Bei einem der Söhne handelt es sich um den A. N., der 2004 in Aleppo in Syrien geboren wurde. Der weitere Sohn heißt M. und die Tochter heißt N..
Etwa im Jahr 2012 heirateten der Angeklagte und die Zeugin S.-M., nachdem sie sich zuvor wieder angenähert hatten, erneut. Aus dieser Ehe gingen dann zwei weitere Kinder hervor, ein Junge namens R. (geboren 2014 in Aleppo/Syrien) und ein Mädchen namens F. (geboren 2013 in Aleppo/Syrien).
Die Ehe zu der genannten A. N. besteht weiter fort. Diese wohnt in Istanbul, vermutlich mit dem gemeinsamen Sohn, dem Zeugen Ab. N., und den weiteren Kindern M. und N..
Zur Berufstätigkeit des Angeklagten in Syrien konnte die Kammer keine gesicherten Feststellungen treffen.
Im August 2015 kam der Angeklagte gemeinsam mit seiner Tochter aus erster Ehe, M. N., und seinem Sohn aus zweiter Ehe, Ab. N., und einem Neffen namens M. im Rahmen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ nach Deutschland. Die Fluchtroute verlief durch die Türkei, mit einem Boot über das Mittelmeer nach Griechenland und von dort aus auf dem Landweg über Österreich nach Deutschland.
In Deutschland lebte der Angeklagte mit seiner Tochter Me., seinem Sohn Ab. und seinem Neffen M. zunächst in H., zuerst in einer Gemeinschaftsunterkunft, später in einer Wohnung in der F.straße.
Im Dezember 2016 kam die Ehefrau des Angeklagten, die Zeugin S.-M., mit den gemeinsamen Kindern R. und F. nach Deutschland.
Seit etwa Ende Januar/Anfang Februar 2017 wohnte der Angeklagte mit seiner Ehefrau S.-M. und den gemeinsamen Kindern M., R. und F. N. und seinem Sohn aus zweiter Ehe Ab. N. in einer Wohnung in G..
II. Wenige Wochen vor dem 04.05.2017 nahm der Angeklagte über eine Zeitarbeitsfirma eine Tätigkeit in einem Paketlager bei der Firma G. in Sch. auf, die er bereits am 16.05.2017 wieder beendete. Zu der Vorahndung des Angeklagten Der Angeklagte ist wie folgt vorbestraft:
Mit Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg, Az. 304 Ds 102 Js 8291/16, vom 17.05.2017 wurde der Angeklagte der gefährlichen Körperverletzung in Tatmehrheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt.
Dieses Urteil ist seit dem 25.05.2017 rechtskräftig.
Der Verurteilung lagen folgende Sachverhalte zugrunde.
1. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Mai 2016 schlug der Angeklagte mit einer Krücke auf den Arm seiner Tochter M. N.. Hierdurch erlitt die Geschädigte, wie der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm, Schmerzen und Hämatome an den Armen.
2. Am Abend des 22.06.2016 gegen 22:30 Uhr schlug der Angeklagte in der Wohnung in der F.straße, H., aus Verärgerung darüber, dass seine Tochter (M. N., Anm. d. Gerichts) sich ein eigenes Facebook-Konto eingerichtet hatte, mit der Faust und der flachen Hand mehrfach auf den Körper und das Gesicht seiner Tochter ein, sodass diese, wie der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm, Schmerzen und Hämatome erlitt. Weiterhin drohte er seiner Tochter mit einer entsprechenden Geste mit dem Tode, sofern diese weiterhin Facebook nutze oder jemandem sage, dass er sie geschlagen habe. Die Geschädigte nahm diese Drohung ernst.
Sodann begab sich der Angeklagte in ein anderes Zimmer, sichtete den Chat-Verkehr und zerstörte mit einem Hammer das in seinem Eigentum stehende Mobiltelefon. Daraufhin ging der Angeklagte erneut zu seiner Tochter und schlug ihr nochmals mit der Faust und der flachen Hand ins Gesicht.
Die Staatsanwaltschaft hielt wegen sämtlicher Vorfälle wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten.
Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Amtsgericht zugunsten des Angeklagten, dass dieser nicht vorgeahndet war und den Tatvorwurf vom 22.06.2016 teilweise eingeräumt habe. Zulasten des Angeklagten wertete das Amtsgericht, dass dieser im Termin zur mündlichen Verhandlung keinerlei Einsicht oder Reue gezeigt habe. Der Angeklagte habe darauf hingewiesen, dass er erst seit kurzer Zeit in Deutschland lebe und nicht gewusst habe, dass körperliche Züchtigungen nicht erlaubt seien. Weiter berücksichtigte das Amtsgericht strafschärfend, dass der Angeklagte angegeben habe, dass die schweren Verletzungen aus der Tat vom 22.06.2016 ihm nicht zuzurechnen seien, da seine Tochter eine empfindliche Haut habe.
III. Eine Aussetzung zur Bewährung kam nach der Überzeugung des Amtsgerichts nicht in Betracht, da der Angeklagte auch noch in der Verhandlung sein Verhalten und Schläge zum Nachteil von Kindern als gerechtfertigt angesehen habe und der Angeklagte trotz mehrfacher Vorhalte des Gerichts weiter davon ausgehe, dass es sein gutes Recht als Vater sei, seine Kinder zu schlagen. Schließlich habe der Angeklagte erklärt, dass seine Tochter aufgehetzt worden sei und dass das Verfahren gegen ihn nur angestrengt worden sei, weil er Ausländer sei. Eine positive Sozialprognose konnte das Amtsgericht dem Angeklagten nicht attestieren. Zu der erfolgten Auslieferungs- und Untersuchungshaft Gegen den Angeklagten hat das Amtsgericht Aschaffenburg am 02.06.2017 betreffend das Ermittlungsverfahren 104 Js 5638/17 (Tatvorwurf zum Nachteil des S. R. am 02.06.2017), Gz. 306 Gs 893/17, einen Untersuchungshaftbefehl erlassen. Betreffend das Ermittlungsverfahren 104 Js 5331/17 (Tatvorwurf zum Nachteil der Mezgin N. am 04.05.2017) hat das Amtsgericht Aschaffenburg am 19.12.2018, Gz. 306 Gs 2385/18, einen Untersuchungshaftbefehl erlassen.
Auf Grundlage der beiden nationalen Haftbefehle sowie auf Basis des Urteils des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 17.05.2017 (s.o) wurde im Wege eines Rechtshilfeersuchens gegenüber der Republik Türkei die Auslieferung beantragt. Am 15.11.2019, rechtskräftig am gleichen Tag, erließ die 3. Große Strafkammer Istanbul, Nr. 2019/1182 D.IS, einen Haftbefehl gegen den Angeklagten; in diesem Beschluss wurde dem „Auslieferungsersuchen stattgegeben“, wobei sich das Auslieferungsersuchen auf „Totschlag“, „versuchten Totschlag“, „schwere Körperverletzung“, „körperliche Misshandlung“ und „Bedrohung“ bezog (wobei letztere beiden Tatvorwürfe das Verfahren VRs 102 Js 8291/16, Urteil v. 17.05.2017, betreffen). Der türkische Haftbefehl wurde den Auslieferungsunterlagen zufolge vollstreckt, woraufhin sich der Angeklagte Hashem N. – nicht widerlegbar – ununterbrochen vom 15.11.2019 bis zum 07.10.2020 in der Justizvollzugsanstalt Maltepe Nr. 3 Typ L in Istanbul befand. Von dort wurde er am 07.10.2020 an die Justizvollzugsanstalt Metris Nr. 1 Typ L überstellt und am 08.10.2020 an deutsche Polizeibeamte übergeben, die ihn sodann per Flugzeug nach Deutschland überführten.
Der Angeklagte befand sich ab dem 08.10.2020 in Untersuchungshaft in der
B. Justizvollzugsanstalt Aschaffenburg aufgrund der o.g. Haftbefehle vom 02.06.2017 und 19.12.2018. Die Vollstreckung der Untersuchungshaft ist seit dem 25.02.2021 zum Zwecke der Vollstreckung des Urteils des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 17.05.2017, Az. VRs 102 Js 8291/16, unterbrochen. Zu den Feststellungen zum Tatgeschehen
I. Zu den Feststellungen, soweit ein Freispruch erfolgte
1. Zum Anklagevorwurf des Mordes an M. N.
Aufgrund der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg vom 18.12.2020 lag dem Angeklagten folgender Sachverhalt zur Last:
Der Angeklagte sei der Vater der 2000 geborenen Schülerin M. N..
Da sich M. N. nach ihrer Flucht aus Syrien den westlichen Lebensgewohnheiten zugewandt habe, sei es immer wieder zu Konflikten mit dem sehr konservativ eingestellten Angeklagten gekommen, da sich die M. N. von ihrem Lebenswandel her nicht in der Weise verhalten habe, wie es der Angeklagte von ihr erwartet habe.
Bereits im Jahr 2016 sei es zu körperlichen Übergriffen des Angeklagten gegenüber der Geschädigten gekommen. Durch Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 17.05.2017, Az. 304 Ds 102 Js 8291/16, rechtskräftig seit 25.05.2017, sei der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung jeweils zum Nachteil seiner Tochter M. N. zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden.
M. N. habe mit dem Zeugen R. eine sexuelle Beziehung geführt, welche dem Angeklagten bekannt gewesen sei und diesem missfallen habe.
Deshalb habe der Angeklagte mindestens zwei Wochen vor dem 04.05.2017 den Entschluss gefasst, seine Tochter, die mit einem solchen Handeln ihres Vaters nicht gerechnet habe, zu töten, um sie für ihren Lebenswandel zu bestrafen und vermeintlich seine Ehre wiederherzustellen, ein Motiv, das nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sei und auf tiefster Stufe stehe.
Der Angeklagte, der einen Pkw Peugeot des M. Y. von diesem zur Nutzung zur Verfügung gehabt habe, habe zwei Wochen vor dem 04.05.2017 einen neuen Einlegeboden für den Kofferraum des von ihm genutzten Peugeot gekauft. Außerdem habe sich der Angeklagte mit einem Militärmesser mit schwarzem Griff und silberner Klinge bewaffnet.
In Ausführung dieses Tatplanes habe der Angeklagte am 04.05.2017 gegen 11:25 Uhr, bewaffnet mit dem soeben genannten Messer, im Bereich des Einkaufsmarktes Norma auf M. N., die sich zu diesem Zeitpunkt im Bereich der Berufsschule A., S.straße, befunden habe, gewartet. Der Angeklagte habe von seiner Tochter verlangt, dass sie mit ihm nach Hause komme, und darauf auch bestanden, als ihm M. N. erklärt habe, dass sie eigentlich bis 15:00 Uhr Schule habe. M. N. habe diesen Wunsch des Vaters ihrer Lehrerin persönlich mitteilen wollen. Daher sei M. N. mit der Zeugin C. wieder in die Berufsschule zurückgelaufen und habe die Klassenlehrerin, die Zeugin M.-T., gesucht. Nachdem sie diese nicht habe finden können, seien beide Mädchen zu der Zeugin C. gegangen. Dort habe M. N. zuvor ihren Rucksack mit ihren Schulsachen stehenlassen, welchen sie wieder an sich genommen habe, bevor sie die Berufsschule verlassen habe und sodann gegen 11:37 Uhr gemeinsam mit der Zeugin C. zum Angeklagten zurückgekehrt sei, der auf dem Parkplatz der Firma Norma mit dem blauen Pkw Peugeot 206, amtl. Kennzeichen xxx, dessen Halter M. Y. gewesen sei, auf sie gewartet habe. Im Bereich des dort befindlichen Imbisses sei die Zeugin C. wieder umgekehrt.
Der Angeklagte habe bewusst die Tatsache ausgenutzt, dass M. N. völlig arg- und wehrlos gewesen sei. Diese habe sich ahnungslos auf die Rücksitzbank gesetzt, während Ab. N., geboren am 2004, der leibliche Sohn des Angeklagten und der Stiefbruder von M. N., auf dem vorderen rechten Sitz gesessen habe. Nachdem M. N. vom Angeklagten und Ab. N. an der Berufsschule in A. abgeholt worden sei, seien sie zunächst zwei Stunden durch die Gegend gefahren. Die Fahrt sei unter anderem über eine Bundesautobahn verlaufen. Im Anschluss seien sie von der Autobahn abgefahren. Der Angeklagte habe das Fahrzeug in einen Bereich gesteuert, in dem es keine Häuser gegeben und der sich in einem Waldgebiet befunden habe. Dort habe der Angeklagte M. N., die mit keinem Angriff gerechnet habe, geschlagen und die völlig überraschte M. N. anschließend mit einem silberfarbenen Klebeband gefesselt. Danach habe der Angeklagte dem Ab. das Messer in die Hand gelegt und ihn aufgefordert, M. N. zu erstechen. Der Angeklagte habe zu Ab. N. gesagt, dass er auch sterben werde, wenn er M. N. nicht umbringe. Danach habe der Angeklagte M. N. das Messer in den Körper gesteckt, um sie zu töten, oder seinen Sohn Ab. veranlasst, dies für ihn zu tun.
Aufgrund des Drucks des Angeklagten habe entweder Ab. N. oder der Angeklagte selbst mit dem von ihm mitgebrachten Messer der M. N. drei Stiche in den Unterbauchbereich, zweimal in die linke Körperseite und einmal rechtsseitig, versetzt. M., die zu diesem Zeitpunkt mit einem silberfarbenen Klebeband gefesselt gewesen sei, habe versucht zu schreien. Dies sei aber nicht möglich gewesen, da der Angeklagte zuvor ihren Mund mit Klebeband verbunden habe. M. N., der gemäß der Absicht des Angeklagten keine Möglichkeit der Abwehr geblieben sei, sei verstorben. Im Anschluss habe der Angeklagte die Tote M. allein in den Kofferraum gelegt. Zuvor habe er sie an den Füßen über den Boden gezogen. Im Anschluss habe der Angeklagte den Leichnam von M. im Kofferraum des Fahrzeuges transportiert.
Nach der Tat habe der Angeklagte Ab. zu der Wohnanschrift gefahren, wo dieser ausgestiegen sei.
Sodann habe der Angeklagte allein die Leiche zu dem Waldgebiet „F.“ A., Ortsteil G., transportiert und sie dort in einem zuvor von ihm ausgekundschafteten und nicht mehr betriebenen Betonschacht, der zur Lagerung von Wildfutter errichtet worden sei, verborgen. Der Betonschacht habe einen Innendurchmesser von 100 cm gehabt und sei insgesamt ca. 90 cm tief gewesen. Der Betonschacht sei mit einer quadratischen Metallplatte abgedeckt gewesen.
Nach der Tat habe der Angeklagte das Fahrzeug an einer Tankstelle gereinigt. Der Angeklagte habe nach der Tat auch den Boden des Kofferraums ausgetauscht.
Am Sonntag, den 09.12.2018, 11:45 Uhr, sei im Waldgebiet „Am F.“, zwischen H., Ortsteil Gr., und A., Stadtteil G., das noch bekleidete Skelett von M. N. gefunden worden.
Die Leichenauffindeörtlichkeit sei von der Ortschaft G. über einen Zufahrtsweg, die sogenannte F.straße, zu erreichen. Ca. 500 bis 600 m, nachdem man in das Waldgebiet einfahre, gehe auf der linken Seite des beschriebenen Weges eine kleine Anhöhe ab, auf welcher sich unter anderem der Betonschacht befinde.
Der Angeklagte werde daher beschuldigt, aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch einen Menschen getötet zu haben, strafbar als Mord.
2. Zu den hierzu getroffenen Feststellungen der Kammer Nach der durchgeführten Beweisaufnahme hat die Kammer hinsichtlich des Vorwurfs des Mordes an M. N. folgende Feststellungen getroffen:
a) Zur Vorgeschichte
Hinsichtlich des Zusammenlebens des Angeklagten mit seiner Tochter M. N. und seinem Sohn Ab. N. in Deutschland hat die Kammer Folgendes festgestellt:
Der Angeklagte, der bis zum Nachzug seiner Ehefrau, der Zeugin S.-M., im Dezember 2016, allein mit seiner Tochter M. N. und seinem Sohn Ab. N. in Deutschland lebte, übte gegenüber beiden Kindern mehrfach Gewalt aus, wobei er diese Gewaltausübung, regelmäßig in Form von Schlägen, als probates Mittel der Erziehung ansah. Seine Tochter M. N. versuchte er nach Kräften zu kontrollieren, insbesondere hinsichtlich ihrer Kommunikation mit anderen Jugendlichen über soziale Netzwerke und hinsichtlich etwaiger Beziehungen der M. zu männlichen Personen. Der Kleidungsstil der M., die sich westlich kleidete und schminkte, war dem Angeklagten zuwider. Insoweit untersagte der Angeklagte der M. N. zwar nicht, dass sie etwa im Sommer kurze Hosen und kurze Tops anzog. Er äußerte sich allerdings etwa gegenüber dem Zeugen Y. abfällig über den Kleidungsstil seiner Tochter, die nach seiner Auffassung wie ein „Straßenmädchen“ herumlaufe.
Dass seine Tochter soziale Netzwerke nutzte, war für den Angeklagten bereits ausreichender Anlass, ihr gegenüber gewalttätig zu werden und sie zu schlagen, so auch am 22.06.2016.
Soweit seine Tochter Beziehungen zu männlichen Personen einging, war es dem Angeklagten auch hier ein Anliegen, diese nach Möglichkeit zu kontrollieren und Einfluss zu nehmen. Die Kammer konnte insoweit feststellen, dass die M. N. von Mitte Februar 2017 bis Mitte März 2017 mit dem zu dieser Zeit 17 Jahre alten Zeugen A., einem Mitschüler der Berufsschule, liiert war und sich mit diesem auch in der Schule küsste. Zu sexuellen Kontakten kam es in dieser Beziehung nicht. Von dieser Beziehung erlangte der Angeklagte Mitte März 2017 Kenntnis, nahm Kontakt zu dem Zeugen A. auf und machte diesem klar, dass dieser seine Tochter heiraten müsse, wenn er mit ihr eine Beziehung führen wolle. Ansonsten müsse diese Beziehung beendet werden. Da der Zeuge A. noch keine Hochzeit wollte, beendete er unter dem Eindruck der Äußerungen des Angeklagten die Beziehung zu M. N..
Seinen Versuchen die M. N. zu kontrollieren verlieh der Angeklagte mehrfach Nachdruck, indem er seiner Tochter androhte, dass er sie umbringen werde, wenn sie etwa weiter auf Facebook aktiv sei, sie einen Freund habe oder sie einen Freund habe, der nicht seinen Vorstellungen entspreche.
Unter dem Eindruck solcher Drohungen und aufgrund der mehrfachen Ausübung körperlicher Gewalt gegenüber seiner Tochter wurde diese von den jeweils zuständigen Jugendämtern mehrfach, zuletzt in der Zeit vom 22.04.2017 bis zum 25.04.2017, in Pflegefamilien, bzw. im zuletzt genannten Zeitraum im Kinderheim untergebracht.
b) Zur Beziehung zwischen M. N. und dem Zeugen S. R.
Zum Zustandekommen der Beziehung zwischen M. N. und dem Zeugen R. konnte die Kammer Folgendes feststellen:
Erstmals sah der Zeuge R. die M. N. auf einem Foto, das ihm sein Cousin B. S. im Frühjahr des Jahres 2017 zeigte. Bei einer Veranstaltung in A. anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes am 21.03.2017 sah der Zeuge R. die M. N. dann erstmals selbst, wobei es hier noch zu keinem persönlichen Kontakt zwischen beiden kam. Kurze Zeit nach diesem Fest nahm der Zeuge R. Kontakt zum Stiefbruder der M. N., dem Zeugen Ab. N., auf und sagte diesem, dass er die M. N. liebe. Er übergab dem Zeugen Ab. N. auch einen kleinen Geldbetrag, damit dieser ihm den Namen des FacebookProfils der M. N. verrate und bat den Ab. N., dass dieser doch organisieren solle, dass er und M. N. sich kennenlernen können. Daraufhin schrieb der Zeuge R. die M. N. über einen Messenger-Dienst an, ob sie eine Beziehung mit ihm eingehen wolle, was diese jedoch ablehnte. In der Folgezeit gab es bis Anfang April 2017 keinen Kontakt zwischen dem Zeugen R. und der M. N..
Ab Anfang April telefonierten und schrieben sich der Zeuge R. und die M. N. dann regelmäßig. Zwischen Anfang und Mitte April kam es sodann zum ersten persönlichen Treffen, wobei bei diesem auch der Zeuge Ab. N. anwesend war, der das Treffen organisiert hatte. Damit der Zeuge Ab. N. dem Angeklagten nichts von dem Treffen erzählte, übergab der Zeuge R. ihm erneut einen kleinen Geldbetrag. Zu einem weiteren persönlichen Treffen kam es am 20.04.2017, wobei die M. N. an diesem Tag kurz zuvor ihren elterlichen Haushalt verlassen hatte. Grund hierfür war, dass die M. N. davon ausging, dass der Zeuge Ab. N. dem Angeklagten doch von dem Treffen zwischen ihr und dem Zeugen R. erzählt hatte und sie angesichts der seitens des Angeklagten in der Vergangenheit mehrfach geäußerten Ankündigung, er werde sie umbringen, wenn sie einen Freund habe, Angst um ihr Leben hatte. Die Zeit vom 20.04.2017 bis zum 22.04.2017 verbrachte die M. N. gemeinsam mit dem Zeugen R.. In dieser Zeit übernachteten beide in der Wohnung eines Freundes des Zeugen R. in A., in der es auch zu einem sexuellen Kontakt zwischen beiden kam, wobei die Kammer nicht feststellen konnte, ob es hier „nur“ zum Oralverkehr oder aber auch zum Geschlechtsverkehr im Sinne eines vaginalen Eindringens kam. Wann der Angeklagte Kenntnis von diesem sexuellen Kontakt erlangte, konnte die Kammer nicht sicher feststellen. Davon, dass der Angeklagte noch vor dem Verschwinden der M. N. hiervon Kenntnis erlangte, ist die Kammer indes überzeugt.
Am 22.04.2017 begaben sich dann M. N., der Zeuge R. und eine weitere männliche Person zum Kinderheim in A., wo M. N. aufgenommen wurde. Sie verblieb dort bis zum 25.04.2017. An diesem 25.04.2017 kam es zu einem Gespräch im Jugendamt des zuständigen Landkreises A., bei welchem der Angeklagte, seine Ehefrau (die Zeugin S.-M.), M. N., die Zeuginnen B. und R. (beide Mitarbeiterinnen des Jugendamtes), sowie der Zeuge Y. als Dolmetscher anwesend waren. Im Rahmen dieses Gespräches entschied die M. N., wohl auch unter dem Einfluss ihrer Mutter, wieder zu ihrer Familie zurückzukehren. Nach diesem Gespräch traf die M. N. zumindest noch kurz auf den Zeugen R., wobei dieser ihr mitteilte, dass er nicht mit ihr zusammen sein könne, wenn sie wieder zu ihren Eltern zurückgehe. Daraufhin schlug die M. N. dem Zeugen R. mit der flachen Hand in das Gesicht, wobei dieser Schlag nicht zu einer Beendigung der Beziehung zwischen beiden führte. Dies war das letzte Treffen zwischen M. N. und dem Zeugen R., das die Kammer feststellen konnte. In der Folgezeit kommunizierten M. N. und der Zeuge R. nur noch über ihre Mobiltelefone, da der Angeklagte und seine Ehefrau weitere persönliche Treffen bis zu einer Hochzeit zwischen beiden untersagt hatten.
Ob der Angeklagte mit der Beziehung zwischen seiner Tochter M. N. und dem Zeugen R. einverstanden war, konnte die Kammer nicht sicher feststellen. Zumindest bei dem Gespräch im Jugendamt am 25.04.2017 äußerte sich der Angeklagte dahingehend, dass er mit der Beziehung einverstanden sei, wenn beide heiraten würden; mit einer Hochzeit erklärte er sich hierbei ausdrücklich einverstanden.
Am 02.05.2017 besuchte die M. N. erstmals nach den Osterferien (diese endeten bereits am 21.04.2017) wieder die Berufsschule.
Zum Zeitraum vom 26.04.2017 bis zum 03.05.2017 konnte die Kammer ansonsten keine näheren Feststellungen treffen.
c) Zu den Geschehnissen am 03.05.2017 und am 04.05.2017 In der Nacht vom 03.05.2017 auf den 04.05.2017 kam es in der Wohnung der Familie N. zu einem längeren Gespräch zwischen dem Angeklagten, seiner Ehefrau, der Zeugin S.-M., und der M. N.. Inhalt des Gespräches, das erst gegen 02:00 Uhr am 04.05.2017 endete, war im Wesentlichen eine Beratung über die anstehende Hochzeit zwischen M. N. und dem Zeugen R.. Vereinbart wurde u.a., dass am kommenden Wochenende, also am 06.05.2017 bzw. 07.05.2017, ein gemeinsames Telefongespräch mit den Eltern des Zeugen R. stattfinden sollte, bei welchem die näheren Modalitäten der Hochzeit geklärt werden sollten. M. N. und der Zeuge R. hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt erst dreimal persönlich getroffen.
Am Morgen des 04.05.2017 begab sich der Angeklagte zunächst zu seiner Arbeitsstelle bei der Firma G. Sch., wo er von 05:00 Uhr bis 07:00 Uhr arbeitete. Seine Arbeitsstelle erreichte er, wie üblich, mit dem ihm vom Zeugen Y. (einem Nachbarn des Angeklagten, der diesem und seiner Familie in der Vergangenheit immer wieder ausgeholfen und für diese gelegentlich gedolmetscht hat) kostenfrei zur Nutzung überlassenen blauen Pkw Peugeot, amtl. Kennzeichen ***.
Gegen 07:30 Uhr kehrte der Angeklagte wieder an seine Wohnanschrift zurück und fuhr zunächst seine Tochter M. N. mit dem Auto zur Berufsschule in A.. Sodann kehrte er wieder nach Hause zurück und fuhr anschließend seinen Sohn Ab. N. zur Mittelschule in G..
Spätestens gegen 11:00 Uhr fuhr der Angeklagte dann erneut mit dem o.g. Peugeot zur Berufsschule in A., um seine Tochter M. N. abzuholen. Er parkte das Fahrzeug auf dem Parkplatz des Einkaufsmarktes Norma in A..
M. N. ging an diesem Schultag zunächst davon aus, dass sie nur bis 11:20 Uhr Unterricht in der Berufsschule habe. Tatsächlich hätte sie jedoch bis 15:10 Uhr am Unterricht teilnehmen können, was sie im Laufe des Vormittages erst erfuhr. Gegen 11:20 Uhr begab sich die M. N. dann in Begleitung der Zeugin C. von der Berufsschule zum o.g. Norma-Parkplatz, um ihrem Vater mitzuteilen, dass sie länger in der Schule bleiben müsse. Hierzu liefen die M. N. und die Zeugin C. vom Gebäude der Berufsschule I über einen Weg zwischen der F.A.N. F.-Arena und dem Parkhaus Unterfrankenhalle zum Norma-Parkplatz, wobei die Entfernung etwa 200 Meter beträgt. Auf dem Norma-Parkplatz trafen sie den an dem Pkw Peugeot wartenden Angeklagten. Es kam sodann zu einem Gespräch zwischen dem Angeklagten und der M. N., dessen genauen Inhalt die Kammer nicht feststellen konnte, in dessen Verlauf der Angeklagte der M. N. aber klar machte, dass sie mit ihm nach Hause kommen solle. Gegen 11:32 Uhr schickte die M. N. dem Zeugen R. eine Sprachnachricht mit folgendem Inhalt:
„Äh, was soll ich sagen, bis 15:00 Uhr hamer oder, frag ich sie jetzt und sag ob ich kann jetzt auch gehen, weil ich hab kein bock mehr, da und meine Vater ist schon da.“ Der Zeuge R. entgegnete: „Dann geh doch einfach“, worauf die M. N. erwiderte „Keine Ahnung“.
Gegen 11:32 Uhr schickte die M. N. dem Zeugen R. außerdem noch eine Textnachricht mit zwei lachenden Smileys.
M. N., die ihren Rucksack noch in der Schule hatte, begab sich sodann gemeinsam mit der Zeugin C. wieder zurück zum Gebäude der Berufsschule I. Dort angekommen suchte sie zunächst ihre Klassenlehrerin, die Zeugin M.-T.. Nachdem sie diese nicht finden konnte, gingen beide zu der in der Schule als Sozialpädagogin tätigen Zeugin C.. Bei dieser hatte die M. N. zuvor auch ihren Rucksack abgestellt, den sie nun wieder an sich nahm.
Gemeinsam mit der Zeugin C. verließ die M. N. das Gebäude der Berufsschule I erneut und beide liefen los in Richtung des o.g. Norma-Parkplatzes. Noch im Bereich des gemeinsamen Pausenhofes der Berufsschulen, etwa auf Höhe eines dort befindlichen Imbisses, verließ die Zeugin C. die M. N. und kehrte zur Berufsschule zurück, da die Pause um 11:40 Uhr endete. Um 11:37 Uhr schickte die M. N. der Zeugin C. noch eine Textnachricht mit den Worten „Sagst du“. Die Antwort, die die Zeugin C. der M. N. um 11:38 Uhr schickte, wurde noch zugestellt, aber nicht mehr gelesen. Kurz nach dem Beginn der nächsten Schulstunde um 11:40 Uhr teilte die Zeugin C. der Zeugin M.-T. mit, dass die Me. N. habe nach Hause gehen müssen.
M. N. hingegen begab sich in dieser Zeit mit ihrem Rucksack erneut zu ihrem Vater, der auf dem o.g. Norma-Parkplatz auf sie wartete und den sie dort traf.
Ob M. N. in das Fahrzeug ihres Vaters einstieg oder ob sie eine Mitfahrt ablehnte, etwa mit der Behauptung, in der Schule bleiben zu müssen, und was mit M. N. in der Folgezeit geschah, konnte die Kammer nicht feststellen.
Telefonisch war die M. N. etwa ab 11:38 Uhr nicht mehr erreichbar. Alle Nachrichten spätestens ab 12:58 Uhr, die der Zeuge R. auf das Mobiltelefon der M. N. schickte, konnten nicht mehr zugestellt werden.
Die Kammer kann nicht ausschließen, dass der Angeklagte nach 11:40 Uhr zunächst Brot in einem Geschäft in der Nähe des A. Hauptbahnhofes kaufte, sich ab 12:15 Uhr bei seinem Nachbarn, dem Zeugen Y., aufhielt und dort einen Kaffee trank und dass er gegen 13:00 Uhr in seine Wohnung zu seiner Ehefrau, der Zeugin S.-M., zurückkehrte, bevor er die Wohnung gegen 14:30 Uhr wieder verließ.
Sicher steht fest, dass der Angeklagte gegen 14:30 Uhr mit dem o.g. Pkw Peugeot gemeinsam mit zwei Arbeitskollegen, den Zeugen M. und M., von seiner Wohnanschrift aus wieder in Richtung seiner Arbeitsstelle in Sch. aufbrach und dort von 15:30 Uhr bis etwa 17:00 Uhr arbeitete. Fest steht weiter, dass der Angeklagte eigentlich bis etwa 20:00 Uhr hätte arbeiten müssen, am Nachmittag gegen 17:00 Uhr jedoch einen Anruf erhielt, entweder von der Zeugin S.-M. oder vom Zeugen R., in welchem ihm mitgeteilt wurde, dass die M. N. am Nachmittag nicht von der Schule nach Hause gekommen war. Daraufhin reagierte der Angeklagte betroffen und verließ seine Arbeitsstelle vorzeitig.
Noch am Abend des 04.05.2017 gegen 21:00 Uhr begab sich der Angeklagte in Begleitung seines Sohnes Ab. N., der für den Angeklagten als Dolmetscher fungierte, zur Polizeiinspektion A. und teilte mit, dass seine Tochter M. N. vermisst werde. Der Angeklagte teilte dabei mit, dass seine Tochter bis 15:00 Uhr die Schule hätte besuchen müssen. Sie sei jedoch im Laufe des Nachmittags nicht nach Hause zurückgekehrt.
d) Zu den Geschehnissen nach dem 04.05.2017
Am 06.05.2017 erschien der Angeklagte erneut bei der Polizeiinspektion A., nunmehr in Begleitung des Zeugen Y., der als Dolmetscher fungierte, obwohl er seinerseits nur gebrochenes Deutsch spricht, um seine Tochter erneut vermisst zu melden.
Am Morgen des 15.05.2017 wurden der Rucksack und ein Schal der M. N. am Mainufer in der Nähe der Berufsschule in A. aufgefunden. Wie diese dorthin kamen, konnte die Kammer nicht feststellen.
In der Folgezeit wurden umfangreiche polizeiliche Ermittlungen durchgeführt, der Verbleib der M. N. konnte jedoch bis zum Auffinden ihrer Leiche nicht geklärt werden.
Am späten Vormittag des 09.12.2018 wurde die völlig skelettierte und noch bekleidete Leiche der M. N. im Bereich des oberen F.bergs im Gemeindegebiet von 3*** H. von einem Wanderer zufällig in einem runden Betonschacht mit einem Innendurchmesser von etwa 100 cm und einer Tiefe von etwa 90 cm aufgefunden. Dieser Betonschacht, der mit einer schweren Metallplatte abgedeckt war, hatte ursprünglich als Futtersilo für Wildtiere gedient, wurde aber seit mehreren Jahren nicht mehr zu diesem Zweck genutzt. Der Fundort lag etwa 600 Meter entfernt von der ehemaligen Wohnung des Angeklagten in der F.straße in H., in der dieser mit M. und Ab. N. bis etwa Ende Januar/Anfang Februar 2017 gelebt hatte.
II. Nicht feststellen konnte die Kammer, dass es der Angeklagte war, der die M. N. getötet hat. Ebenfalls konnte die Kammer nicht feststellen, zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Art und Weise die Geschädigte zu Tode kam, ob es für eine Tötung ein Motiv gab oder nicht, ob eine Tötung geplant war oder nicht, ob die Geschädigte in Anwesenheit mehr als einer Person zu Tode kam, wie lange der Sterbeprozess sich hinzog und auf welche Art und Weise und durch welche Person die Geschädigte letztlich an das o.g. Futtersilo gelangte bzw. in selbiges verbracht wurde. Zu den Feststellungen, soweit eine Verurteilung erfolgte Dem Angeklagten H. N., der am 17.05.2017, rechtskräftig seit dem 25.05.2017, zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten ohne Bewährung verurteilt wurde, wurde am 29.05.2017 eine Ladung zum Strafantritt am 02.06.2017, 12:00 Uhr, seitens des Kriminalbeamten EKHK B. übergeben. Am Nachmittag bzw. Abend des 01.06.2017 packte der Angeklagte Kleidungsstücke in eine Tasche und verwahrte diese in dem blauen Peugeot, amtliches Kennzeichen ***, dessen Halter sein Nachbar M. Y. war. Dieser hatte dem Angeklagten unter Aushändigung eines Autoschlüssels das Fahrzeug regelmäßig zur Verfügung gestellt. Der Angeklagte beabsichtigte, sich der anstehenden Haft durch Flucht zu entziehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte er auch sein Mobiltelefon mit dem Mobiltelefon seiner Ehefrau H. S.-M. getauscht.
Am 01.06.2017 rief der Angeklagte gegen 20:10 Uhr (Gesprächsdauer eine Minute) und 20:12 Uhr (Gesprächsdauer 22 Sekunden) über den WhatsApp-Account seiner Ehefrau den Geschädigten S. R. an. Gegen 20:32 Uhr (Gesprächsdauer 26 Sekunden) rief der Geschädigte R. von seinem WhatsApp-Account den vom Angeklagten genutzten WhatsAppAccount der H. S.-M. an. In den Gesprächen fragte der Angeklagte den Geschädigten, wo er sei, woraufhin der Geschädigte angab, bei seinem Onkel zu sein. Der Angeklagte begehrte ein Treffen, welchem der Geschädigte, der zu diesem Zeitpunkt immer noch auf der Suche nach der am 04.05.2017 verschwundenen M. N., der Tochter des Angeklagten und der Freundin des S. R. war, zustimmte. Man vereinbarte ein Treffen am Bahnhof, zu welchem der Angeklagte mit dem o.g. blauen Peugeot fuhr und den er in der K-Straße in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs parkte. Am Hauptbahnhof in A. trafen sich die beiden sodann am 01.06.2017 gegen 21:00 Uhr.
Anschließend liefen der Angeklagte und der Geschädigte mehrere Stunden durch die Stadt A.. Bei den Gesprächen teilte der Angeklagte dem Geschädigten u.a. mit, dass er im Hinblick auf die am nächsten Tag anstehende Haftstrafe fliehen werde. Der Geschädigte solle, so der Angeklagte, sich um die in Deutschland verbleibende Familie des Angeklagten kümmern. Ebenfalls war der Verbleib der M. N. ein Gesprächsthema, wobei beide Gesprächsteilnehmer rätselten, wo diese sein könnte und der Angeklagte den Geschädigten auch – wie bereits in der Vergangenheit mehrfach – fragte, ob er wisse, wo die M. sei, was der Geschädigte verneinte.
Am 02.06.2017 kurz nach Mitternacht schickte die Ehefrau des Angeklagten von dem nun von ihr benutzten Telefon des Angeklagten WhatsApp-Nachrichten an den Geschädigten R. und fragte, ob der Geschädigte wisse, wo der Angeklagte sei. Der Angeklagte forderte daraufhin den Geschädigten R. auf, seiner Frau nicht zu sagen, dass der Geschädigte mit dem Angeklagten unterwegs sei. Stattdessen solle er der Ehefrau mitteilen, dass er – der Geschädigte – nicht wisse, wo der Angeklagte sei. Dies tat der Geschädigte; der Chatverkehr zwischen dem Geschädigten und der H. S.-M. fand zwischen 00:02 Uhr und 00:09 Uhr statt. Im weiteren Verlauf des Spaziergangs fing der Geschädigte an zu frösteln und er beabsichtigte einen Freund anzurufen, der ihm eine Jacke bringen solle. Der Angeklagte sagte aber, dass er dies lassen solle, er wolle nicht, dass der Freund vorbeikomme.
Am 02.06.2017 wenige Minuten vor 01:38 Uhr saßen der Angeklagte und der Geschädigte auf einer kaum beleuchteten Treppe am Mainufer, die sich vor dem Ruderclub A. 1898 e.V. in A. befindet. Der Geschädigte saß etwa zwei Stufen unter bzw. vor dem Angeklagten, aus Sicht der beiden etwas nach rechts versetzt. Zunächst befanden sich im Bereich einer der beiden wenige Meter nebenan befindlichen weiteren Treppen zwei unbekannte Passanten. Der Angeklagte fragte hierauf bezugnehmend, ob die Polizei den Geschädigten überwache. Die beiden Personen verließen sodann den Bereich, sodass schließlich der Angeklagte sich allein mit dem Geschädigten in dem kaum beleuchteten Treppenbereich am Mainufer befand. Der Geschädigte, der immer noch fror, steckte seine Arme unter sein T-Shirt. Der Angeklagte registrierte dies und kommentierte dies mit „ja, ja, mach’ das“. Der Angeklagte erkannte, dass er sich nunmehr mit dem Geschädigten in ruhiger Stimmungslage bei schlechten Lichtverhältnissen an einem einsamen Ort befand und dieser, nichts Böses ahnend, mit seinen Händen unter dem T-Shirt in seiner Wehrhaftigkeit eingeschränkt war. Er fasste spätestens in diesem Moment den Entschluss und den Willen, diese günstige Situation auszunutzen und den Geschädigten zu töten.
Der Angeklagte griff in seine Tasche, in welcher er ein Teppichmesser verwahrte, bei welchem bei gleichzeitiger Betätigung eines Kopfes und Schiebens der Klinge nach vorne selbige vorne austritt. Der Geschädigte nahm wahr, dass der Angeklagte etwas in seiner Tasche suchte, woraufhin der Angeklagte wieder die Hände aus der Tasche nahm. Kurze Zeit später, vorangegangen war wieder ein Gespräch über den Verbleib der M. N., schaute der vor und unterhalb des Angeklagten sitzende Geschädigte nach vorne auf den Main und dachte nach, wo diese sein könne. In diesem Moment schnitt der etwas höher sitzende Angeklagte in Tötungsabsicht völlig unvorhersehbar und für den Geschädigten völlig überraschend mit dem Messer, von hinten rechts um den Kopf des Geschädigten greifend, diesem in den vorderen linken Hals und zog das Messer in Richtung Kehlkopf durch. Der Geschädigte schrie und schaffte es, zumindest einen Arm aus dem T-Shirt ziehend, einen zweiten Stich- bzw. Schnittversuch des Angeklagten mit dem Arm abzuwehren. Der Angeklagte versuchte noch ein drittes Mal den Geschädigten mit dem Messer zu treffen, jedoch konnte der Geschädigte hiervor ausweichen bzw. war bereits aufgesprungen und hatte zur Flucht angesetzt.
Der Geschädigte rannte panisch schreiend mainabwärts in Richtung Stadtmitte von A., wobei der Angeklagte ihn verfolgte. Der Weg zur Stadtmitte ist unterteilt in einen unmittelbar am Main verlaufenden weniger gut beleuchteten Fuß- und Radweg und eine hiervon durch einen mehrere Meter breiten Grünstreifen getrennte, besser beleuchtete und auch für den Autoverkehr freigegebene Straße. Der Geschädigte, der u.a. im Zickzack rannte, lief schließlich auf der letztgenannten Straße und nahm hierbei wahr, dass der Angeklagte parallel hierzu auf dem Fuß- und Radweg ihm hinterherlief, den Geschädigten aber nicht einholte, weil er, der Geschädigte, schneller war. Der weiterhin schreiende Geschädigte nahm schließlich das Wohnanwesen der Familie S. in A. wahr und suchte dort Zuflucht. Bis zu diesem Moment war er bereits knapp 250 Meter vom Tatort weggerannt. Als er das vorgenannte Anwesen erreichte gingen Lichter aufgrund von Bewegungsmeldern gegen 01:39 Uhr an, er überwand eine etwa zwei Meter hohe Grundstücksbewehrung (Mauer) bzw. ein noch höheres Metalltor und gelangte in einen Innenhof. Beim Überwinden der Grundstücksbewehrung nahm der Geschädigte den Angeklagten noch auf der anderen Straßenseite wahr. Von dort rannte der Geschädigte zur Haustür, klopfte und schrie „Hilfe“, Aufmachen“ und „Bitte“. Er schlug so fest an die Tür, dass einige Glaselemente der Tür zu Bruch gingen. Die hierauf aufmerksam gewordenen Anwohner verständigten gegen 01:40 Uhr die Polizei, die gegen 01:45 Uhr dort eintraf.
Der Angeklagte gab, als der Geschädigte die Grundstücksbewehrung überwand, seine Verfolgung auf, weil er erkannte, dass er den Geschädigten nicht einholen konnte und ihm die Tatbegehung, nachdem der Geschädigte in den Innenhof gelangt war, nicht mehr nach seinem ursprünglichen Plan möglich war und ein weiteres Nachsetzen mit einem massiv gesteigerten Entdeckungsrisiko einherging.
Der Geschädigte erlitt eine ca. zehn Zentimeter lange und bis zu drei Zentimeter breite schräg verlaufende Schnittwunde an der linken Halsseite, wobei die Haut, das Unterhautfettgewebe und der flächige Halshautmuskel vollständig durchtrennt wurden. Darunter wurde eine oberflächliche Vene durchtrennt und der linke Kopfdrehermuskel von links her auf etwa 20% angeschnitten. Größere Blutgefäße und Atemwege wurden nicht eröffnet, wobei bei nur wenig größerer Schnitttiefe (ein bis zwei Zentimeter) die an der linken Halsseite senkrecht zur Schnittführung verlaufenden großen Halsgefäße eröffnet worden wären, weshalb binnen Minuten ein rascher Blutverlust bzw. eine Luftembolie mit potentiell tödlichem Ausgang zu erwarten gewesen wären. Weiterhin erlitt der Geschädigte leichte Schnittverletzungen an der rechten Hand infolge der Zerstörung der Glaselemente an der Haustür der Familie S.. Der Geschädigte befand sich in der Folge bis zum 05.06.2017 in stationärer Behandlung. Durch die Verletzung – die komplikationslos ausheilte – hat er bis heute eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe am linken Halsbereich, die bei Wetterumschwüngen schmerzt und zieht, wenn der Geschädigte schwerere Gegenstände hebt. Zudem leidet der Geschädigte unter Angst- und Schlafproblemen; eine ärztliche Behandlung deswegen hat er nicht in Anspruch genommen.
C. Zur Beweiswürdigung
I. Zu den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen Der Angeklagte hat sich zu seinen persönlichen Verhältnissen nicht eingelassen.
Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten beruhen im Wesentlichen auf den Angaben des polizeilichen Sachbearbeiters KHK A., der Angaben zu den Familienverhältnissen und zur Flucht des Angeklagten mit seiner Tochter M. und seinem Sohn Ab. nach Deutschland machte, den verlesenen Aussagen der Zeugin S.-M., die insbesondere Angaben zu ihrer Ehe mit dem Angeklagten und zur weiteren Ehe des Angeklagten, sowie zu den Kindern des Angeklagten machte, sowie den verlesenen Aussagen des Zeugen Ab. N., der in seiner Vernehmung die Fluchtroute von Syrien nach Deutschland beschrieb.
Über die unter A. getroffenen Feststellungen hinaus konnte die Kammer keine sicheren Feststellungen zum Vorleben des Angeklagten in Syrien treffen. Im Rahmen der Beweisaufnahme wurden von verschiedenen Zeugen, die den Angeklagten teilweise noch aus Syrien kannten, beispielsweise verschiedene Mutmaßungen hinsichtlich der Berufstätigkeit des Angeklagten angestellt: Der Angeklagte sei Koch gewesen (so die M. N. in einer verlesenen Zeugenaussage), er habe auf dem Bau gearbeitet, sei als Taxifahrer tätig gewesen (so der Zeuge S.), habe in einer Bar mit „tanzenden Mädchen“ gearbeitet oder habe seinen Lebensunterhalt als Schmuggler von Zigaretten, Alkohol und Drogen verdient (so der Zeuge R.). Sichere Angaben zur Berufstätigkeit des Angeklagten in Syrien konnte allerdings kein Zeuge machen.
Soweit der Zeuge Ab. N. in seiner verlesenen Vernehmung angab, der Angeklagte habe in Syrien einen Mann mit einem Kopfschuss getötet und dort auch seinen Vorgesetzten mit einem Messer angegriffen, so konnte die Kammer auf diese Aussage keine weiteren Feststellungen stützen. Objektive Beweise für diese Taten konnten nicht erhoben werden. Der Zeuge KHK A. schilderte in seiner Vernehmung, dass am 04.03.2019 eine Anfrage an Interpol Damaskus gestellt worden sei, ob der Angeklagte in Syrien bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Mit Schreiben vom 11.04.2019 habe Interpol Damaskus mitgeteilt, dass gegen den Angeklagten keinerlei strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorlägen.
Die Feststellungen zu der Vorstrafe des Angeklagten beruhen auf dem verlesenen Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 08.02.2021 sowie auf dem verlesenen Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg, Az. 304 Ds 102 Js 8291/16, vom 17.05.2017.
II. Zur Beweiswürdigung, soweit ein Freispruch erfolgte Der Angeklagte hat sich zur Sache nicht eingelassen.
1. Zur Vorgeschichte
Die Feststellungen zur Vorgeschichte beruhen im Wesentlichen auf den Angaben des Zeugen KHK A., der Angaben zu den Wohnverhältnissen der Familie des Angeklagten im Raum A. und zu Problemen in dessen Familie machte. Die Kammer hat außerdem mehrere Mitarbeiterinnen der jeweils zuständigen Jugendämter, die Zeuginnen F.-S., R., B. und R., eine Wohngruppenleiterin des Kinderheims in A., die Zeugin H., und eine ehemalige Pflegemutter der M. N., die Zeugin B., vernommen, die im Rahmen der Hauptverhandlung Angaben insbesondere zu Problemen des Angeklagten mit der Erziehung seines Sohnes Ab., zum teilweise von körperlicher Züchtigung geprägten Erziehungsstil des Angeklagten und zu Drohungen des Angeklagten gegenüber seiner Tochter M. N. gemacht haben. Diese Drohungen hatte die M. N. etwa den Mitarbeiterinnen des Jugendamtes gegenüber geschildert, was die mehrfache Unterbringung der M. N. in Pflegefamilien und im Kinderheim zur Folge hatte. Weiter hat die M. N. Drohungen und Gewalt des Angeklagten ihr gegenüber in zwei Aussagen geschildert, die die Kammer im Rahmen der Beweisaufnahme verlesen hat.
Soweit die Kammer Feststellungen zu den Familienverhältnissen getroffen hat, beruhen diese auch auf der verlesenen Zeugenvernehmung des Angeklagten sowie auf den verlesenen Zeugenaussagen seiner Ehefrau, der Zeugin S.-M..
2. Zur Beziehung zwischen M. N. und dem Zeugen R.
Die Feststellungen zur Beziehung zwischen M. N. und dem Zeugen R. beruhen im Wesentlichen auf den Angaben des Zeugen R., der den Beginn der Beziehung und den Verlauf der Beziehung bis zum Verschwinden der M. N. schilderte. Ergänzend hierzu hat die Kammer den Zeugen S., einen Cousin des Zeugen R., der die Angaben des Zeugen R. im Wesentlichen bestätigte, und den Zeugen A., der Angaben zu seiner Beziehung zu M. N. bis Mitte März 2017 machte, vernommen. Dass der Angeklagte die Beziehung seiner Tochter zum Zeugen R. zumindest anfangs nicht duldete, ergab sich insbesondere aus der verlesenen Zeugenaussage des Angeklagten selbst, aus den verlesenen Aussagen der Zeugin S.-M. sowie aus den Aussagen der vernommenen Mitarbeiterinnen des Jugendamtes, denen gegenüber die M. N. zumindest teilweise auch Angaben zu ihrer Beziehung zu dem Zeugen R. gemacht hat.
Ob es im Rahmen der Beziehung tatsächlich zu einem Geschlechtsverkehr im Sinne eines vaginalen Eindringens des Zeugen R. mit seinem Penis in die Scheide der M. N. kam, konnte die Kammer nicht sicher feststellen. Im Rahmen der Hauptverhandlung gab der Zeuge R. an, es sei nur zum Oralverkehr gekommen. Soweit er in früheren Vernehmungen von „miteinander geschlafen“ gesprochen hat, hatte die Kammer dies unter dem Eindruck des Zeugen in der Hauptverhandlung zu würdigen, in der er sich äußerst schambehaftet gezeigt hat und u.a. auch angab, dass das nackte gemeinsam in einem Bett schlafen seiner Ansicht nach auch schon ein „miteinander schlafen“ sei.
3. Zu den Geschehnissen am 03.05.2017 und am 04.05.2017 Die Feststellungen zu den Geschehnissen am 03.05.2017, insbesondere zum Gespräch in der Familie N. über die Hochzeit der M. N. mit dem Zeugen R. in der Nacht vom 03.05.2017 auf den 04.05.2017, beruhen auf den verlesenen Zeugenaussagen des Angeklagten und der Zeugin S.-M..
Die Feststellungen, die die Kammer zum 04.05.2017 bis zum Verschwinden der M. N. treffen konnte, beruhen im Wesentlichen auf den Angaben der Zeugin C., einer Mitschülerin der M. N., und den Zeuginnen M.-T. und C., die beide am 04.05.2017 als Lehrerin bzw. Sozialpädagogin mit der M. N. bis kurz vor ihrem Verschwinden Kontakt hatten. Die getroffenen Feststellungen zum Chatverkehr bzw. dem telefonischen Kontakt der M. N. mit dem Zeugen R. und der Zeugin C. beruhen im Wesentlichen auf den Angaben der vorgenannten Zeugen sowie der Zeugen KHK S. und PHM S..
Soweit die Kammer Feststellungen zum Verhalten des Angeklagten am 04.05.2017 getroffen hat, so beruhen diese auf den Angaben der Zeugin S.-M., des Zeugen Y., und der Zeugen Mu. und Mo., wobei letztere übereinstimmend angaben, der Angeklagte sei mit ihnen am 04.05.2017 gegen 14:30 Uhr zu ihrer Arbeitsstelle in Schaafheim gefahren und habe die Arbeit aufgrund eines Anrufes am Nachmittag, auf den er betroffen bzw. traurig reagiert habe, vorzeitig verlassen.
Die Feststellungen betreffend die Vermisstenanzeige des Angeklagten am Abend des 04.05.2017 beruhen auf dem verlesenen Aktenvermerk des Zeugen PHM O..
4. Zu den Geschehnissen nach dem 04.05.2017 Zu den polizeilichen Suchmaßnahmen, die im Rahmen einer Vermisstensuche begannen und schließlich in der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten mündeten, hat die Kammer die Zeugen PHK F., KHK A. und EKHK B. vernommen, die den Gang der polizeilichen Ermittlungen darstellten. Soweit der Angeklagte am 06.05.2017 erneut eine Vermisstenanzeige erstattet hat, beruht diese Feststellung auf den Angaben der in der Zum Auffinden der Leiche am 09.12.2018 im Bereich des oberen F.bergs im Gemeindegebiet von Haibach hat die Kammer die Aussage des Zeugen V.d.S. verlesen, der die skelettierte Leiche in einem dort befindlichen Betonschacht gefunden hat. Im Rahmen der Hauptverhandlung machte der Zeuge KHK A. umfangreiche Angaben zum Auffindeort selbst. Die Kammer hat auch zahlreiche Lichtbilder vom Auffindeort, von der skelettierten Leiche und von der noch an der Leiche befindlichen und sichergestellten Kleidung der Verstorbenen in Augenschein genommen.
Hauptverhandlung vernommenen Zeugin POMin C..
Aus dem verlesenen forensischanthropologischen Gutachten der Uniklinik F. am Main vom 11.03.2019 ergab sich im Wesentlichen, dass an dem Skelett der M. N. im Rahmen der durchgeführten Micro-CT Untersuchung keinerlei Verletzungen feststellbar waren, die eine Einwirkung stumpfer Gewalt belegen können. Auch knöcherne Verletzungen, verursacht etwa durch ein Messer, konnten nicht festgestellt werden. Die Todesursache sei nicht aufklärbar, ebenso der Todeszeitpunkt. Die Kammer hat zur Frage etwaiger Blutspuren insbesondere den Zeugen KHK A. vernommen. Dieser gab an, dass auch nach einer nochmaligen nach Anklageerhebung auf Veranlassung der Kammer durchgeführten Untersuchung des Bodens des Betonschachtes, des Kofferraumbodens des angeblich zum Leichentransport verwendeten Pkw Peugeot und der an der skelettierten Leiche befindlichen Kleidung der M. N., welche der Kleidung entspricht, die sie am 04.05.2017 trug, keine Blutspuren festgestellt werden konnten.
5. Zur nicht festgestellten Täterschaft des Angeklagten Nach dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) hatte die Kammer nach ihrer freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden.
Grundlage einer Sachentscheidung kann dabei nur sein, wovon die Kammer auf Grund der Hauptverhandlung voll überzeugt ist. Für eine solche Überzeugung genügt dabei ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht mehr aufkommen. Die Kammer ist sich dabei bewusst, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemand anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist, dass also bloß theoretische Zweifel an der Schuld unberücksichtigt bleiben. Andererseits genügen bloße Vermutungen für eine Verurteilung nicht (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 261 Rn. 2).
Soweit eine Verurteilung auf eine oder mehrere Indiztatsachen gestützt werden soll, so müssen diese Indiztatsachen ihrerseits feststehen, bevor Schlüsse daraus gezogen werden können. Bloße Verdachtsmomente können für den Nachweis der konkret abzuurteilenden Tat keine Indizwirkung entfalten.
Hat sich das Gericht aufgrund der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise bzw. anhand der Beweisaufnahmeergebnisse eine sichere Überzeugung gebildet, dass der erhobene Tatvorwurf zutrifft, ist der Angeklagte wegen dieser Tat zu verurteilen. Die Freisprechung aus tatsächlichen Gründen erfolgt dagegen, wenn der Tatvorwurf nicht bewiesen ist.
Das für eine Verurteilung erforderliche Maß an Sicherheit konnte die Kammer hinsichtlich des Vorwurfes des Mordes an M. N. nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht gewinnen, weshalb der Angeklagte insoweit aus tatsächlichen Gründen freizusprechen war.
a) Zu den Angaben des Zeugen Ab. N.
Der von der Staatsanwaltschaft angeklagte Lebenssachverhalt betreffend den Tod der M. N. beruht im Wesentlichen auf den Angaben des Zeugen Ab. N., die dieser bei seinen zwei ermittlungsrichterlichen Vernehmungen am 03.01.2019 bzw. am 23.02.2019 gemacht hat. Der Aufenthalt des Zeugen ist seit dem Sommer des Jahres 2019 unbekannt, weshalb eine Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht möglich war. Vermutlich hält sich der Zeuge in Istanbul auf, gesichert ist dies jedoch nicht. Die Kammer hat im Rahmen der Hauptverhandlung eine Vernehmung des Zeugen Ab. N. vom 26.05.2017 verlesen und den vernehmenden Polizeibeamten KHK Au. hierzu vernommen, sowie die zwei Videovernehmungen, die anlässlich der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen vom 03.01.2019 bzw. vom 23.02.2019 erstellt wurden, in Augenschein genommen. Bereits im Vorfeld der Hauptverhandlung hatte die Kammer ein aussagepsychologisches Gutachten in Auftrag gegeben, da dies bis zum Zeitpunkt der Anklageerhebung nicht geschehen war, welches jedoch angesichts erheblicher aussagekritischer Momente in den beiden ermittlungsrichterlichen Vernehmungen des Zeugen Ab. N. dringend angezeigt war. Dieses Gutachten hat die Sachverständige Dr. Aymans in der Hauptverhandlung erstattet. Im Ergebnis hat die Kammer erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben des Zeugen Ab. N., weshalb diese insgesamt nicht als Beweismittel, welches eine Verurteilung des Angeklagten stützen könnte, herangezogen werden kann.
aa) Zu den Angaben des Zeugen Ab. N. in seiner ersten Vernehmung (26.05.2017)
In der ersten Vernehmung am 26.05.2017 gab der Zeuge Ab. N. zusammengefasst Folgendes an: Seine Schwester M. N. habe er zuletzt am Tag ihres Verschwindens morgens gegen 6:30 Uhr gesehen. Er vermisse seine Schwester, weil er keine Lust habe, allein zu Hause zu sein. Auf die Frage, ob er wisse, wo seine Schwester sei, gab der Zeuge an, dass er glaube, dass sie nach Holland gegangen sei. In Holland lebe eine Cousine der M. N.. Weiter äußerte der Zeuge Ab. N. die Vermutung, dass die M. N. zu einem Freund gegangen sei. Er gab weiter an, auch den Zeugen R. zu kennen. Dieser sei auch schon bei ihnen zu Hause gewesen, womit sein Vater, der Angeklagte, auch einverstanden gewesen sei.
Der Zeuge Ab. N. schilderte weiter, dass der Angeklagte die M. N. regelmäßig mit dem Auto von der Schule abgeholt habe. Dies sei nur dann nicht der Fall gewesen, wenn die M. N. um 15:00 Uhr Schule aus gehabt habe, da der Angeklagte in dieser Zeit habe arbeiten müssen. Am Nachmittag des 04.05.2017 habe man den Angeklagten auf seiner Arbeitsstelle angerufen und ihm mitgeteilt, dass die M. am Nachmittag nicht von der Schule zurückgekommen sei. Daraufhin sei der Angeklagte nach Hause gekommen. Er selbst habe an diesem Tag bis 13:00 Uhr Schule gehabt. Danach sei er nach Hause gegangen, habe Hausaufgaben gemacht, gegessen und sei dann raus gegangen. Bevor der Angeklagte auf die Arbeit gegangen sei, sei er noch mit ihm Einkaufen gewesen.
Auf die Frage, ob der Angeklagte die M. nach ihrem Verschwinden gesucht habe, gab der Zeuge Ab. N. an, dass sein Vater immer nach M. gesucht habe, sie aber nicht gefunden habe. Sein Vater habe die M. nicht geschlagen, sondern ihr nur ihre Zigaretten weggenommen. Am Morgen des 04.05.2017 habe es auch keinen „Stress“ in der Familie gegeben. Er selbst gehe davon aus, dass die M. wieder nach Hause komme. Sie sei schließlich schon dreimal von zu Hause weggelaufen und dann für eine Woche, einmal auch für einen Monat, weg gewesen und anschließend wieder nach Hause gekommen. Dass sein Vater der M. N. etwas angetan habe, glaube er nicht. Dafür liebe sein Vater die M. viel zu sehr.
bb) Zu d. Angaben des Zeugen Ab. N. in seiner zweiten Vernehmung (03.01.2019)
Bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung am 03.01.2019 waren im Vernehmungszimmer der zuständige Ermittlungsrichter, die sachbearbeitende Oberstaatsanwältin, der Vormund des Zeugen Ab. N. (der Zeuge J.) und dessen „Erlebnisbetreuer“ (der Zeuge T.) anwesend. Bei dem Zeugen T. lebte der Zeuge Ab. N. zu dieser Zeit in H.. Außerdem war ein Dolmetscher anwesend, mithin also fünf Erwachsene. Bei der Vernehmung selbst fragten Richter, Oberstaatsanwältin, Vormund und Betreuer teilweise durcheinander, wobei zeitweise die Vernehmung des Ab. von dem erkennbar in forensischen Befragungen unerfahrenen Zeugen T. übernommen wurde.
In dieser ersten richterlichen Vernehmung am 03.01.2019 gab der Zeuge Ab. N. zunächst an, dass er gar nichts sagen werde, solange er seine Schwester nicht gesehen habe. Nach weiteren Diskussionen führte er aus, dass er nicht wisse, was mit der M. N. passiert sei. Auf die konkrete Frage, ob der Angeklagte die M. N. getötet habe, gab der Zeuge Ab. N. an, dass dies nicht der Fall sei. Er habe keine Ahnung und wisse es nicht.
Nach einer Unterbrechung der Vernehmung gab der Ab. N. sodann an, dass sein Vater die M. N. getötet habe. Dies habe sein Vater ihm erzählt. Dabei gewesen sei er selbst nicht. Sein Vater habe ihm auch keine Details erzählt. Mehr wisse er nicht.
Nach einer weiteren Unterbrechung gab der Zeuge Ab. N. an, dass der Angeklagte ihm gesagt habe, dass er die M. nach der Tötung in einen Wald gebracht habe. Sodann wurde die Vernehmung beendet.
In der folgenden 10-minütigen Unterbrechung, die auf der Videoaufzeichnung zu sehen und zu hören ist, fragte die Oberstaatsanwältin den Zeugen Ab. N., ob dieser „mehr oder etwas anderes“ sagen würde, wenn er seine Schwester sehen würde.
Daraufhin gab der Zeuge Ab. N., nachdem die Vernehmung wieder aufgenommen wurde, an, dass er dabei gewesen sei, als sein Vater die M. getötet habe. Im Rahmen der weiteren Befragung gab der Zeuge Ab. N. dann an, dass er selbst die M. N. getötet habe. Sein Vater habe ihm gesagt, wenn er das nicht mache, würden beide sterben. Befragt nach dem konkreten Ablauf gab der Zeuge Ab. N. zuerst an, dass sein Vater ihm gesagt habe „du musst so und so machen“. Auf die Frage, wie er seine Schwester getötet habe, sagte der Ab. N. lediglich „Messer“. Die Fragen „Und du hast das Messer genommen?“, „Er hat‘s dir gegeben?“, „Hast du zugestochen?“ beantwortete der Zeuge jeweils mit „Ja“. Eine nähere Beschreibung des Tatablaufes erfolgte zunächst nicht. Der Zeuge gab weiter an, dass er beim Abholen der M. an der Berufsschule nicht dabei gewesen sei. Der Angeklagte habe vielmehr erst die M. und dann ihn von der Schule abgeholt. Danach sei man gemeinsam zwei Stunden Auto gefahren. Dann sei man aus dem Auto ausgestiegen und der Angeklagte habe die M. geschlagen.
Auf erneute Befragung zum konkreten Tatablauf gab der Zeuge nunmehr an, dass er seiner Schwester dreimal mit dem Messer in den Bauch gestochen habe. Sein Vater habe dabei vor ihm gestanden. Die tote M. sei dann in den Kofferraum gelegt worden. Die vorgebende Frage, dass wahrscheinlich viel Blut geflossen sei, bejahte der Zeuge. Die Frage nach der Art des verwendeten Messers beantwortete der Zeuge dahingehend, dass er das Messer nicht beschreiben könne, da sein Vater zu viele Messer habe. Sodann wurde der Zeuge Ab. N. erneut zum konkreten Tatablauf befragt. Auf die vorgebende Frage, ob die M. beim Zustechen festgehalten wurde, gab der Zeuge Ab. N. an: „der hat die mit ihre Hände, mit einer Hand von hinten so gemacht“. Dies kommentierte die Oberstaatsanwältin mit den Worten „ihr, da hinten, hinten verbunden gehabt“, was der Zeuge bejahte. Die vorgebende Frage „und sie stand in dem Moment“ bejahte der Zeuge ebenfalls, wie auch die vorgebende Frage, ob auch die Beine zusammengebunden gewesen seien. Sodann fragte die Oberstaatsanwältin „mit einem Klebeband, oder?“ worauf der Zeuge nunmehr mit „Nein“ antwortete und sagte, dass es ein normales Band gewesen sei. Die nächste vorgebende Frage, ob auch der Mund zugeklebt gewesen sei, bejahte der Zeuge wieder, wobei er auf Frage angab, dass das Klebeband silberfarben gewesen sei. Auch der weitere Verlauf der Vernehmung war von geschlossenen und vorgebenden Fragen geprägt.
Der Zeuge Ab. N. gab an, dass er bei seiner Schwester an diesem Tag keine Tasche gesehen habe. Er führte auf weitere Befragung aus, dass man zwei Stunden zum Tatort gefahren sei, unter anderem auch über eine Autobahn. Die Frage, ob die M. stark geblutet habe, als sie in den Kofferraum gelegt worden sei, beantwortete der Zeuge mit „Ja“. Außerdem schilderte der Zeuge, dass sein Vater den Kofferraumboden ausgewechselt habe. Wo der Angeklagte die Leiche abgelegt habe, habe dieser ihm nicht verraten.
Auf erneute Frage, wie er zugestochen habe, gab der Zeuge an, dass er der M. zweimal in die linke Seite und einmal in die rechte Seite des Bauches gestochen habe. Ihre Hände seien dabei vor ihrem Körper gefesselt gewesen. Nach dem Zustechen habe sein Vater das Klebeband, nachdem er die M. in den Kofferraum des Fahrzeugs gelegt habe, wieder abgemacht, da „ihre Fingerabdrücke“ darauf gewesen seien. Das Klebeband habe sein Vater dann mitgenommen.
cc) Zu den Angaben des Zeugen Ab. N. in seiner dritten Vernehmung (26.02.2019)
Am 26.02.2019 wurde der Zeuge Ab. N. erneut ermittlungsrichterlich vernommen. Hierbei machte er zum Tatablauf im Wesentlichen folgende Angaben: Beim Abholen der M. an der Berufsschule sei er dabei gewesen. Die M. habe ihre Tasche dabeigehabt. Dann sei man zwei Stunden mit dem Auto gefahren, wobei die einzige Kommunikation im Auto die gewesen sei, dass er die M. gefragt habe, wie ihr Tag gewesen sei. Die M. habe im Fahrzeug nicht gesprochen. Der Angeklagte habe im Fahrzeug auf die Frage des Zeugen, wo man hinfahre, nur gesagt, dass er sich überraschen lassen solle. Das eigentliche Kerngeschehen beschrieb der Zeuge im freien Bericht wie folgt: Man sei dann da hingefahren. Der Angeklagte habe ihm gesagt, er solle das machen. Er selbst habe das dann machen müssen.
Auf Nachfrage gab der Zeuge an, dass man zwei Stunden lang gefahren sei und die Tat sich dann in einem Waldstück ereignet habe. Sein Vater habe die M. mit einem Klebeband an den Händen gefesselt und ihr den Mund zugeklebt, wobei das Klebeband weiß gewesen sei. Die Farbe korrigierte der Zeuge nach einem Vorhalt des Richters sodann auf „silberweiß“. Die Hände der M. seien hinter dem Körper gefesselt gewesen. Dann habe er dreimal zustechen müssen. Bei dem Messer habe es sich um ein Militärmesser mit schwarzem Griff und silberner Klinge gehandelt, wobei die Klinge etwa 20 cm lang gewesen sei. Die M. habe geblutet. Das Blut sei sogar auf den Boden getropft. Die Frage, ob die Kleidung der M. mit Blut durchtränkt gewesen sei, beantwortete Zeuge mit „ich glaube ja“. Danach habe der Angeklagte die M. in den Kofferraum gelegt. Auch dabei habe die M. noch geblutet. Sein Vater habe ihn dann zwei Straßen entfernt von der Wohnanschrift in G. aus dem Fahrzeug aussteigen lassen und sei mit der M. im Kofferraum weitergefahren. Wohin wisse er nicht. Sein Vater sei dann wieder nach Hause gekommen und um 15:00 Uhr wieder zu seiner Arbeit gefahren. Er selbst sei zu Hause gewesen und habe seine Hausaufgaben gemacht.
Befragt zum Ablauf des 04.05.2017 gab der Zeuge an, dass er bis 13:00 Uhr in der Schule gewesen sei, wobei er in den letzten beiden Stunden Sportunterricht gehabt habe. Dann sei er mit seinem Vater zum Einkaufen gefahren und sodann zurück in die Wohnung zu seiner Stiefmutter, da diese kein Essen mehr zu Hause gehabt habe. Danach seien sie zusammen zur Berufsschule gefahren. Dort habe man direkt an einer Bushaltestelle angehalten und die M. sei allein zum Auto gekommen. Eine Freundin der M. habe er nicht wahrgenommen.
Die Fahrt zum Tatort habe über die Autobahn A7 geführt. Das habe er auf einem Straßenschild gelesen. Hinfahrt und Rückfahrt hätten jeweils zwei Stunden gedauert.
Im Rahmen der weiteren Befragung zum Tatablauf gab der Zeuge dann an, dass sein Vater nicht blutverschmiert gewesen sei, da er während der Tat ganz an der Seite neben ihm gestanden habe. Auf die Frage, ob der Angeklagte das Klebeband von der M. wieder abgemacht habe, gab der Zeuge an, dass der Angeklagte das Klebeband nicht abgemacht habe. Dies sei noch dran gewesen, als der Angeklagte die M. in den Kofferraum gelegt habe. Bei der Tat selbst seien die Hände der M. hinten gefesselt gewesen.
dd) Zu den weiteren die Aussage des Ab. N. betreffenden wesentl. Beweismitteln Die Kammer hat die Angaben des Zeugen T. in seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung vom 03.01.2019 verlesen, der unter anderem schilderte, dass der Zeuge Ab. N. ihm am 28.12.2018 unter Tränen gesagt habe, dass sein Vater seine Schwester umgebracht habe, ohne aber Details zu nennen. Der Zeuge Ab. N. habe ihm auch nicht gesagt, woher er dies wisse. Er selbst habe bei dem Zeugen „nachgebohrt“, um herauszubekommen, warum der Vater das getan habe.
Weiter hat die Kammer auch den Zeugen J., der ab dem Untertauchen des Angeklagten im Juni 2017 zum Vormund des Ab. N. bestimmt war, in der Hauptverhandlung vernommen. Der Zeuge J. schilderte in seiner Vernehmung insbesondere, dass der Ab. N. in der Zeit, in der er ihn betreut habe, völlig „außer Rand und Band“ gewesen sei. Dieser sei in mindestens zehn verschiedenen pädagogischen Einrichtungen untergebracht worden, im Ergebnis sei er aber in keiner dieser Einrichtungen führbar gewesen, weshalb letztlich der Versuch einer Einzelbetreuung durch den Zeugen T. unternommen worden sei. Mit dem Zeugen T. sei der Ab. N. dann nach Hamburg gegangen. Ihm gegenüber habe der Ab. N. keine konkreten Angaben zum Tod seiner Schwester gemacht.
Zum Verhalten des Zeugen Ab. N. hat die Kammer auch dessen ehemalige Lehrerin aus der Mittelschule, die Zeugin E., vernommen, die ein höchst auffälliges Verhalten des Zeugen in der Schule, geprägt von Beleidigungen, hoher Aggressivität und teils erheblichen körperlichen Angriffen gegenüber Mitschülern, beschrieb. Der Ab. N. habe sehr oft gelogen und immer wieder versucht, mit martialischen Geschichten Eindruck bei seinen Mitschülern zu hinterlassen. Die Zeugin schilderte weiter, dass der Ab. N. am 04.05.2017 sicher bis 13:00 Uhr am Sportunterricht in der Schule teilgenommen habe und diesen sicher nicht vorzeitig verlassen habe, was sie u.a. anhand von noch aufbewahrten Unterlagen aus dem Jahr 2017 nachvollzogen habe.
Aus einem verlesenen Aktenvermerk des Kriminaldauerdienstes in Dresden vom 31.12.2018 ergab sich weiter, dass der Zeuge Ab. N. dort keine Angaben zur eigentlichen Tat machte, der Zeuge T. aber angegeben hatte, für den Ab. N. zu sorgen und mit diesem täglich zwei bis drei Stunden zu „Therapiezwecken“ über die Erlebnisse des Ab. zu sprechen.
b) Zum eingeholten aussagepsychologischen Gutachten Im Rahmen der Hauptverhandlung erstattete die Sachverständige Dr. Aymans – Fachpsychologin für Rechtspsychologie und Forensische Psychologie – ein aussagepsychologisches Gutachten zu den Angaben des Zeugen Ab. N..
Die Sachverständige, der die Zeugenaussagen des Ab. N., auch in Form der von der Kammer in Augenschein genommenen Videoaufzeichnungen dieser Vernehmungen, die Vernehmungen der Zeugin E. (Lehrerin des Zeugen Ab. N.), des Zeugen T. (Erlebnisbetreuer des Ab. N.) und des Zeugen J. (Vormund des Ab. N.), mehrere polizeiliche Aktenvermerke, u.a. von der KPI A., dem LKA H. und der Polizeidirektion D., zwei Hilfeplanberichte des Christopherus Jugendwerkes betreffend den Ab. N. und zwei Befunde der Kinder- und Jugendpsychiatrie W. sowie die eigenen Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung am 14.04.2021 zur Verfügung standen, gab an, dass aufgrund der umfassenden vorliegenden Materialien, insbesondere auch aufgrund der Videoaufzeichnungen der hier relevanten Zeugenaussagen, die Erstattung eines Gutachtens auch ohne eigene Exploration des Zeugen Ab. N. möglich sei.
aa) Zu persönlichkeitsbezogenen, eine falsche Aussage begünstigenden Anhaltspunkten Im Rahmen ihrer aussagepsychologischen Bewertung der Angaben des Zeugen Ab. N., insbesondere in den ermittlungsrichterlichen Vernehmungen am 03.01.2019 bzw. 26.02.2019, erläuterte die Sachverständige, dass ihr über den Zeugen diverse Verhaltensbeobachtungen ab dem Jahr 2016 vorgelegen hätten. Unter anderem sei bei dem Zeugen Ab. N. eine Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F91.2) diagnostiziert worden, die durch die Kombination von andauerndem dissozialen oder aggressiven Verhalten und mit einer deutlichen und umfassenden Beeinträchtigung der Beziehungen des betroffenen Kindes zu anderen verbunden sei. Hinsichtlich des Zeugen seien ein oppositionelles und sozial unerwünschtes Verhalten, dissoziale Verhaltensweisen wie Weglaufen, Schuleschwänzen, Lügen, delinquentes Handeln, antisoziales und aggressives, teils massiv tätlichangreifendes, potenziell lebensbedrohliches Verhalten anderen gegenüber beschrieben worden. Dabei handele es sich nicht nur um ein vorübergehendes oder situatives Verhaltensmuster, sondern um ein situationsübergreifendes Muster von dissozialen, aggressiven oder oppositionellaufsässigen Verhaltensweisen.
Neben der Störung des Sozialverhaltens sei eine Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10: F94.2) diagnostiziert worden, wobei eine solche Bindungsstörung durch ein besonderes Muster abnormer sozialer Funktionen charakterisiert sei, bei dem abnormes Bindungsverhalten im Verlauf der späteren Kindheit in aufmerksamkeitssuchende und diffuse Bahnen gelenkt werde.
Beim Zeugen Ab. N. sei insgesamt von einer tiefgreifenden Störung auszugehen. Die genannten Besonderheiten im Verhalten und Erleben des Zeugen stellten einen gewichtigen, in der Person liegenden Faktor dar, der die Wahrscheinlichkeit erhöhe, in bestimmten Situationen gerade unbeliebten Erwachsenen gegenüber bewusst falsche Aussagen zu tätigen. Ebenfalls sei bei dem Zeugen von einem hohen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit auszugehen, das ebenfalls situativ zur Produktion eindrucks- und gewaltvoller Geschichten ohne Erlebnishintergrund führen könne, um sich Aufmerksamkeit zu sichern. Dies könne etwa durch provokante Lügengeschichten, die gleichzeitig sein Bedürfnis nach männlichaggressivkriegerischer Selbstdarstellung befriedigen, geschehen. Aus der Auswertung der ihr zur Verfügung stehenden Unterlagen habe sich ergeben, dass sich der Zeuge auch in der Vergangenheit (abgesehen von den zu beurteilenden Aussagen im hiesigen Verfahren) in ein vermeintlich heldenhaftes und martialischkriegerisches Licht gesetzt habe.
Bei dem Zeugen Ab. N. handele es sich um einen bindungsgestörten jungen Menschen mit einem sehr ausgeprägten dissozialen Verhaltensmuster, mitverursacht mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Kriegs- und Fluchterlebnisse, aber auch durch ein hoch dysfunktionales Familiensystem, in dem der Zeuge väterliche Gewalt erlebt habe, zunehmend aber auch eine besondere Rolle in Bezug auf seinen Vater als Verbündeten gespielt habe. Der Zeuge Ab. N. habe aufgrund seiner Lebenssituation gelernt, sich taktisch zu verhalten, wobei der Zeuge dazu neige, sich mit Lügengeschichten zu inszenieren oder aber sich in misslichen Lagen damit einen scheinbaren Vorteil zu verschaffen. In einer Gesamtschau ergebe sich ein Bild von einem Jugendlichen mit sehr geringer subjektiver Wahrheitsverpflichtung. Es sei daher damit zu rechnen, dass der Zeuge Ab. N. in Befragungssituationen, bei denen er unter Stress gerate, seine Angaben nicht an eigenen Erinnerungen ausrichte. In solchen Situationen, wie sie sich auch bei den beiden ermittlungsrichterlichen Vernehmungen vom 03.01.2019 bzw. 26.02.2019 dargestellt hätten, greife bei dem Zeugen zudem sein hohes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Diese mache den Zeugen dafür anfällig, verbal drastische Inszenierungen zu produzieren, deren Inhalte nicht oder nur teilweise auf tatsächlich Erlebtem basierten. Dieses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit mache den Zeugen gerade in Stresssituationen in besonderem Maße auch dafür anfällig, auf suggestive Angebote in Gesprächen mit Erwachsenen, die für ihn Autoritäten darstellen, einzugehen und fiktive Geschichten über eigenes Erleben oder Handeln zu produzieren.
Hinsichtlich der Aussagetüchtigkeit des Zeugen könne das Vorliegen einer geistigen Behinderung oder einer Erkrankung mit psychotischen Symptomen ausgeschlossen werden. Ebenso sei der Zeuge in der Lage gewesen, vermeintliche oder tatsächliche Erinnerungen in der deutschen Sprache ausreichend zu kommunizieren. Das vorliegende widersprüchliche Aussagebild sei demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durch eine Einschränkung der Aussagetüchtigkeit zu erklären.
In einer Gesamtschau weise der Zeuge Ab. N. Besonderheiten in seiner Persönlichkeit auf, die seine Bereitschaft, fiktive oder teilweise fiktive Berichte über sich und andere zu produzieren – im Bewusstsein darüber, dass sie nicht oder nicht gänzlich zutreffen – deutlich erhöhe. Die Persönlichkeit des Zeugen prädestiniere ihn zugleich für eine erhöhte Bereitschaft, auf suggestive Angebote in Gesprächen, insbesondere mit Erwachsenen, einzugehen. Die Möglichkeit einer freiwilligen oder befragungsinduzierten falschen geständigen Einlassung sei damit bereits durch seine Persönlichkeitseigenarten erhöht. Die Wahrscheinlichkeit falscher selbstbelastender Angaben des Zeugen werde noch gesteigert, wenn in einer Vernehmung ungünstige suggestive Befragungsweisen und situative Faktoren, die den Stress des Zeugen erhöhen und ihn in gewohnte aggressive Verhaltensmuster drängen, hinzukommen.
bb) Zu Anhaltspunkten einer Falschaussage aufgrund der Entstehung/Entwicklung der Aussage Die Sachverständige führte weiter aus, dass falsifikationsorientiert bereits aufgrund der widersprüchlichen Angaben des Zeugen zur Sache die Annahme einer bewusst falschen selbstbezichtigenden Einlassung nicht zurückzuweisen sei. Der Zeuge habe im Jahr 2017 zunächst angegeben, er habe nicht gewusst, was mit M. passiert sei. Ende des Jahres 2018 habe der Zeuge angegeben, dass er glaube, dass sein Vater die M. getötet habe. In seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung vom 03.01.2019 habe der Zeuge erst angegeben, nichts über den Verbleib der M. zu wissen, dann habe der Zeuge geschildert, von seinem Vater erfahren zu haben, dass dieser die M. getötet habe, sodann, dass er dabei gewesen sei, als sein Vater die M. getötet habe und schließlich, dass er selbst, im Beisein und auf Aufforderung seines Vaters, die M. getötet habe.
Es sei zwar denkbar, dass der Zeuge ab Entdeckung des Leichnams seiner Halbschwester Ende des Jahres 2018 eigenes aktives Tatverhalten zunächst verdecken und den Verdacht auf seinen Vater habe lenken wollen. Das ambivalente Aussageverhalten des Zeugen sei auch im Falle eines späteren zutreffenden Geständnisses möglicherweise erklärbar. Im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren in der Entstehung der Aussage könne es aber mindestens genauso wahrscheinlich zu einem falschen Geständnis gekommen sein.
So sei die Situation der Entstehung der Aussage des Zeugen durch Komponenten geprägt gewesen, die, vor dem Hintergrund seiner Neigung zu impulsivem, provokantem und offen aggressivem Verhalten und seiner mangelnden Wahrheitsverpflichtung, falsche Angaben begünstigt haben können. Der Zeuge habe sich in einer Stresssituation befunden, da er im Beisein mehrerer Erwachsener der Person des Ermittlungsrichters gegenüber habe aussagen müssen, wobei es sich für ihn bei dem Ermittlungsrichter um eine, wenn auch mit Verachtung bedachte, Autoritätsperson gehandelt habe. Der Betreuer T. und der Vormund J. hätten in ihren Vernehmungen zuvor geäußert, dass sie „fast sicher“ seien, dass der Zeuge Ab. N. bei der Tötung der M. zugegen gewesen sei. Diese Voreinstellung sei durch den Ermittlungsrichter dann offen an den Zeugen herangetragen worden, bevor dieser seine – im Ergebnis den Angeklagten belastende – Aussage gemacht habe: Dem Zeugen sei in der Vernehmung wiederholt sowohl vom Ermittlungsrichter als auch von der anwesenden Oberstaatsanwältin verbal nahegelegt worden, dass man sicher sei, dass er nicht alles sage, was er wisse. Eine solche Voreinstellung habe das Verhalten der Befragungen geprägt und eine Erwartungshaltung beim Zeugen aufgebaut, mehr anzugeben, als er es bisher getan habe.
In einer solchen Befragungssituation könne es bei psychisch labilen Jugendlichen mit den beschriebenen Eigenarten des hiesigen Zeugen schnell zu falschen Angaben kommen.
cc) Zu situativen Risikofaktoren in den konkreten ermittlungsrichterlichen Vernehmungen Neben den Risikofaktoren in der Person des Ab. N. für die Produktion einer Falschaussage und der Betrachtung der Entwicklung der Aussage seien, so die Sachverständige, die unmittelbaren situativen Bedingungen der Vernehmung zu bewerten.
(1) Zum Ablauf der ermittlungsrichterlichen Vernehmung am 03.01.2019 Zusammengefasst machte die Sachverständige zu den Rahmenbedingungen der ermittlungsrichterlichen Vernehmung, zum Verhalten und zur Aussagebereitschaft des Zeugen sowie zur Befragungstechnik folgende Angaben:
Zunächst sei festzustellen, dass das Verhalten des Zeugen vor, während und nach der Vernehmung am 03.01.2019 hoch aggressiv gewesen sei, was auf ein hohes Niveau seines subjektiven Stresserlebens hindeute. Während der Vernehmung am 03.01.2019 hätten sich neben dem Zeugen in dem vergleichsweise kleinen Vernehmungszimmer insgesamt fünf weitere Erwachsene aufgehalten, was ein weiterer Stressfaktor für den Zeugen gewesen sei. Dem Zeugen sei auch bewusst gewesen, dass in einem Nebenzimmer Polizeibeamte der Vernehmung folgen. Außerdem habe es gleich zu Beginn der Vernehmung Unruhen und Störungen gegeben, etwa als der Ermittlungsrichter wegen eines technischen Problems den Raum verlassen habe, ohne dem Zeugen den Grund für die Unterbrechung zu erklären. Sodann habe der Ermittlungsrichter die Befragungsführung aus der Hand gegeben, was einer konzentrierten Befragung zuwiderlaufe. So habe etwa der Dolmetscher in Abwesenheit des Richters ohne dessen Genehmigung übersetzt und der Betreuer T. habe erheblichen Raum zum Agieren gehabt und in weiten Teilen selbst die Befragung des Zeugen durchgeführt. Der Zeuge habe aufgrund mangelnder Struktur, die gerade für dissoziale männliche Jugendliche aus einem patriarchalen Kulturkreis wichtig sei, entsprechend machtvoll agieren können: So habe sich der Zeuge dem Richter gegenüber im Tonfall „pampig“ verhalten, Bedingungen für seine Aussage gestellt (er sage erst aus, wenn er seine Schwester gesehen habe) und sich zu Beginn der Vernehmung in eine Diskussion mit seinem Vormund verstrickt, die mit dem eigentlichen Vernehmungsthema nichts zu tun gehabt habe. Sodann habe der Zeuge angegeben, zum Tod seiner Schwester nichts sagen zu können.
Dieser offensichtlichen Aussageunwilligkeit des Zeugen sei der Ermittlungsrichter mit einer Suggestion begegnet, indem er zum Zeugen gesagt habe: „Ich kann dich natürlich nicht zwingen, aber ich glaube, du weißt mehr, als du sagst. Und du würdest uns sehr helfen.“ Der Betreuer T. habe sich als Befrager eingemischt und dem Zeugen suggeriert, dass dieser „um den heißen Brei rede“ und dass der Zeuge doch wisse, dass „das mit seinem Vater“ falsch gewesen sei. Daran habe sich die Frage des Richters, ob der Angeklagte die M. getötet habe, angeschlossen, worauf der Zeuge u.a. mit „Nein. Keine Ahnung. Ich weiß davon nichts. Ich sage die Wahrheit“ geantwortet habe. Im weiteren Verlauf habe der Zeuge versucht, mit dem Richter zu verhandeln, wobei insbesondere der Passus „Geben und Nehmen“ immer wieder eine Rolle gespielt habe. Auch sei zu Beginn der Vernehmung von dem Betreuer T. die Illusion eingeführt worden, dass der Richter dem Ab. N. helfen werde, wenn er „rede“.
In einer Gesamtschau sei die Gestaltung der Vernehmung von Anfang an ungünstig gewesen und habe dem Ab. N. Raum für Ablenkungen und die Macht, Bedingungen zu stellen, geboten. Der Zeuge sei nicht auf die Befragung fokussiert worden und es sei nicht gelungen, ihn von seinem hohen Erregungsniveau herunterzubringen. Der Zeuge habe von Anfang an immer wieder und nachdrücklich seine mangelnde Aussagebereitschaft zum Ausdruck gebracht, was konsequent ignoriert worden sei.
In einer ersten Unterbrechung der Vernehmung habe die Oberstaatsanwältin den Befragungsdruck erhöht, indem sie dem Zeugen gegenüber angab, dass er eigentlich zu erkennen gebe, dass er mehr wisse, als er jetzt sage. Dies habe der Zeuge umgehend zurückgewiesen. Daraufhin habe der Betreuer T. den Druck weiter erhöht, indem er dem Zeugen zu verstehen gegeben habe, dass dieser sich, wenn er „so“ weiter mache, selbst „den Strick um den Nacken“ lege. Der Betreuer T. habe den Zeugen aufgefordert, entweder von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen oder zu kooperieren, sich aber jetzt nicht „selber in den Knast [zu bringen], mein Freund“. Sodann habe der Betreuer T. den Zeugen ermahnt, „hier die Leute nicht zu verarschen“. Auch der Vormund des Zeugen habe sich an dieser Diskussion beteiligt. Schließlich habe der Betreuer T. den Zeugen, verbunden mit einer eindringlichen Ausführung zur Perspektive, was geschehen werde, wenn er vermeintlich unwahre oder unvollständige Ausführungen mache („Knast“) zur Sache befragt, worauf der Zeuge erstmals angegeben habe: „Ja, mein Vater hat das gemacht“. Dies sei von Kommentaren des Betreuers T. wie „Du tust das Richtige, mein Freund“ begleitet worden. Der Zeuge habe sodann begonnen zu schluchzen und zu weinen, worauf die Befragung zum zweiten Mal unterbrochen worden sei.
In der Unterbrechung habe der Betreuer T. zum Zeugen gesagt, dass er „das Richtige“ tue und „allen eine Chance gegeben solle, seiner Schwester zu helfen“. Der Zeuge habe in der Unterbrechung u.a. gesagt, er könne nicht mehr, er sei fertig, und trotzdem sei die Vernehmung sodann fortgesetzt worden.
Nach der Unterbrechung habe der Richter den sichtlich erregten und emotional aufgewühlten Zeugen weiter befragt, was der Vater denn gemacht habe. Der Zeuge gab darauf zur Antwort, dass er keine Ahnung habe. Sein Vater habe ihm das nur erzählt. Er sei selbst nicht dabei gewesen. In der weiteren Befragung, in die sich der Betreuer T. immer wieder eingemischt habe, habe der Zeuge schließlich angegeben, dass sein Vater ihm gesagt habe, dass er die Schwester „irgendwo im Wald“ versteckt habe und dass er wisse, dass sein Vater das mit dem Auto gemacht habe. Auf die Frage des Richters, um welches Fahrzeug es sich dabei gehandelt habe, habe der Zeuge angegeben: „Kannst du Zeitung gucken“. In dieser Phase der Befragung sei dem Zeugen suggeriert worden, dass sein Vater seine Schwester umgebracht habe, dass sein Vater möglicherweise ein Messer benutzt habe und dass sein Vater möglicherweise bei der Tat nicht allein gewesen sei.
Der Zeuge habe in dieser Phase der Vernehmung mit knappen abweisenden Antworten und teils aggressivem abweisenden Verhalten (er habe keinen Bock, alles von Anfang zu erzählen) seine Aussageunwilligkeit mehrfach und eindeutig zum Ausdruck gebracht, was wiederum konsequent ignoriert worden sei. Der Zeuge habe etwa angegeben, er habe nun gesagt, was zu sagen sei und mehr wisse er nicht. Trotzdem hätten zunächst der Betreuer T. und dann der Richter weiter fragend auf den Zeugen eingewirkt, bis der Zeuge auf die Frage, ob er sich sicher sei, den Grund für das angegebene Handeln seines Vaters nicht zu kennen, geantwortet habe: „Ja. Lass mich jetzt in Ruhe“. Daraufhin sei von mehreren Seiten suggerierend und insistierend auf den Zeugen eingeredet worden, worauf sich der Zeuge zunehmend überfordert gezeigt habe. Mehrfach sei dem Zeugen in Aussicht gestellt worden, dass die Vernehmung gleich zu Ende sei. Trotzdem sei sie immer weiter fortgesetzt worden. In einer weiteren Unterbrechung hätten sodann der Vormund und der Betreuer auf den Zeugen eingeredet und ihm gesagt, dass es sehr gut sei, was er gemacht habe. Nun müsse er nichts mehr „weglügen“. Sodann sei die Vernehmung vom Richter beendet worden.
Nach dem Ende der Vernehmung habe der Zeuge erneut gefordert seine Schwester zu sehen. Daraufhin habe die Oberstaatsanwältin den Zeugen gefragt, ob er „etwas anderes oder mehr erzählen würde, wenn er seine Schwester gesehen habe“. Auch der Betreuer des Zeugen habe nachgehakt, ob er bereit sei, nochmal eine Aussage zu machen, wenn er seine Schwester gesehen habe, was der Zeuge verneint habe. Er habe bereits alles gesagt, was zu sagen sei.
Die bereits beendete Befragung sei sodann wieder aufgenommen worden. Auf Empfehlung des Betreuers T. habe der Richter dem Zeugen seine (potenzielle) Strafunmündigkeit erklärt, sollte er an der Tötung seiner Schwester beteiligt gewesen sein, da er damals noch keine 14 Jahre alt gewesen sei. Daraufhin habe der Zeuge erstmals angegeben, dass er dabei gewesen sei, als sein Vater seine Schwester getötet habe.
Auf die offene Frage des Richters, ob der Zeuge erklären könne, was passiert sei, habe der Zeuge angegeben, dass er sich nicht darauf einlassen wolle, da er sonst Kopfschmerzen bekomme und es ihm schlecht gehe. Daraufhin hätten sowohl der Betreuer T. als auch der Vormund J. den Zeugen ermutigt, doch noch etwas zu sagen, worauf dieser schon fast kokettierend gefragt habe: „Alles? Bist du sicher?“. Der Vormund des Zeugen habe sodann zu diesem gesagt: „Du musstest es ja machen, er hat dich ja gezwungen“ und die Oberstaatsanwältin habe dem Zeugen erneut zu verstehen gegeben, dass ihm nichts passieren könne, worauf der Zeuge nunmehr gesagt habe: „Ich hab das gemacht. Mein Vater hat mir gesagt, wann ich das nicht mache, wir sterben zusammen.“
Weitere Fragen zum konkreten Tatablauf habe der Zeuge nur noch knapp beantwortet. Er habe es mit einem Messer gemacht. Das Messer habe sein Vater mitgenommen. Sein Vater habe ihm das Messer gegeben. Die Frage, ob er zugestochen habe, habe der Zeuge dann mit Ja beantwortet. Angaben zum fraglichen Kerngeschehen erfolgten im Wesentlichen auf vorgebende Fragen und Überlegungen, etwa, dass da ja bestimmt viel Blut gewesen sei, wenn er mit dem Messer in den Bauch gestochen habe. An anderer Stelle habe der Zeuge die Frage, ob die M. beim Zustechen festgehalten worden sei, verneint und angegeben, dass sein Vater M.s Hände hinter deren Rücken mit einem „Band zugemacht“ habe. Daran habe sich die vorgebende Frage, ob der Vater auch die Beine zusammengebunden habe, angeschlossen, die der Zeuge mit Ja beantwortet habe. Es sei ein normales Band gewesen. Die Oberstaatsanwältin habe dann gefragt, ob es ein Klebeband gewesen sei, was der Zeuge wieder mit Ja beantwortet habe. Auch die Frage, ob der Angeklagte der M. auch den Mund zugeklebt habe, habe der Zeuge mit Ja beantwortet.
Sodann habe der Zeuge mitgeteilt, dass er jetzt alles gesagt habe. Der Betreuer T. habe den Zeugen sodann gelobt und ihm mitgeteilt, dass er sehr stolz auf ihn sei. Schließlich habe der Zeuge in die Runde gefragt: „Wollt ihr noch? Habt ihr noch einen Wunsch?“.
Die Befragung sei sodann fortgeführt worden, wobei der Zeuge im weiteren Verlauf die Befragungsrichtung umgedreht habe und seinerseits die Oberstaatsanwältin und den Richter befragt habe, warum man etwa seinen Vater bestrafen wolle und nicht den Zeugen R. festnehmen würde. Letzterer habe doch schließlich mit Drogen zu tun.
In der weiteren Vernehmung seien dem Zeugen sodann Lichtbilder von seiner skelettierten Schwester, von ihren Schuhen und ihrem BH gezeigt worden. Auf die Frage, ob der Zeuge den vernehmenden Personen die Stelle, an der die M. erstochen worden sei, zeigen könne, habe der Zeuge geantwortet, dass er keinen Bock habe zwei Stunden zu fahren.
Nach einer weiteren 25-minütigen Unterbrechung sei die Vernehmung nochmals fortgeführt worden, wobei auch die weitere Befragung unstrukturiert und von vorgebenden und suggestiven Fragen geprägt gewesen sei. Die Oberstaatsanwältin habe den Zeugen gefragt, ob er denn vormachen könne, wie er mit dem Messer zugestochen habe. Dieser Frage sei der Zeuge im geübten Verhandlungsmodus ausgewichen und habe geantwortet, dass er die Schuhe seiner Schwester haben wolle, erst dann mache er das Zustechen vor. Außerdem wolle er auch die Tasche seiner Schwester haben. Der Richter habe dem Zeugen sodann ein Bild der Schuhe seiner Schwester in Aussicht gestellt. Dieses Angebot habe der Zeuge angenommen, aber mitgeteilt, dass er das Zustechen nur demonstrieren werde, wenn die Kamera ausgeschaltet sei. Daraufhin habe zunächst der Vormund des Zeugen ungefragt die Hand vor die Kamera gehalten. Sodann sei der Zeuge zur Kamera gelaufen und habe diese eigenmächtig weggedreht. Weder Richter noch Oberstaatsanwältin seien eingeschritten, weshalb die anschließende Demonstration in der Überblickseinstellung der Kamera nicht zu sehen sei. Auf die Frage der Oberstaatsanwältin, ob der Zeuge bereit sei, mit Ihnen zu seiner ehemaligen Wohnanschrift zu fahren, habe dieser geantwortet, dass er sich an Nichts erinnern könne. Er habe alles vergessen. Sodann habe sich der Zeuge den anwesenden Erwachsenen provokant zugewandt und gesagt: „Noch Fragen?“.
Der Zeuge habe die Vernehmung mit den Worten „Habt ihr alles von mir gekriegt. Ich muss auch, auch von irgendwas von euch kriegen“ sodann beendet.
(2) Zur Bewertung des Verlaufs der Vernehmung vom 03.01.2019 Durch die Befragungssituation und die in seinem Verhalten erkennbare psychische Belastung des Zeugen sei, so die Sachverständige, der Boden für falsche Angaben gelegt worden. Der Betreuer des Zeugen habe immer wieder Druck aufgebaut, der Zeuge müsse die Wahrheit bzw. etwas anderes sagen, sonst komme er ins Gefängnis. Unter diesem, auch von der Oberstaatsanwältin aufgebauten Druck sei es beim Zeugen zu aggressivem und sodann zu dekompensierendem Verhalten im ersten Teil der Vernehmung gekommen. Dieses Verhalten weise darauf hin, dass der Zeuge in der Befragungssituation vor dem Angeben der Involvierung bzw. der aktiven Tatbeteiligung überfordert und hilflos gewesen sei und versucht habe, diesen Zustand durch mehrfaches und eindringliches Bekunden seiner Aussageunwilligkeit zu beenden. Trotzdem sei die Vernehmung immer wieder fortgesetzt worden. Die Antworten des Zeugen auf die gestellten Fragen ließen den Schluss zu, dass der Zeuge zuvor von den Erwachsenen ausgesprochene Überlegungen nur nacherzählte, um den ebenfalls von den Erwachsenen kommunizierten Erwartungen nachzukommen. Schließlich habe bis dahin der Versuch des Zeugen, auf aggressive Abwehr und Aussageunwilligkeit zu setzen, ihn nicht aus der für ihn unangenehmen Befragungssituation befreit. Da es sich bei dem Zeugen um einen taktisch denkenden Jugendlichen handele, der auch falsche Angaben impulsiv vorbringen und nutzen könne, um seine kurzfristigen Ziele zu erreichen (Beendigung der Befragung) sei es möglich, dass er in der Folge versucht habe, mit falschen Angaben aus der Befragungssituation zu entkommen.
Durch die Frage der Oberstaatsanwältin, ob er mehr oder etwas anderes sagen werde, wenn er seine Schwester sehen könne, sei das Thema Verhandeln erneut eröffnet worden. Damit sei, wenn auch unabsichtlich, eine für den Zeugen interessante Belohnung an die Bedingung geknüpft worden, mehr oder etwas anderes zu sagen. Die Reaktion des Zeugen auf dieses Angebot der Oberstaatsanwältin habe gezeigt, dass er die Taktik verstanden habe: Er muss etwas anderes oder mehr berichten, um sein Ziel zu erreichen. Zudem sei dem Zeugen von seinem Betreuer suggeriert worden, dass es ja auch noch mehr zu sagen gebe.
Diese Suggestion, verbunden mit dem Handelsangebot der Oberstaatsanwältin und dem Erklären von Straffreiheit für den Fall, dass der Zeuge selbst etwas mit der Tat zu tun habe, habe einen suggestiven Druck und eine Steilvorlage erzeugt, nun auch durch falsche Angaben ungestraft davon zu kommen und seinen Konflikt (nichts weiter sagen wollen contra etwas anderes oder mehr sagen müssen) zu minimieren. Diese Situation könne den Boden dafür bereitet haben, dass der Zeuge eine wahrheitsgemäße, bislang unterdrückte selbstbelastende Aussage nun wiedergeben konnte. Ebenso könne in dieser durch Befragungsdruck und Suggestion geprägten Befragung eine falsche Aussage erfolgt sein, in dem Bewusstsein des Zeugen, dass das, was er bislang gesagt habe „falsch“ sei und weder dazu führe, dass er seine Schwester sehen könne, noch dazu, die eigentlich schon beendete Vernehmung nun tatsächlich verlassen zu können.
Auffällig am Verhalten des Zeugen sei, dass er sich ab seinem „Geständnis“ zunächst relativ ruhig und oberflächlich kooperativ gezeigt habe. Nachdem ihm dann die verlangten Bilder gezeigt worden seien und es um die Frage gegangen sei, ob er die Befrager zum Tatort führen könne, sei das Verhalten des Zeugen wieder gekippt. Dieser Verhaltensumschwung sei genau an der Stelle zu beobachten, an der es um eine mögliche Realitätsprüfung seiner Angaben gehen sollte. Die Situation sei dann eskaliert, als der Zeuge eigenmächtig das Vernehmungszimmer verlassen habe. Gleichwohl sei er kurze Zeit später weiter befragt worden, obwohl der Zeuge angegeben habe, dass er nicht mehr könne. Die inhaltlichen Angaben auf die weiteren Fragen seien spärlich gewesen. Teilweise habe der Zeuge renitentes Verhalten gezeigt, so etwa an der Stelle, an der er das Zustechen demonstrieren sollte, und an der es erneut um entscheidende Details gegangen sei. Der Frage nach einer Ortsbesichtigung sei er ausgewichen und habe komplettes Vergessen angegeben.
Zusammenfassend sei, so die Sachverständige, Folgendes festzustellen: Nach einer Phase der Renitenz und des Aushandelns der Bedingungen, unter denen der Zeuge mehr oder anderes sage, habe er sich bei seinen Angaben zur vermeintlichen Sache zugewandter und kooperierender gezeigt, wenn auch nur mit spärlichen Angaben zum Kern der Sache. Als der Handel (sehen der Leiche gegen eine andere Aussage) für den Zeugen abgeschlossen gewesen sei, habe sich sein Verhalten wieder in Richtung Aggression, hochmütiges Fordern, aber auch Signalisieren von emotionaler Überforderung und dem Wunsch, die Befragung zu beenden, geändert. Die festgestellten Befragungsbedingungen sowie der emotionale Ausnahmezustand des Zeugen seien dem Ziel, möglichst richtige und möglichst vom Zeugen umfassend und eigenständig produzierte Details zu erfahren, völlig zuwider gelaufen.
(3) Zum Ablauf und zur Bewertung der ermittlungsrichterlichen Vernehmung am 26.02.2019 Die Vernehmung vom 26.02.2019, die im selben Vernehmungszimmer und in selber Besetzung wie am 03.01.2019 (den Dolmetscher ausgenommen) durchgeführt worden sei, sei deutlich fokussierter und strukturierter verlaufen. Das nunmehr gezeigte freundliche und kooperative Verhalten des Zeugen, der teils jovial gelächelt habe, deute darauf hin, dass er die ihm zuteil gewordene Aufmerksamkeit bei der ersten Vernehmung genossen habe.
Der Zeuge habe in seiner sprachlichen Kommunikation am Beginn der Vernehmung eine gute Verbalisierungsfähigkeit im Deutschen und einen guten Alltagswortschatz gezeigt. Er sei in der Lage gewesen, eigenständig und zusammenhängend zu berichten. Die Gesprächsführung des Ermittlungsrichters sei angemessen gewesen. Auch der Vormund und der Betreuer hätten sich nunmehr zurückgehalten.
Die Befragungstechnik zum eigentlichen Kerngeschehen sei durch viele und geschlossene, teils vorgebende und korrigierende Fragen geprägt gewesen. So habe der Zeuge beispielsweise auf die Frage nach der Farbe des Klebebandes „weiß“ angegeben, worauf der Richter „silber, oder?“ gefragt habe und der Zeuge „Ja, so silberweiß“ geantwortet habe. Zum eigentlichen Kerngeschehen habe der Zeuge eigenständig nur angegeben, sie seien dann „dahin“ gefahren. Dann habe sein Vater ihm gesagt, er solle „das“ machen und er habe „das“ dann halt machen müssen. Viele Angaben seien auch hier nur durch die Beantwortung von vorgebenden Fragen mit „Ja“ zustande gekommen. Soweit offene und erzählauffordernde Fragen gestellt worden seien, habe der Zeuge oft ausweichend oder einsilbig geantwortet.
(4) Fazit zur Aussagegenese der selbstbelastenden Angaben Die Sachverständige stellte zunächst fest, dass die Vernehmung eines Jugendlichen mit den psychischen Auffälligkeiten des Zeugen Ab. N. für jeden Vernehmer eine Herausforderung darstelle.
Der Zeuge habe bei seiner Vernehmung am 03.01.2019 von Anfang an vielfältig zum Ausdruck gebracht, dass er sich einer gezielten Befragung entziehen wolle. Das teilweise renitente und dekompensierende Verhalten des Zeugen lasse auf eine psychische Überforderung in der Befragungssituation schließen. In dieser für den Zeugen psychologisch heiklen Situation sei er auf einen Richter getroffen, der einen partnerschaftlichen Gesprächsstil versucht habe, dabei aber die Gesprächsführung weitgehend aus der Hand gegeben habe, auf einen nicht abgegrenzten Betreuer, der zeitweilig die Befragung übernommen habe, auf einen Richter und eine Oberstaatsanwältin, die den Zeugen insistierend und suggestiv unter Druck gesetzt hätten, was wiederum von seinem Betreuer unterstützt worden sei. Auf den Betreuer T. habe der Zeuge zudem all seine Hoffnungen auf eine Zukunft in Deutschland gesetzt. Der Zeuge Ab. N. habe den Verlauf der Befragung intuitiv nur dahingehend auffassen können, dass sein bisheriges Aussageverhalten und seine vorgebrachten Aussageinhalte (er wisse nichts, er habe es lediglich von seinem Vater erfahren) nicht ausreichten, um die Befragung zu beenden.
Das beschriebene Handelsangebot der Oberstaatsanwältin habe sodann den Befragungsdruck noch erhöht und dem Zeugen suggeriert, er könne auf Augenhöhe mit der Justiz verhandeln, unter welchen Bedingungen er etwas sage. Zudem sei dem Zeugen damit suggestiv unterstellt worden, dass es überhaupt noch mehr zu sagen gebe. In Verbindung mit der Erläuterung der Straffreiheit und der Aussicht für den Zeugen, Bilder von seiner Schwester zu sehen, habe dies eine Art Steilvorlage dargestellt, die zu falschen selbstbelastenden Angaben in der unmittelbaren Folge geführt haben können. Die Befragungsbedingungen bis zum Beginn der selbstbelastenden Einlassung des Zeugen, in Verbindung mit den psychischen Eigenarten des dissozialen Zeugen, hätten den Boden dafür bereitet, sich durch falsche Angaben eine kurzfristige Entlastung zu verschaffen, womöglich ohne in diesem Moment an längerfristige Konsequenzen zu denken. Die in der Folge vom Zeugen gezeigte Renitenz könne neben einer psychischen Überforderung falsifikationsorientiert auch damit in Verbindung gebracht werden, dass der Zeuge ein falsches Geständnis abgelegt habe, das er aber sogleich, auch in der Vernehmung am 26.02.2019, jeglicher Konkretisierung und Überprüfung zu entziehen versucht habe.
dd) Zur Bewertung der Aussageinhalte
Bei einem Vergleich der Aussageinhalte der verschiedenen Vernehmungen des Zeugen Ab. N. seien, so die Sachverständige, einige erhebliche Abweichungen zu erkennen, die im Falle einer Erlebnisbasiertheit der Aussagen gedächtnispsychologisch nicht zu erwarten seien. So hätten sich widersprüchliche Angaben zur Tat und zur eigenen Tatbeteiligung an sich, zur Abholsituation, zum Fesseln der Hände der Schwester sowie zur Frage, ob der Vater die Bänder bzw. Klebebänder im Kofferraum vom Körper der Schwester wieder entfernt habe, gezeigt. Diese Widersprüchlichkeiten begründeten nach den Ausführungen des Sachverständigen eindeutig Zweifel an der Erlebnisbasiertheit des vorgebrachten Tatablaufes. Bereits auf dieser Ebene der Qualitätsanalyse der Aussage des Zeugen Ab. N. sei festzustellen, dass die Annahme einer bewussten Falschaussage nicht zurückgewiesen werden könne.
So habe der Zeuge in seiner Vernehmung am 03.01.2019 zur Abholsituation geschildert, dass sein Vater erst die M. von der Berufsschule und sodann ihn von seiner Schule abgeholt habe. In der Vernehmung vom 26.02.2019 habe der Zeuge dagegen angegeben, dass sein Vater erst ihn an seiner Schule abgeholt habe und sie dann gemeinsam zur Schule der M. gefahren seien und diese dort abgeholt hätten.
Zum Fesseln der Hände der M. habe der Zeuge in seiner Vernehmung am 03.01.2019 angegeben, dass dies mit einem normalen Band hinter dem Rücken geschehen sei. An anderer Stelle habe der Zeuge in dieser Vernehmung gesagt, dass die Hände vor dem Körper gefesselt worden seien. In der Vernehmung am 26.02.2019 habe der Zeuge zweimal gezeigt, dass die Hände vor dem Körper gefesselt worden seien. Auf Frage habe er dann gesagt, dass sie hinten gefesselt gewesen seien. Dazu befragt, wo die Hände der M. gewesen seien, als diese in den Kofferraum gelegt worden sei, habe er seine Hände vor seinen Körper gehalten. Bei der Demonstration des Zustechens habe er wiederum vorgeführt, dass die Hände hinter dem Körper der M. gefesselt worden seien.
Beim Zustechen selbst habe der Angeklagte nach den Angaben des Zeugen in der Vernehmung vom 03.01.2019 vor ihm gestanden, nach den Angaben in der Vernehmung vom 26.02.2019 „ganz an der Seite“.
Die Frage nach der Farbe des Klebebandes habe der Zeuge mal mit silberfarben, mal mit weiß und mal mit silberweiß beantwortet. Die Frage, ob die M. am vermeintlichen Tattag ihren Rucksack dabeigehabt habe, habe der Zeuge in der Vernehmung vom 03.01.2019 verneint, in der Vernehmung vom 26.02.2019 dagegen bejaht.
Befragt zum Verbleib des Klebebandes an den Händen der M. habe der Zeuge in der Vernehmung vom 03.01.2019 angegeben, dass der Angeklagte das Klebeband abgemacht habe, nachdem er die M. in den Kofferraum gelegt habe. Dies habe der Angeklagte gemacht, da auf dem Klebeband Fingerabdrücke gewesen seien. Das abgezogene Klebeband habe der Angeklagte sodann mitgenommen. In der Vernehmung vom 26.02.2019 habe der Zeuge dagegen angegeben, nicht zu wissen, ob der Vater das Klebeband entfernt habe. Die Klebebänder seien noch am Körper seiner Schwester gewesen, als diese im Kofferraum gelegen habe. Mehr habe er nicht gesehen.
Bereits die Vielzahl und Erheblichkeit der Widersprüche der Angaben des Zeugen zum eigentlichen Kerngeschehen erweckten nach den Aussagen der Sachverständigen schon erhebliche Zweifel an der Erlebnisbasiertheit seiner Angaben. Ein Vergessen bestimmter Details sei aussagepsychologisch erklärbar. Dies sei aber bei den hier gezeigten teilweise völlig konträren Schilderungen des Zeugen zum Kerngeschehen nicht der Fall. Hier habe der Zeuge keine Angaben vergessen, sondern gänzlich andere Angaben (Klebeband vorne/hinten, beim Abholen dabei/nicht dabei, Klebeband wurde entfernt/nicht entfernt, Vater stand beim Zustechen vor ihm/neben ihm, usw.) gemacht, was bei der Wiedergabe eines erlebten Geschehens nicht zu erwarten sei.
Zudem sei die für eine erlebnisbasierte Aussage notwendige Eingangsvoraussetzung der logischen Konsistenz nicht gegeben. Es sei etwa nicht nachvollziehbar, wie der Zeuge auf die von ihm demonstrierte völlig komplikationsfreie Art in den mittleren bis unteren Bauchbereich habe stechen können, wenn die Hände der M. N. vor ihrem Körper gefesselt gewesen seien. Weiterhin sei nicht nachvollziehbar, wie es dem Zeugen gelungen sein soll, seine Schwester mit drei Bauchstichen zu töten, ohne dass er oder sein Vater die Schwester festgehalten hätten und ohne dass diese in irgendeiner Form Gegenwehr gezeigt habe.
Auch die geringe quantitative Detaillierung der Aussage führe zu Unkonkretheiten und Fragen an die Nachvollziehbarkeit der Aussage. Die Angaben des Zeugen etwa dazu, wie der Vater ihn aufgefordert habe, die Schwester zu erstechen, wie die Schwester im Einzelnen reagiert habe, wie sie verstorben sei, wie der Zeuge selbst danach reagiert habe und was er bezüglich der Fesselung gesehen habe seien plakativ und bewegten sich auf einem reinen Behauptungsniveau. Damit sei auch das notwendige Eingangskriterium des quantitativen Detailreichtums vor dem Hintergrund der anzunehmenden Komplexität des längeren Handlungsablaufes zwischen drei Personen nicht gegeben. Alle Angaben des Zeugen könnten auch aus Schemawissen und bereichsspezifischem Wissen zusammengesetzt worden sein. So ein bereichsspezifisches Wissen sei dem Zeugen etwa in der ersten Vernehmung durch Vorzeigen von Fotos der Leiche in gekrümmter Haltung präsentiert worden. Wenn ein jugendlicher, normalbegabter, auffassungsschneller und eloquenter Zeuge wie Ab. N. daraufhin beschreibe, dass der Körper der Getöteten gekrümmt im Kofferraum gelegen habe, sei dies kein qualitätsreiches Detail, das auf einen Erlebnisbezug hindeuten könne. Darüber hinaus weise die Aussage des Zeugen keine oder allenfalls sehr gering ausgeprägte Elemente episodischer Erinnerung, keine Elemente, die von einem kognitiven Schema abweichen und keine Aspekte der Selbstpräsentation auf, die für lügende Aussagende untypisch wären. In der Aussage fände sich auch kein täterspezifisches Wissen, das dem Zeugen nicht durch mediale Berichterstattung oder sonstige Wissensquellen zur Verfügung gestanden haben könnte. An Stellen der potentiellen Überprüfbarkeit seien die Aussagen völlig unkonkret, obwohl bei der zweiten Vernehmung des Zeugen, bei der dieser fokussierte und ruhiger gewesen sei, festzustellen gewesen sei, dass er bei Schilderungen abseits des Tatgeschehens deutlich flüssiger und inhaltlich detaillierter berichtet habe, als zur Sache selbst.
Im Ergebnis weise die vorliegende Aussage des Zeugen erhebliche Mängel im aussageübergreifenden Vergleich und hinsichtlich der inhaltsbezogenen Eingangskriterien erlebnisbasierter Aussagen auf. Die vorgefundenen Konstanzmängel begründen nach den Ausführungen der Sachverständigen daher Zweifel an der Erlebnisbezogenheit sämtlicher Schilderungen des Zeugen zum Tod seiner Schwester.
Aus den Bereichen Aussagepersönlichkeit, Aussagegenese und Befragungsbedingungen ergäben sich, so die Sachverständige, gewichtige Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer bewussten Falschaussage bzw. bewusst falsch selbstbelastender Angaben des Zeugen. Der für falsche Geständnisse erhöht anfällige, intelligente und zum verbalen und eindrucksvollen Taktieren fähige Zeuge, der im Vorfeld ab dem Jahr 2017 unterschiedliche Angaben zum Verschwinden seiner Schwester und zur fraglichen Beteiligung seines Vaters gemacht habe, sei in der ersten ermittlungsrichterlichen Vernehmung am 03.01.2019 auf ungünstige Befragungsbedingungen getroffen, die ihn angehalten haben können, eine falsche Aussage zu produzieren. Darüber hinaus seien die inhaltlichen Aussagen, die der Zeuge in den beiden ermittlungsrichterlichen Vernehmungen gemacht habe, substanzlos und an entscheidenden Stellen in sich widersprüchlich.
Die Annahme einer bewussten Falschaussage sei hinsichtlich des gesamten geschilderten fraglichen Tatablaufs einschließlich der selbstbelastenden Angaben aus aussagepsychologischer Sicht nicht zurückzuweisen. Man könne, so die Sachverständige, mit sämtlichen Informationen des Zeugen Ab. N. zur Tat „nichts anfangen“, da eine Erlebnisbasiertheit der Angaben des Zeugen nicht belegbar sei.
ee) Zur Überzeugungsbildung der Kammer
Unter Berücksichtigung der in sich schlüssigen und nachvollziehbaren Angaben der Sachverständigen Dr. Aymans und des Ergebnisses der weiteren Beweisaufnahme kann die Kammer die Aussagen des Zeugen Ab. N. in allen von ihm vorgebrachten Varianten nicht als glaubhaft einstufen.
Die Kammer schließt sich zunächst nach eigener Überzeugungsbildung den Ausführungen der Sachverständigen Dr. Aymans an, die anschaulich die Risikofaktoren in der Person des Zeugen und in den konkreten Vernehmungssituationen dargestellt und zahlreiche Inkonstanzen in den Aussagen aufgezeigt hat und die die erforderliche Qualität der Aussage nicht zu bejahen vermochte. Auch die Kammer hat festgestellt, dass insoweit in den verschiedenen Aussagen des Zeugen erhebliche Widersprüche zu finden sind und die vom Zeugen von sich aus und in einem freien Bericht zum Kerngeschehen gemachten Angaben sich im Wesentlichen darauf beschränken, dass „er das dann halt gemacht habe“. Im Verlauf der Vernehmung wurde mit vorgebenden und geschlossenen Fragen mit dem Zeugen Ab. N. ein Tatablauf „erarbeitet“, wobei sich der Zeuge weitgehend darauf beschränkte, vorgebende Fragen mit „Ja“ zu beantworten. Eine relevant eigene Aussageleistung des Zeugen zum Kerngeschehen konnte die Kammer im Ergebnis nicht feststellen. Die Schilderungen des Zeugen sind völlig oberflächlich und plakativ, obwohl der Zeuge insbesondere in der Vernehmung vom 26.02.2019 gezeigt hat, dass er im Gespräch über Inhalte abseits des Vernehmungsthemas durchaus in der Lage war, von sich aus umfassende detaillierte und bildhafte Angaben zu machen. Dieser erhebliche Detaillierungsbruch ist für die Kammer – im Einklang mit den Ausführungen der Sachverständigen – nicht erklärbar.
Soweit der Zeuge Details schilderte, wie etwa, dass er mit einem Messer zugestochen habe oder dass die M. u.a. mit einem Klebeband gefesselt worden sei und dass viel Blut geflossen sei, so wurden diese Details überwiegend von den vernehmenden Personen, die sich teilweise ungefragt und störend in die Vernehmung eingemischt und diese zeitweise übernommen haben, in die Vernehmung mit suggestiven und vorgebenden Fragen hineingetragen, sodass diese Details ursprünglich gar nicht vom Zeugen Ab. N. stammten.
Die Kammer hat zudem, wie auch die Sachverständige, festgestellt, dass in der Aussage des Zeugen kein hinreichender quantitativer Detailreichtum zu finden ist. So schilderte der Zeuge nahezu keine Interaktion zwischen den drei beteiligten Personen: Auf der zweistündigen Fahrt, während der Tötung der Schwester im Wald und auf der Rückfahrt seien im Ergebnis nur wenige Sätze gesprochen worden, die sich auf ein „Wie geht’s?“, „Wie war dein Tag?“, „Wo fahren wir hin?“ und „Lass dich überraschen“ beschränkten. Der Zeuge schilderte auch keinerlei Komplikationen im Handlungsablauf, keine motivationsbedingten Inhalte und keine originellen Details, die bei einem derart autobiographisch relevanten Ereignis wie der Tötung der eigenen Schwester zu erwarten gewesen wären. Die Schilderung des Kerngeschehens ist plakativ und entspricht gängigem Schemawissen. Die Kammer geht davon aus, dass der Zeuge Ab. N. auch intellektuell dazu in der Lage war, seine Angaben in der ersten ermittlungsrichterlichen Vernehmung ohne große Anstrengung – unter Nutzung der von den anwesenden Erwachsenen eingebrachten „Ideen“ zu einer möglichen Tat – zu erfinden.
Im Übrigen sprechen auch mehrere objektive Beweismittel gegen die Angaben des Zeugen zum Tatablauf, auf denen die Anklage im Wesentlichen beruht:
Der Zeugen Ab. N. schilderte, er habe der M. N. dreimal mit einem Militärmesser mit einer 20 cm langen Klinge in den Unterbauch gestochen, wobei dabei auch viel Blut geflossen sei. Dieser vom Zeugen Ab. N. geschilderte Tatablauf ist nach Überzeugung der Kammer widerlegt.
Zum einen konnten an der noch erhaltenen Bekleidung der M. N., die sie auch am 04.05.2017 trug, keinerlei Textildefekte festgestellt werden, die auf Einstiche mit einem Messer, insbesondere im Bauchbereich, hinweisen. Sowohl das von ihr getragene „Top“ als auch das von ihr getragene „Longsleeve“-Oberteil – beide Teile gehen deutlich über den Bauchbereich nach unten hinaus, die Geschädigte war also nicht etwa „bauchfrei“ – sind in den vom Zeugen Ab. N. beschriebenen Bereich der Einstiche gänzlich unversehrt, was die in Augenscheinnahme der Lichtbilder von den Kleidungsstücken der Verstorbenen zweifelsfrei ergeben hat. Dies ist mit den beschriebenen Stichen in den Bauch nicht vereinbar.
Zum anderen waren nach der durchgeführten Beweisaufnahme weder an der Kleidung der Getöteten, noch im Innern des angeblich zum Transport der Leiche genutzten Pkw Peugeot (insbesondere im Kofferraum), noch in dem Betonschacht, in dem die Leiche aufgefunden wurde, Blutanhaftungen festzustellen. Diese wären aber nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. T. bei einem Zustechen mit einem Messer in den Unterbauch der stehenden Geschädigten zu erwarten. Der Zeuge Ab. N. schilderte in seiner Vernehmung mehrfach, wenn auch auf vorgebende Fragen, dass die M. N. nach dem Zustechen stark geblutet habe. Das Blut sei sofort auch auf den Boden gelaufen. Diese Schilderungen sind mit dem gänzlichen Fehlen von Blutanhaftungen, insbesondere an der Kleidung der Getöteten, nicht vereinbar.
Schließlich sind auch die zeitlichen Angaben des Zeugen Ab. N. in keiner Weise mit dem Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme in Einklang zu bringen. Der Zeuge Ab. N. hat in mehreren Vernehmungen angegeben, am Tag des Verschwindens seiner Schwester bis 13:00 Uhr in der Schule gewesen zu sein. Diese Angaben haben sich in der Vernehmung der Zeugin E., der damaligen Klassenlehrerin des Zeugen Ab. N. bestätigt, die nachvollziehbar angab, dass der Ab. N. an diesem Tag sicher nicht vor 13:00 Uhr die Schule verlassen hat. Damit ist aber ausgeschlossen, dass der Zeuge Ab. N. bei einem möglichen Abholen der M. N. an der Berufsschule gegen 11:45 Uhr dabei war. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte nach 13:00 Uhr nochmals an die Berufsschule gefahren ist, um seine Tochter abzuholen, haben sich nicht ergeben. Ausgehend von den geschilderten Fahrzeiten von je zwei Stunden zum eigentlichen Tatort bzw. wieder zurück wäre der Angeklagte erst gegen 15:45 Uhr (ausgehend von einer Abfahrt um 11:45 Uhr, was den Feststellungen zum Schulbesuch des Ab. N. widerspricht), eher aber erst gegen 17:00 Uhr wieder in Aschaffenburg gewesen (ausgehend vom festgestellten Schulende des Zeugen Ab. N. um 13:00 Uhr), wobei bei diesen Berechnungen nur die vom Zeugen Ab. N. angegebenen Fahrzeiten, nicht aber Zeiten für etwa die eigentliche Tatbegehung und das Verbringen der Leiche in den Betonschacht berücksichtigt wurden. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht aber fest, dass der Angeklagte gegen 14:30 Uhr mit seinen Arbeitskollegen, den Zeugen M. und M., zu seiner Arbeitsstelle nach Schaafheim gefahren ist und dort ab 15:30 Uhr gearbeitet hat.
Nach alledem konnte die Kammer die Angaben des Zeugen Ab. N. zum eigentlichen Tatgeschehen für eine Verurteilung des Angeklagten nicht heranziehen. Die Kammer kann eine bewusste Falschaussage nicht nur nicht ausschließen, sondern erachtet den Wahrheitsgehalt der Aussage als fernliegend. Die Angaben des Zeugen zum Kerngeschehen, wie sie auch der Anklage zugrunde liegen, sind in wesentlichen Punkten auch objektiv widerlegt.
c) Zu den weiteren Beweismitteln und Indizien aa) Zu möglichen für eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Beweismitteln und Indizien
(1) Zum möglichen Tatmotiv und zu vorherigen Gewalttaten und Drohungen des Angeklagten gegenüber der M. N.
Soweit als Motiv des Angeklagten in Betracht kommt, dass er seine Tochter wegen eines außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit dem Zeugen R. umgebracht hat, um so seine vermeintliche Ehre wieder herzustellen, so konnte die Kammer hierzu keine konkreten Feststellungen treffen. Die Kammer ist insoweit zwar davon überzeugt, dass der Angeklagte vor dem Verschwinden der M. N. Kenntnis von einem sexuellen Kontakt seiner Tochter mit dem Zeugen R. erlangt hat. Wie und wann er diese Kenntnis erlangte, konnte die Kammer allerdings nicht feststellen. Auch konnte die Kammer keine konkreten Feststellungen zu einer etwaigen Reaktion des Angeklagten hierauf treffen. Gleiches gilt für die Frage, ob ein solches denkbares Motiv bei einer – unterstellten – Tatausführung durch den Angeklagten überhaupt in der konkreten Tatsituation handlungsleitend war. Feststellungen zu den Umständen des Todes der M. N. konnte die Kammer insoweit nicht treffen. Die Kammer hatte dabei auch zu beachten, dass der Angeklagte sich zumindest nach außen hin mehrfach mit der Beziehung seiner Tochter mit dem Zeugen R. einverstanden erklärt hat, etwa gegenüber Mitarbeiterinnen des Jugendamtes bei einem Gespräch am 25.04.2017 oder zuletzt im Gespräch in der Familie N. über die geplante Hochzeit in der Nacht vom 03.05.2017 auf den 04.05.2017. Im Übrigen wäre auch die Feststellung eines denkbaren Motives nur von indiziellem Charakter, wobei ein solches Indiz allein eine Verurteilung nach Überzeugung der Kammer nicht tragen kann.
Fest steht, dass der Angeklagte in der Vergangenheit bereits Anlässe wie die Nutzung von Facebook durch seine Tochter ausreichen ließ, um M. N. zu schlagen und ihr erhebliche körperliche Verletzungen, insbesondere Hämatome an den Armen und im Gesicht, zuzufügen. Auch gegenüber seinem Sohn Ab. griff der Angeklagte immer wieder zu Gewalt als Erziehungsmittel. Die Kammer ist insoweit davon überzeugt, dass eine Person, die in der Vergangenheit bereits mehrfach gegenüber ihren Kindern körperliche Gewalt ausgeübt hat, indiziell eher dazu neigt, dies auch in einer letztlich tödlichen Gewaltausübung eskalieren zu lassen, als eine Person, die sich in der Vergangenheit gegenüber ihren Kindern nicht gewalttätig gezeigt hat. Die bereits gezeigte Gewalttätigkeit des Angeklagten gegenüber der M. N. vor ihrem Verschwinden konnte die Kammer insoweit als Indiz für dessen Täterschaft heranziehen.
Gleiches gilt für die vom Angeklagten vor dem Verschwinden der M. N. ihr gegenüber geäußerten Todesdrohungen. Die Kammer hat insoweit festgestellt, dass der Angeklagte die M. N. mehrfach mit dem Tode bedroht hat, sollte sie etwa weiter Facebook nutzen, einen Freund haben, oder einen Freund haben, der dem Angeklagten nicht „passe“. Auch diese Drohungen haben einen indiziellen Charakter dahingehend, dass eine Person, die eine andere Person mehrfach mit dem Tod bedroht, eher dazu neigt, erhebliche Gewalt gegen diese Person auszuüben, als eine Person, die solche Todesdrohungen nicht ausspricht.
(2) Zur Nähe des Ablageortes zum ehemaligen Wohnort des Angeklagten Ein Indiz für die Täterschaft des Angeklagten, dem die Kammer größeren Wert zumisst, ist die Lage des Auffindeortes der Leiche am „oberen F.berg“. Der Auffindeort der Leiche ist nur wenige Gehminuten von der ehemaligen Wohnung des Angeklagten entfernt. Im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme hat sich weiter ergeben, dass der Angeklagte mehrfach zumindest im Bereich des „unteren F.bergs“ spazieren ging, teilweise alleine, teilweise in Begleitung des Ab. N. und auch der M. N.. Allerdings konnte die Kammer nicht feststellen, dass dem Angeklagten auch der „obere F.berg“, insbesondere der Betonschacht, in dem M. N. aufgefunden wurde, bekannt war. Es verbleibt damit bei der Feststellung, dass der Angeklagte zumindest den F.berg als solchen kannte und in der Vergangenheit in unmittelbarer Nähe gewohnt hatte. Die Kammer geht insoweit davon aus, dass eine Person, der das Gebiet des F.bergs bekannt ist, indiziell eher einen dort vorhandenen Betonschacht zur Ablage einer Leiche verwenden würde, als eine Person, der der F.berg gänzlich unbekannt ist.
(3) Zum versuchten Mord zum Nachteil des S. R. am 02.06.2017 Die Kammer hat festgestellt, dass der Angeklagte am 02.06.2017 mittels eines Messers den Zeugen R. in der Absicht verletzt hat, um diesen hierdurch zu töten. Insoweit zeigt sich nach Überzeugung der Kammer die Bereitschaft des Angeklagten, anderen Menschen lebensgefährliche Verletzungen mit Tötungsvorsatz beizubringen.
Die Kammer geht insoweit davon aus, dass eine Person, die zu einem anderen – wenn auch erst späteren – Zeitpunkt eine Bereitschaft dahingehend zeigt, einen Menschen zu töten, indiziell eher dazu neigt, weitere Tötungen durchzuführen als eine Person, welche die vorgenannte Bereitschaft nicht zu einem anderen Zeitpunkt gezeigt hat.
(4) Zum Nichtvorhandensein von Standortdaten sowie zu den nicht unternommenen Anrufen des Angeklagten auf dem Handy der M. N.
Die Kammer hat weiter festgestellt, dass auf dem Mobiltelefon des Angeklagten in der Zeit vom 23.04.2017 bis zum 06.05.2017 – und somit auch für den Tag des Verschwindens der M. N. – keine Standortdaten aus dem Google-Standortverlauf auslesbar waren. Die Kammer konnte diese Tatsache nicht als Indiz für eine Täterschaft des Angeklagten heranziehen, da nach den Angaben des Zeugen KOK W. nicht geklärt werden kann, ob das Fehlen dieser Standortdaten auf einen technischen Defekt oder auf ein aktives Löschen dieser Standortdaten zurückzuführen ist. Nach den Angaben des Zeugen ist es auch nicht auszuschließen, dass die Erfassung der Standortdaten im genannten Zeitraum schlicht deaktiviert war. Schließlich hatte die Kammer auch zu berücksichtigen, dass es nach der Auswertung des Mobiltelefons des Angeklagten auch schon vorher Zeiträume gab, in denen keine Google-Standortdaten vorhanden waren. Auch bezüglich dieser – nicht tatrelevanten – Zeiträume ist die Ursache unklar.
Eine sichere Feststellung dahingehend, dass der Angeklagte Standortdaten über einen Zeitraum, der auch das Verschwinden der M. N. betrifft, aktiv gelöscht hat – was wiederum als Indiz für seine Täterschaft herangezogen werden könnte – konnte die Kammer nicht treffen.
Die Kammer konnte auch nicht als Indiz heranziehen, dass der Angeklagte nach dem Verschwinden seiner Tochter keine Anrufversuche mehr auf ihrem Handy unternommen hat, was von einem Vater zu erwarten wäre, der ein eigenes vermisstes Kind sucht und der nichts mit dem Verschwinden dieses Kindes zu tun hat. Insoweit konnte die Kammer feststellen, dass die M. N. zwei Mobiltelefone mit jeweils einer eigenen Rufnummer nutzte, und zwar ein Mobiltelefon samt SIM-Karte, das sie von ihrer Familie erhalten hatte, und ein Mobiltelefon samt SIM-Karte, das ihr der Zeuge R. zur Verfügung gestellt hatte. Hinsichtlich beider Mobiltelefonnummern konnten auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nach den Ausführungen des Zeugen PHM S., der die rückwirkenden Verbindungsdaten betreffend den Angeklagten und die Mobiltelefone der M. N. ausgewertet hat, keine Kontaktversuche nach dem Verschwinden der M. N. festgestellt werden. Damit steht zwar fest, dass der Angeklagte mit der von ihm verwendeten SIM-Karte nach dem Verschwinden seiner Tochter keine Anrufe bzw. Anrufversuche auf dem „Familienhandy“ und auf dem Handy des Zeugen R. unternommen hat. Dies hätte man erwarten können, wenn er seine Tochter ernsthaft gesucht hätte. Allerdings musste die Kammer insoweit auch feststellen, dass das „Familienhandy“ sich zum Zeitpunkt des Verschwindens der M. N. gar nicht mehr in ihrem Besitz befand, sondern der Angeklagte es ihr zuvor bereits abgenommen hatte. Dieses Mobiltelefon befand sich vor und nach dem Verschwinden der M. N. in der Wohnung des Angeklagten, weshalb Anrufe auf der entsprechenden Nummer selbst dann nicht zu erwarten wären, wenn der Angeklagte seine Tochter gesucht hätte. Soweit der Angeklagte nicht versucht hat, die Rufnummer des Mobiltelefons, das seine Tochter von dem Zeugen R. erhalten hat, anzurufen, hat die Kammer im Rahmen der Vernehmung des Zeugen PHM S. festgestellt, dass es auch schon vor dem Verschwinden der M. N. keinerlei Aktivitäten zwischen der Rufnummer des Angeklagten und der Rufnummer dieses Mobiltelefons, das die M. N. im Zeitpunkt ihres Verschwindens bei sich hatte, gab. Die Kammer hat den Zeugen PHM S. hierzu ausführlich befragt. Der Zeuge gab insoweit an, dass sich aus der Auswertung aller vorhandenen rückwirkenden Verbindungsdaten betreffend die Rufnummer des Angeklagten und die Rufnummer, mit der die M. N. das Mobiltelefon des Zeugen R. nutzte – entgegen der Annahme in einem früheren polizeilichen Aktenvermerk – keinerlei Aktivitäten, weder vor noch nach dem Verschwinden der M. N., ergeben hätten. Die Kammer kann also auch bezüglich dieser Rufnummer zumindest keinen plötzlichen Abbruch einer (versuchten) Kommunikation des Angeklagten mit seiner Tochter annehmen.
(5) Zu den Widersprüchen in den Vernehmungen des Angeklagten als Zeuge Soweit sich aus den Angaben des Angeklagten im Rahmen seiner Vermisstenanzeige am 06.05.2017 und seinen Angaben in der Zeugenvernehmung vom 22.05.2017 teilweise erhebliche Widersprüche zu den Geschehnissen am 04.05.2017, insbesondere betreffend die Abholsituation der M. N. an der Berufsschule und zur Frage, was der Angeklagte an diesem Tag vor und nach dem Verschwinden seiner Tochter getan hat, ergeben haben, so kann die Kammer nicht ausschließen, dass diese Widersprüche in weiten Teilen auch auf die mangelnden Sprachkenntnisse des Angeklagten zurückzuführen sind. Soweit der Angeklagte am 06.05.2017 Angaben gemacht hat und diese zu späteren Angaben im Widerspruch stehen, hat die Kammer festgestellt, dass bei der Vermisstenanzeige am 06.05.2017 der ebenfalls in der Hauptverhandlung vernommene Zeuge Y. als Dolmetscher tätig war. Die Deutschkenntnisse des Zeugen Y. sind allerdings ihrerseits stark eingeschränkt. In der hiesigen Hauptverhandlung musste der Zeuge Y. selbst unter Beiziehung eines Dolmetschers vernommen werden. Die Kammer kann deshalb nicht sicher feststellen, dass es sich bei den anlässlich der Vermisstenanzeige vom 06.05.2017 von der aufnehmenden Polizeibeamtin C. zusammengefassten Angaben inhaltlich genau um das handelt, was der Angeklagte tatsächlich gesagt hat. Auch bei der Zeugenvernehmung des Angeklagten vom 22.05.2017 kam es ausweislich des verlesenen Protokolls dieser Aussage mehrfach zu Verständnisschwierigkeiten zwischen dem Angeklagten, dem Dolmetscher und den vernehmenden Beamten. Angesichts dieser Unklarheiten kann die Kammer etwaige Widersprüche in den Aussagen des Angeklagten nicht zu Lasten des Angeklagten als Indiz für seine Täterschaft heranziehen.
(6) Zum angeblich gewechselten Kofferraumboden des Peugeot Soweit die Anklageschrift noch davon ausging, der Angeklagte habe nach dem Töten seiner Tochter zur Beseitigung von Spuren den Kofferraumboden des Pkw Peugeot ausgewechselt – was als Indiz für seine Täterschaft gewertet werden könnte -, so hat die Hauptverhandlung ein solches Auswechseln des Kofferraumbodens nicht ergeben. Nach den Angaben des Zeugen KHK A. wurde der Pkw bereits am 23.05.2017, also keine drei Wochen nach dem angeblichen Wechseln des Kofferraumbodens, untersucht. Der Einsatz eines Leichenspürhundes sei negativ gewesen. Es hätten sich auf dem Kofferraumboden augenscheinlich ältere Verschmutzungen gezeigt, wie sie auch im Rest des Fahrzeuginnenraumes vorhanden waren. Jedenfalls sei nicht aufgefallen, dass der Kofferraumboden neuer oder weniger verschmutzt war, als das übrige Fahrzeuginnere. Objektive Anhaltspunkte, die ein Auswechseln des Kofferraumbodens durch den Angeklagten beweisen könnten, haben sich im Rahmen der Hauptverhandlung nicht ergeben. Die Kammer konnte nicht feststellen, dass der Pkw Peugeot überhaupt im Zusammenhang mit dem Tod der Mezgin N. steht.
(7) Zum angeblichen Geständnis gegenüber dem Zeugen C.
Der Zeuge C. wurde am 21.04.2021 in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen. Vorausgegangen war eine Aussage dieses Zeugen am 20.04.2021 in seiner eigenen Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Aschaffenburg, mit welcher er den hiesigen Angeklagten belastete. Der Angeklagte habe ihm gegenüber bei einem gemeinsamen Kaffeetrinken Mitte März 2021 angegeben, dass er seine Tochter umgebracht und auch versucht habe, deren Freund umzubringen. Weiter habe der Angeklagte ihm gesagt, dass er Moslem sei und dass Geschlechtsverkehr vor der Ehe verboten sei, weshalb er die Taten begangen habe.
Der Zeuge C. wiederholte diese Angaben in der hiesigen Hauptverhandlung am 21.04.2021 gegenüber der Kammer und führte weiter aus, der Hashem N. habe ihm dies in deutscher Sprache mitgeteilt. Er selbst spreche recht gut Deutsch, der Hashem N. jedoch nicht. Mit diesem habe er mit Händen und Füßen kommuniziert oder man habe Sachen aufgemalt, wenn man etwas voneinander gewollt habe. Der Hashem N. habe ihm dies langsam und in gebrochenem Deutsch erzählt.
Der Zeuge wurde mehrfach und nachdrücklich befragt, seit wann er wisse, warum der Hashem N. überhaupt in Untersuchungshaft sei. Er wiederholte mehrfach, dass er dies erst an dem Tag erfahren habe, als der Hashem N. dies ihm erzählt habe (wohl ein oder zwei Tage nach dem 12.03.2021). Vorher habe er gar nicht gewusst, warum der Hashem N. im Gefängnis sei. Auch der Zeuge R., der zeitweise in der gleichen Zelle wie er inhaftiert gewesen sei, habe ihm nicht gesagt, was dem Hashem N. vorgeworfen werde.
Bereits zu Beginn seiner Vernehmung und auch am Ende seiner Vernehmung machte der Zeuge C. sehr deutlich, dass er für seine Aussage nun Vergünstigungen in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren, in welchem er erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, erwarte.
In der nachfolgenden Vernehmung des Zeugen R., ebenfalls rumänischer Staatsangehöriger, gab dieser u.a. an, dass der Zeuge C. ihm bereits im Dezember 2020 gesagt habe, dass der H. N. im Fernsehen zu sehen gewesen sei und dass diesem ein Mord und ein versuchter Mord vorgeworfen würden.
Angesichts der Tatsache, dass der Zeuge C. seine Aussage offenkundig motiviert durch eine von ihm erwünschte Milderung seiner Strafe gemacht hat und die Kammer in der Hauptverhandlung unverblümt angelogen hat, er habe bis zu dem „Geständnis“ des Angeklagten gar nicht gewusst, warum dieser in Untersuchungshaft sei, kann die Kammer auch die Aussage des Zeugen C. insgesamt nicht für glaubhaft erachten. Die Angaben, die der Zeuge zu dem angeblichen Geständnis des Angeklagten gemacht hat, kann der Zeuge C. sämtlich auch Beiträgen im Fernsehen oder etwa in der Zeitung entnommen haben, insbesondere, da der Zeuge C. seine Angaben erst am 21.04.2021 gemacht hat und insoweit bereits vielfältig in der Presse über die Anklagevorwürfe und den Verlauf der Hauptverhandlung berichtet wurde.
bb) Zu den gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Beweismitteln
(1) Zum nicht widerlegten Teilalibi
Die Kammer hatte auch zu berücksichtigen, dass der Angeklagte für den von der Anklageschrift angenommenen Tatzeitraum zumindest teilweise über ein Alibi verfügt.
Der Zeuge Y. gab im Rahmen seiner Vernehmung insoweit an, dass der Angeklagte gegen 12:15 Uhr, möglicherweise auch erst gegen 13:15 Uhr, an seiner Anschrift in der B.straße 30 in G. gewesen sei, sich dort einige Zeit aufgehalten und mit ihm einen Kaffee getrunken habe. Aus der verlesenen Aussage der Zeugin S.-M. ergab sich weiter, dass der Angeklagte gegen 13:00 Uhr in die gemeinsame Wohnung zu seiner Ehefrau kam, bevor er die Wohnung gegen 14:30 Uhr wieder verließ und mit zwei Arbeitskollegen nach Schaafheim zu seiner Arbeitsstelle fuhr.
Im Rahmen der Hauptverhandlung konnten diese Angaben des Zeugen Y. und der Zeugin S.-M. nicht widerlegt werden. Angesichts der noch verbleibenden Zeiträume erscheint eine Tatbegehung durch den Angeklagten, jedenfalls so, wie sie in der Anklageschrift beschrieben wird, eher unwahrscheinlich.
(2) Zum Verhalten des Angeklagten nach dem Verschwinden der M. N.
Die Kammer hat weiter festgestellt, dass der Angeklagte nach dem Verschwinden seiner Tochter selbst zweimal bei der Polizei erschien, um Vermisstenanzeigen zu erstatten. Der Angeklagte begab sich nach der Tat auch in die Schule und fragte dort nach dem Verbleib seiner Tochter. Nach der Aussage des Zeugen R. suchte der Angeklagte auch in der Folgezeit, teils allein, teils gemeinsam mit dem Zeugen R., nach der M. N.. Dieses Verhalten spricht nach Überzeugung der Kammer eher gegen eine Tatbegehung durch den Angeklagten. Die Kammer hat hierbei zwar erwogen, dass die Suche des Angeklagten nach M. N. von ihm vorgespielt war, um von seiner Täterschaft abzulenken. Tatsächliche Anhaltspunkte hierfür konnte die Kammer aber nicht feststellen.
Nach der durchgeführten Beweisaufnahme konnte die Kammer auch kein sonst auffälliges Verhalten des Angeklagten feststellen: die zeitweise durchgeführte Observation des Angeklagten und die durchgeführte umfangreiche Telekommunikationsüberwachung ergaben keine tatrelevanten Hinweise. Auch am Tag des Verschwindens verhielt sich der Angeklagte weitgehend unauffällig, bis er am Nachmittag auf seiner Arbeitsstelle angerufen wurde und ihm gesagt wurde, dass seine Tochter am Nachmittag nicht nach Hause gekommen sei.
cc) Zur Überzeugungsbildung der Kammer
Insgesamt konnte sich die Kammer bei einer Gesamtwürdigung aller vorgenannten Umstände nicht von der Täterschaft des Angeklagten überzeugen. Vielmehr verbleiben Zweifel, weshalb der Angeklagte freizusprechen war.
Die Kammer hat dabei die den Angeklagten belastenden Indizien – wie etwa die Nähe des Auffindeortes der Leiche zu seiner ehemaligen Wohnanschrift, die von ihm bereits vor dem Verschwinden der M. N. ihr gegenüber ausgeübte körperliche Gewalt und die ihr gegenüber ausgesprochenen Drohungen, ein denkbares Motiv sowie den versuchten Mord zum Nachteil des Zeugen R. am 02.06.2017 – nicht nur einzeln, sondern auch in einer Gesamtschau gewürdigt. Trotz einiger Feststellungen, die für eine Täterschaft des Angeklagten sprechen, konnte eine Verurteilung wegen des Mordes an M. N. nicht erfolgen. Die Kammer hat dabei insbesondere berücksichtigt, dass weder die Todesart, noch der Todeszeitpunkt noch ein etwaiger Tatort sicher festgestellt werden konnten und dass dem Angeklagten nach den getroffenen Feststellungen nur ein sehr enges Zeitfenster zur Begehung der Tat – jedenfalls so, wie im Anklagesatz umrissen – verlieben wäre. Objektive Beweismittel für eine Begehung der Tat durch den Angeklagten hat auch die umfangreiche Beweisaufnahme nicht hervorgebracht.
Bloße Vermutungen, der Angeklagte werde etwas mit dem Tod seiner Tochter zu tun haben oder er habe zumindest Kenntnis davon, was geschehen sei, können eine Verurteilung des Angeklagten wegen eines Mordes jedenfalls nicht tragen.
III. Die Kammer konnte hinsichtlich des angeklagten Lebenssachverhaltes betreffend den Mord an Mezgin N. auch keinen anderen Sachverhalt feststellen, der den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Zur Beweiswürdigung, soweit eine Verurteilung erfolgte Der Angeklagte hat sich zum Tatgeschehen nicht eingelassen. In seinem letzten Wort führte er aus, dass – wenn es so gewesen wäre, wie der Zeuge R. behauptet – er „es geschafft und ihn getötet hätte“, da er sportlicher gewesen sei als der R. und ihn spätestens bei der Flucht „erwischt“ hätte; es wäre nicht beim Versuch geblieben.
1. Zu den gehörten Zeugen
a) Zu den Angaben des Zeugen EKHK B.
Der Zeuge EKHK B. berichtete als polizeilicher Sachbearbeiter über den Ermittlungsgang betreffend den Vorfall am 02.06.2017. Der Vorfall sei zunächst als Einbruch ins Anwesen S. am 02.06.2017 gegen 01:40 Uhr der Polizei gemeldet worden. Bei Eintreffen der Beamten habe sich jedoch bald im Hinblick auf den schreienden und blutenden Geschädigten R. eine andere Deliktsschwere präsentiert.
Der Tatverdacht sei hier schnell auf den Angeklagten gefallen, da der Geschädigte sogleich beim Eintreffen der Beamten dessen Name gerufen und deutlich gemacht habe, wer ihn angegriffen habe. Früh habe sich daher gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der M. N. und dem vorliegenden Fall bestand.
Die Ermittlungen hätten ergeben, dass der Angeklagte – dem der Zeuge persönlich mit einem Übersetzer am 29.05.2017 eine Ladung zum Strafantritt am 02.06.2017 ausgehändigt habe – fliehen wollte. Dies habe auch dessen Ehefrau bestätigt und in dem blauen Peugeot, den der Angeklagte nutzte und der in der K-Straße beim Hauptbahnhof in Aschaffenburg geparkt gewesen sei, seien gepackte Koffer mit Kleidungsstücken festgestellt worden.
Der Tatort konnte nicht präzise festgestellt werden, weil im Bereich des Ruderclubs drei Treppen parallel zueinander zum Main herabführten und unklar blieb, auf welcher Treppe die Tat geschah. Man habe den gesamten Mainabschnitt nochmals abgesucht und es seien keine adäquaten anderen Treppen festgestellt worden. Am Tatort selbst seien keine Blutspuren festgestellt worden, dort vorhandene Zigarettenkippen, Getränkedosen und -flaschen hätten keine relevanten DNA-Treffer ergeben.
Insgesamt sei auffallend gewesen, dass der Geschädigte R. zumindest anfangs bei seinen Angaben – die er äußerst konstant über mehrere Vernehmungen und über einen längeren Zeitraum hinweg schilderte – keinen Belastungseifer gezeigt habe.
Mit dem Zeugen B. wurden zudem Lichtbilder in Augenschein genommen, die der Zeuge erläuterte.
Auf der ersten Lichtbildtafel war zunächst ein Luftbild zu sehen, auf welchem der Main, der Tatort und das Anwesen der Familie S. zu sehen sind. Insbesondere ist auf dem Bild der unmittelbar am Main entlanglaufende Fuß- und Radweg sowie die daneben liegende Autostraße zu sehen, wobei die Wege durch einen mehrere Meter breiten Grünstreifen getrennt werden. Weitere Lichtbilder zeigen, dass die gemessene Entfernung zwischen dem Tatort und dem Anwesen der Familie S. „246,60 m“ beträgt. Weitere Bilder zeigen aus Sicht eines Fußgängers die Wegstrecke vom Tatort zum Anwesen der Familie S., wobei hier auffällt, dass der Fuß- und Radweg – im Gegensatz zur parallel laufenden Autostraße – über keine Straßenbeleuchtungsanlagen verfügt. Ebenfalls ist auf den Lichtbildern der Treppenabgang zu sehen, wo nach den Angaben des Geschädigten, so der Zeuge, sich die Tat ereignet haben soll. Ein Bild zeigt das Hoftor der Familie S., wo eine verbogene Zierrosette zu sehen ist. Auf diese Abbildungen, die sich bei den Akten befinden (Bl. 134 ff. des hinzuverbundenen Verfahrens Ks 104 Js 5638/17), wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen, § 267 Abs. 1 S. 3 StPO.
Auf der zweiten Lichtbildtafel war der Innenhof des Anwesens S. zu sehen, wobei die Lichtbilder dem Zeugen B. nach am frühen Morgen des 02.06.2017 gefertigt wurden. Auf den Bildern ist u.a. die Hauseingangstür der Familie S. zu sehen, bei der erkennbar Glaselemente zerbrochen sind. Auf der Tür und auf dem Boden des Eingangsbereichs sind Blutanhaftungen zu erkennen. Weitere Bilder zeigen den Geschädigten R. mit der frischen, noch unversorgten, Verletzung mit einer Länge von ca. zehn Zentimetern und einer klaffenden Breite von ca. drei Zentimetern. Auf diese Abbildungen, die sich bei den Akten befinden (Bl. 94 ff. des hinzuverbundenen Verfahrens Ks 104 Js 5638/17), wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen, § 267 Abs. 1 S. 3 StPO.
Die dritte Lichtbildtafel schließlich zeigte eine Nachstellung der Tatsituation, welche nach den Angaben des Zeugen B. kurz nach der Entlassung des Geschädigten aus dem Krankenhaus am Tatort erfolgte. Der Geschädigte R. sitzt hierbei auf der Treppe nach unten in Richtung Main blickend rechts und die zweite Person (nach Angaben des Zeugen der Onkel des Geschädigten I. S.), welche den Angeklagten nachstellt, sitzt auf der Treppe mittig zwei Stufen höher. Auf den Bildern ist zu sehen, wie der Geschädigte die Hand unter dem T-Shirt hat und der frische Wundverband am Hals und an den Fingern ist erkennbar. Auf diese Abbildungen, die sich bei den Akten befinden (Bl. 209 f. des hinzuverbundenen Verfahrens Ks 104 Js 5638/17), wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen, § 267 Abs. 1 S. 3 StPO.
b) Zu den Angaben des Zeugen PHM R.
Der Zeuge PHM R. berichtete, dass am 02.06.2017 gegen 01:40 Uhr ein Anruf wegen eines vermeintlichen Einbruchs in das Anwesen S. in A. eingegangen sei. Hierbei seien zwei Streifenwagen jeweils gegen 01:45 Uhr dort eingetroffen. Dort habe man den Geschädigten im ummauerten Hof des freistehenden Hauses festgestellt, der lautstark um Hilfe schrie und sich den Hals hielt. Seine Kleidung sei blutverschmiert gewesen und beim Annähern sei festgestellt worden, dass dieser eine etwa zehn Zentimeter lange und drei Zentimeter breite, schräg verlaufende Schnittwunde am linken Halsbereich hatte. Daraufhin sei erste Hilfe geleistet und ein Notarzt verständigt worden.
Der panisch wirkende Geschädigte habe beim Antreffen durch die Beamten angegeben, vom Vater seiner Freundin mit einem Messer angegriffen worden zu sein. Er habe – noch im Hof liegend – „Messer“ und „Hals“ ausgerufen und auch eine Schnittbewegung am Hals gezeigt. Er rief auch den Namen des Angeklagten und gab an, dass seine Freundin die M. sei. Auf Vorhalt konnte der Zeuge R. auch bestätigen, dass der Geschädigte – immer noch im Hof liegend – auch angegeben habe, dass er sich mit dem Angeklagten verabredet habe und dieser mit einem kleinen blauen Auto zum Bahnhof gekommen sei. Der Geschädigte habe eher schlecht deutsch gesprochen.
c) Zu den Angaben des Zeugen POM B.
Der Zeuge POM B. berichtete von der zweiten Vernehmung des Geschädigten am 02.06.2017 gegen 05:58 Uhr, die im Klinikum A. stattfand. Dem Geschädigten sei es den Umständen entsprechend gut gegangen und er sei bei der Vernehmung voll orientiert gewesen.
Der Geschädigte habe berichtet, dass der Angeklagte ihn am Vorabend vom Mobiltelefon seiner Ehefrau angerufen habe. Er habe ein Gespräch gewollt, weil er am Folgetag mittags in das Gefängnis gehen sollte. Man habe sich gegen 20:30 Uhr am Hauptbahnhof getroffen, danach sei man zum Main gelaufen. Man habe über die M. gesprochen und darüber, wo sie sei. Man habe eine Zigarette geraucht, dann habe der Angeklagte ihn mit einem Messer verletzt. Er sei dann geflüchtet und der Angeklagte sei ihm mit dem Messer hinterher gerannt. Der Tatort sei, wenn man aus dem Haus der Familie gehe „30 Meter links“ [entspricht der Richtung des Tatorts, Anm. d. Gerichts].
Der Zeuge berichtete zudem, dass der Geschädigte angegeben habe, dass es kein normales Messer gewesen sei, die „Spitze geht nach vorne raus“. Dem Geschädigten sei dann ein Bild eines Teppichmessers gezeigt worden; der Geschädigte habe dann bestätigt, dass es ein solches Messer gewesen sei, in grauer Farbe.
d) Zu den Angaben des Zeugen KHK S.
Der Zeuge KHK S. berichtete von der dritten Vernehmung des Geschädigten am 02.06.2017 gegen 07:05 Uhr, die ebenfalls im Klinikum A. stattfand. Auch hier sei der Geschädigte voll orientiert gewesen. Die Vernehmung sei in türkischer Sprache gehalten worden.
Der Geschädigte habe hierbei angegeben, dass er am 01.06.2017 abends geschlafen habe und der Angeklagte ihn ab 20:00 Uhr angerufen habe, wobei der Angeklagte das Mobiltelefon seiner Frau benutzt habe. Der Angeklagte habe um ein Treffen gebeten und als er gerade zum Treffpunkt loslief, habe der Angeklagte ein zweites Mal angerufen und gefragt, ob er ihn abholen soll. Letzteres habe der Geschädigte abgelehnt und man habe sich schließlich gegen 21:00 Uhr am Hauptbahnhof getroffen. Man sei dann losgelaufen, wobei der Angeklagte ihm gesagt habe, dass er im Falle eines Anrufs nicht sagen solle, mit wem er unterwegs sei. Dies habe er auch – etwa als die Ehefrau ihn mit dem Mobiltelefon des Angeklagten kontaktierte – getan. Man habe darüber gesprochen, dass der Angeklagte nicht in Haft und fliehen wolle, auch habe der Angeklagte gesagt, dass der Geschädigte und die M. „an allem Schuld seien“. Als der Geschädigte fror, habe er einen Freund anrufen wollen, der ihm eine Jacke bringen sollte, wobei der Angeklagte hier gesagt habe, dass keiner kommen solle. Der Geschädigte habe dann seine Hände unter sein T-Shirt gesteckt. Der Angeklagte habe ihm auch gesagt, dass er das tun solle.
Der Angeklagte habe dann auf der Treppe eine Stufe höher gesessen und etwas aus der Hose gezogen, wobei der Angeklagte gesagt habe, dass er nach seinem Schlüssel sehe. Dann habe der Angeklagte ihn geschnitten, was der Geschädigte nicht gesehen und nur gespürt habe. Dann habe der Angeklagte nochmals versucht, das Messer einzusetzen, er sei aber weggelaufen und habe geblutet. Das Messer sei so eins gewesen, das es in verschiedenen Farben gibt und wo man drücken und gleichzeitig die Klinge rausschieben muss. Der Angeklagte habe ihn verfolgt und ihn töten wollen. Er sei dann an ein Haus gekommen, habe Angst gehabt und so fest an eine Tür geschlagen, dass diese zerbrochen sei. Er glaube, so der Geschädigte gegenüber dem Zeugen S., dass der Angeklagte ihn so lange verfolgt habe, bis er über den Gartenzaun von dem Haus gesprungen und so entkommen sei. Dann sei auch bald die Polizei gekommen.
Mit dem Zeugen S. wurden Screenshots in Augenschein genommen, die nach den Angaben des Zeugen vom Mobiltelefon des Geschädigten gefertigt wurden. Die Texte, die in arabischen Schriftzeichen gehalten sind, wurden hierbei vom anwesenden Dolmetscher übersetzt.
Hierauf ist zu sehen, dass es drei Gespräche zwischen dem Mobiltelefon des Geschädigten R. und einem Mobiltelefon gegeben hat, dessen Inhaber mit „IM R.“ gelistet ist (wie der Geschädigte R. in seiner Vernehmung berichtete, sei damit die H. S.-M. gemeint gewesen; der Name bedeute „Mutter des R.“, wobei R. der Bruder der M. und Sohn der H. S.-M. ist, Anm. d. Gerichts). Diese Gespräche datieren auf den 01.06.2017, 20:10 Uhr, 20:12 Uhr und 20:32 Uhr mit einer Dauer von einer Minute, 22 Sekunden bzw. 26 Sekunden. Der Zeuge S. gab hierbei an, dass nach den Angaben des Geschädigten dieser hier mit dem Angeklagten gesprochen habe.
Ferner sind auf den Bildern vom Mobiltelefon des Geschädigten gefertigte Screenshots eines Chats in arabischer Sprache mit einem Mobiltelefon, dessen Inhaber als „H.“ bezeichnet ist, zu sehen. Diese Chats datieren auf den 02.06.2017 zwischen 00:02 Uhr und 00:09 Uhr. Dieser Chat, der in öffentlicher Hauptverhandlung durch den anwesenden Dolmetscher übersetzt wurde, hat folgenden Inhalt: 00:02 Uhr, „Hashem“: Hallo S.? wo bist du? Bist du im Schlaf? Wo ist H.?
00:03 Uhr, R.: Hallo meine Tante
00:03 Uhr, „H.“: Hast du H. gesehen? Ist er in Sicherheit?
00:03 Uhr, R.: Ich weiß es nicht. Warum? Ist er nicht zu Hause?
00:03 Uhr, „H.“: Nein.
00:04 Uhr, „H.“: Er ist außer Erreichbarkeit, er weiß, aber redet nicht? Hallo?
00:05 Uhr, „H.“: Warum antwortet er nicht?
00:09 Uhr, „R.“: ja, meine Tante. Ich bin zuhause.
Der Zeuge S. gab hierbei an, dass nach den Angaben des Geschädigten dieser hier mit der H. S.-M. gechattet habe.
Auf diese die Screenshots zeigenden Abbildungen, die sich (auch in Übersetzung) bei den Akten befinden (Lichtbildtafel I, Bilder 37 und 38 bzw. 8 und 10 aus dem Sonderband „WhatsApp-Messenger Mobiltelefon des Geschädigten R. aus dem hinzuverbundenen Verfahren 104 Js 5638/17), wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen, § 267 Abs. 1 S. 3 StPO.
e) Zu den Angaben des Zeugen KHK A.
Der Zeuge KHK A. berichtete in seiner Zeugenaussage auch von der vierten Vernehmung des Geschädigten am 21.12.2018, die in hocharabischer Sprache gehalten und in welcher der Geschädigte – unter anderem – zu der Tat am 02.06.2017 befragt wurde.
Der Zeuge R. habe in der Vernehmung, so der Zeuge A., weiterhin konstante Angaben gemacht: So habe der Angeklagte den Geschädigten gegen 20:30 Uhr angerufen und ein Treffen erbeten im Hinblick auf den am nächsten Tag anstehenden Strafantritt. Man habe sich am Bahnhof getroffen und sei sodann mehrere Stunden durch die Stadt gegangen. Gesprächsthema sei u.a. das Verschwinden der M. gewesen, über die der Angeklagte recht schlecht geredet habe. Man habe dann auf einer Treppe, die zum Main führt, gesessen, der Angeklagte habe links hinter dem Geschädigten gesessen und dem frierenden Geschädigten gesagt, er solle seine Hände unter das Oberteil nehmen. Der Geschädigte habe einen Bekannten anrufen wollen, dies habe aber der Angeklagte nicht gewollt. Als der Geschädigte auf das Wasser schaute, habe der Geschädigte dann an der linken Halsseite etwas Scharfes gespürt, das er erst nicht gesehen habe. Der Angeklagte habe ihm ein Messer über den Hals gezogen. Der Angeklagte habe ein zweites Mal zustechen wollen, was der Geschädigte habe abwehren können und dann habe der Geschädigte geschrien und sei geflohen, wobei der Angeklagte noch ein drittes Mal habe zustechen wollen. Der Angeklagte sei dem Geschädigten dann hinterhergerannt, u.a. auf einem Parallelweg. Der Geschädigte habe dann erfolgreich zu einem Haus flüchten können.
f) Zu den Angaben des Zeugen S. R.
Der Geschädigte S. R. machte im Rahmen seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung zum fünften Mal eine Zeugenaussage zu dem Vorfall vom 02.06.2017.
Während der Zeuge im weiteren Verlauf der Vernehmung von dem bereitgestellten Dolmetscher Gebrauch machte, erläuterte er zunächst das Geschehen am 01.06.2017 und 02.06.2017 in deutscher Sprache und im freien Bericht:
Er habe an dem Donnerstag (01.06.2017, Anm. d. Gerichts) abends geschlafen und da habe der Angeklagte gegen 20:00 Uhr oder 20:30 Uhr bei ihm mit einer türkischen Nummer angerufen, die der Ehefrau des Angeklagten gehört habe. Der Angeklagte habe gefragt, wo er – der Geschädigte – sei, woraufhin er ihm mitgeteilt habe, zuhause bei seinem Onkel zu sein. Der Angeklagte habe gesagt, dass er ihn mit dem Auto abholen wolle, woraufhin er entgegnet habe, dass er das nicht wolle und dass man sich am Bahnhof treffen solle. Man habe sich dort dann gegen 21:00 Uhr getroffen, der Angeklagte sei mit einem Auto dahin gekommen. Man sei gelaufen und der Angeklagte habe gesagt, dass er Hilfe brauche, da er vor habe zu fliehen. Sie seien dann am Main entlang gelaufen und da seien Treppen gewesen. Er habe zwei Stufen vor dem Angeklagten gesessen und man habe eine Zigarette geraucht und über den Verbleib der M. geredet. Ihm sei dann kalt gewesen und er habe einen Freund anrufen wollen, der ihm eine Jacke bringen solle, allerdings habe der Angeklagte gesagt, er solle das lassen, weil er diese Person „hasse“. Er habe dann, um sich zu wärmen, seine Hände unter sein T-Shirt gesteckt. Der Angeklagte habe dies bemerkt und gemeint „ja, ja, mach’ das“. Er habe dann geradeaus auf den Main geschaut mit den Händen unter dem T-Shirt, da habe der Angeklagte ihm mit dem Messer in den Hals geschnitten. Er habe sofort die Hände rausgenommen und hochgerissen, sich umgedreht und hierbei einen weiteren Schnitt verhindern können. Dann sei er weggerannt. Der Angeklagte habe dann ein drittes Mal ausgeholt, aber er sei dann schon „weg“ gewesen. Der Angeklagte sei ihm dann hinterhergerannt. Er habe irgendwann ein Haus gesehen, sei über den Zaun, habe laut um Hilfe gerufen und gegen die Tür geschlagen; dabei sei das Glas von der Tür kaputt gegangen. Dann sei die Polizei gekommen.
Auf Nachfrage gab der Zeuge – nunmehr unter Inanspruchnahme des Dolmetschers – an: Er habe vor der Tat eigentlich keine Angst vor dem Angeklagten gehabt. Der Angeklagte habe ihm am Bahnhof gesagt, dass er mit dem Auto da sei, das habe er auch gesehen. Der Angeklagte habe bei den Gesprächen angegeben, dass er ins Gefängnis solle, er deshalb fliehen müsse, er auf die in Deutschland verbleibende Familie achten solle und dass die M. „verloren“ sei, wobei er ihn – den Geschädigten – auch fragte, wo denn die M. sei. Dies sei nicht das erste Mal gewesen, dass der Angeklagte ihn gefragt habe, wo M. sei und er habe dem Angeklagten wie vorher auch gesagt, dass er dies nicht wisse. Im Rahmen des Spaziergangs habe auch die Ehefrau des Angeklagten angerufen und er habe dieser auf Anweisung des Angeklagten mitgeteilt, dass der Angeklagte nicht bei ihm sei. Zunächst seien an der Treppe, bevor der Schnitt erfolgte, noch zwei Personen gewesen, die dann weggegangen seien; der Angeklagte habe ihn sogar noch gefragt, ob die Polizei ihn überwache. Auf Vorhalt konnte der Zeuge nicht mehr angeben, ob der Angeklagte vor dem Schnitt vorgab einen Schlüssel zu suchen, er konnte sich aber daran erinnern, dass der Angeklagte mehrfach etwas „in seiner Tasche suchte“, was er nicht verstanden habe. Den ersten Schnitt habe er nicht kommen sehen, er habe ja auf das Wasser geblickt. Es habe sich bei dem Messer um ein Arbeitsmesser gehandelt, bei dem man die Klinge mit dem Finger „rausmachen“ könne; er nahm hierbei Bezug auf das Bild eines Cuttermessers, welches ihm einmal bei der Polizei im Rahmen einer Vernehmung gezeigt wurde. Er, der Geschädigte, sei auf der Straße für die Autos zu Fuß geflohen und der Angeklagte habe ihn auf dem parallel hierzu verlaufenden Fußweg verfolgt. Er sei aber schneller gewesen als der Angeklagte. Als er über den Zaun kletterte, sei der Angeklagte noch auf der Straße hinter ihm her gerannt und er habe Angst gehabt, dass der Angeklagte ihn doch noch erwischt. Er sei, wenn man aus dem Anwesen S. komme von „links“ gerannt gekommen.
Auf die Frage nach den Verletzungsfolgen gab der Geschädigte an, dass er eine etwa 10 Zentimeter lange Narbe an der vorderen linken Halsseite habe – welche für die Kammer auch sichtbar war – und diese Narbe bei Wetterumschwüngen schmerze. Auch „ziehe“ es an der Narbe, wenn der Geschädigte schwerere Gegenstände anhebe. Er sei wegen der Verletzung wenige Tage im Krankenhaus gewesen. Nach der Tat sei es ihm schlecht gegangen; er sei nicht mehr in die Schule gegangen, habe etwa 20 Tage „auf der Straße gelebt und bei Freunden übernachtet“, habe Probleme mit Alkohol und Betäubungsmitteln bekommen und habe sich insgesamt sehr verändert. Bis heute habe er öfters Angst und schlafe schlecht.
g) Zu den Angaben des Zeugen S.
Der Zeuge S., dessen polizeiliche Aussage vom 02.06.2017 in der Hauptverhandlung verlesen wurde, berichtete, dass seine Mutter und er in dem Anwesen in A. geschlafen hätten, als man gegen 01:45 Uhr durch laute Geräusche an der Hauseingangstüre sowie lautstarkes Gebell des Hundes der Familie wach geworden sei. Man habe festgestellt, dass eine männliche Person von außen wie wild gegen die Eingangstüre schlug und man habe auch ein Klirren gehört, welches man mit dem Zerbrechen einer Scheibe in Verbindung gebracht habe.
Die Person habe etwas gerufen, man habe dies aber nicht verstanden. Man habe dann schnell das Telefon geholt und sich im Bad eingeschlossen und sofort die Polizei gerufen. Die Familie sei im Jahr 2010 in dem Haus Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls geworden, bei welchem alle gefesselt und bedroht worden seien. Man habe sich deshalb sehr gefürchtet.
h) Zu den Angaben des Zeugen POW F.
Der Zeuge POW F. gab an, im Rahmen der Ermittlungen wegen des Vorfalls am 02.06.2017 beim Nachbarn der Familie S., Herrn K. in A., die Aufzeichnung einer Überwachungskamera entgegengenommen zu haben. Man könne, so der Zeuge F., auf den Bildern keine Personen, sondern nur das An- und Ausgehen von Lichtern sehen, dagegen aber u.a. die Schreie des Geschädigten und die Rufe der Polizei hören.
Der Zeuge gab an, dass die Aufnahmen nach Angaben des Herrn K. nicht in Echtzeit gefilmt würden, sondern eine Zeitverzögerung von ca. sechs Minuten vorliege.
i) Zu den Angaben der Zeugin S.-M.
Die Zeugen S.-M., Ehefrau des Angeklagten, deren polizeiliche Zeugenvernehmung vom 02.06.2017 in der Hauptverhandlung verlesen wurde, berichtete darin, dass der Angeklagte am 01.06.2017 gegen 21:00 Uhr die gemeinsame Wohnung verlassen habe. Er habe gesagt, dass er fliehen werde; hierzu habe er auch seine Koffer schon gepackt. Sie habe aber nicht gewusst, dass der Angeklagte mit dem Geschädigten R. unterwegs war – sie habe den Geschädigten sogar per WhatsApp gefragt, wo der Angeklagte sei. Sie habe hierfür die SIM-Karte ihres Mannes genutzt. Sie glaube, dass ihr Mann Rache an dem Geschädigten R. nehmen wollte, weil die M. weg sei.
In ihrer polizeilichen Vernehmung vom 19.12.2018, die ebenfalls verlesen wurde, berichtete die Zeugin, dass der Angeklagte zwei- oder dreimal nach dem Verschwinden der M. gesagt habe, dass er den Geschädigten R. töten werde. Er habe auch seinen Sohn Ab. damit beauftragt, den Geschädigten R. zu töten, da dieser der Grund sei, weshalb M. nicht mehr da sein. Die Zeugin gab zudem an, dass im syrischen Sprachgebrauch es aber öfters vorkomme, dass man Todesdrohungen ausspricht.
j) Zu den Angaben des Zeugen M. Y.
Der Zeuge M. Y. berichtete in seiner Zeugenvernehmung u.a. zu dem Vorfall Anfang Juni 2017. Er habe den Geschädigten nicht persönlich gekannt, ihn aber öfters in der Straße gesehen. Der Geschädigte habe auch die Familie des Angeklagten besucht. Der Angeklagte habe einmal gemeint, der Geschädigte sei „ein Verwandter aus seinem Dorf in Syrien“.
Am Abend des 01.06.2017 habe der Angeklagte – der einen Autoschlüssel für den blauen Peugeot des Zeugen hatte – den Wagen genommen und sei damit weggefahren, wann genau könne er aber nicht sagen. Das Auto sei dann einige Zeit weg gewesen und er habe nicht gewusst, wo. Ein paar Freunde hätten ihm dann schließlich mitgeteilt, dass das Auto in der Nähe vom Hauptbahnhof in A. stehen würde; dort habe er es dann geholt.
Er habe nach der Flucht des Angeklagten mit diesem noch einmal Kontakt gehabt. Die Ehefrau des Angeklagten, die Zeugin S.-M. habe über WhatsApp mit dem Angeklagten telefoniert, er habe das mitbekommen und die Ehefrau gefragt, was der Angeklagte so macht. Da habe der Angeklagte mit dem Zeugen sprechen wollen, sodass die Zeugin S.-M. ihm das Mobiltelefon ausgehändigt habe. Es ging darum, dass der Angeklagte in Istanbul sei und der Zeuge sich um die Familie kümmern sollte. Der Zeuge habe auch gefragt, was er gemacht habe, da habe der Angeklagte zu ihm gesagt, „dass er den S. in den Hals geschnitten habe“.
k) Zu den Angaben des Zeugen R.
Der Zeuge R. berichtete, dass er seit November 2020 eine längere Zeit mit dem Angeklagten in der gleichen Zelle inhaftiert gewesen sei. Er selber spreche nur sehr wenig deutsch und auch der Angeklagte verstehe nur etwa „30%“ die deutsche Sprache. Allerdings sei ihm aufgefallen, dass der Angeklagte oft über einen „S.“ gesprochen habe. Er selbst habe dies zunächst gar nicht einordnen können und wusste erst gar nicht, wer das sein sollte. Er habe zunächst gedacht, bei dem S. handele es sich um den Chef des Angeklagten. Er habe den Angeklagten so verstanden, dass dieser sich mit dem S. getroffen habe, man habe zusammen Drogen und Alkohol konsumiert und dann habe man sich gestritten und in diesem Zusammenhang habe der Angeklagte dem S. mit dem Messer verletzt. Diese Schilderungen habe der Angeklagte auch mit einer entsprechenden Geste am Hals demonstriert. Der S. sei aber nicht tot gewesen, jedoch habe der Angeklagte immer wieder gesagt, dass er, wenn er aus dem Gefängnis kommen werde, den S. endgültig töten werde. Der Angeklagte habe auch gesagt, dass er „drei Probleme habe“ und dies aufgezeichnet. Eines seien „11 Monate“ gewesen und die anderen beiden das, was bei Gericht zusammen verhandelt werden.
Der Zeuge R. machte bei seiner Aussage mehrfach deutlich, dass er nicht wisse, ob das der Angeklagte tatsächlich so gesagt habe; er habe sich diesen Sachverhalt aus den Angaben des Angeklagten, erschwert durch die Sprachbarriere so erschlossen. Jedoch machte der Zeuge R. auf Nachfrage deutlich, dass er sich mit der vom Angeklagten gezeigten Geste am Hals, welche eine Schnittführung zeige, sowie hinsichtlich dessen Äußerung, er werde den S. umbringen, wenn er aus dem Gefängnis komme, sicher sei.
l) Zu den Angaben des Zeugen Dr. G.
Die Kammer hat zudem die polizeiliche Vernehmung des Zeugen Dr. G. vom 15.12.2020 verlesen. Der Zeuge, dem die Patientenunterlagen vorlagen, berichtete, der operierende Arzt beim Geschädigten R. gewesen zu sein. Es habe eine Verletzung einer oberflächlichen Vene am Hals sowie eine Verletzung des linken Kopfdrehermuskels vorgelegen. Die Blutung sei mit einer Naht gestillt worden. Die Verletzung, wie sie ihm vorgelegen habe, sei nicht lebensgefährlich gewesen, jedoch wäre im Fall eines tieferen Eindringens – etwa zwei Zentimeter – des Schnittwerkzeugs eine Querdurchtrennung der Halsschlagader sowie der korrespondierenden großen Halsvene auf der linken Seite erfolgt, was absolut lebensgefährlich gewesen wäre. Soweit der Zeuge dies einschätzen könne, sei es schwer vorstellbar, wie ein Täter eine derartige Schnitttiefe steuern können soll.
2. Zu dem in Augenschein genommenen Überwachungsvideo Die Kammer hat zudem ein Überwachungsvideo durch Abspielen in Augenschein genommen, das von dem Nachbarn der Familie S., Herrn K. übergeben wurde. Bei den nachfolgenden Zeitstempeln ist zu bemerken, dass diese augenscheinlich sechs Minuten nachgehen; der von den Einsatzkräften vermerkte minutengenaue Eintreffzeitpunkt (01:45 Uhr) ist auf dem Video bei Zeitstempel 01:39 Uhr erkennbar; auf den Zeitstempel sind daher sechs Minuten zu addieren, um zur Echtzeit zu gelangen. Das Video – auf dem man nur das An- und Ausgehen von Lichtern sieht, jedoch das Geschehene akustisch weitgehend verständlich ist, hat im Wesentlichen folgenden Inhalt.:
Ab Zeitstempel 01:32:50 sind lauter werdende Schreie zu hören, die augenscheinlich auf eine sich nähernde Person zurückzuführen sind. Bei Zeitstempel 01:33:25 gehen augenscheinlich Lichter an. Man hört Klopfgeräusche. Man hört die gerufenen Worte „Hallo“, „Bitte“ und „bitte Aufmachen“ sowie stöhnende Rufe. Diese Schreie und Klopfgeräusche setzen sich sodann über mehrere Minuten fort. Bei Zeitstempel 01:36:00 ist ein Splittern, augenscheinlich von Glas, zu vernehmen. Daraufhin sind für eine Dauer von knapp zwei Minuten vorerst keine Rufe mehr zu hören. Bei Zeitstempel 01:37:55 hört man Hundegebell. Bei Zeitstempel 01:38:30 begehrt eine Person erkennbar erneut durch Rufen Einlass. Bei Zeitstempel 01:39:00 hört man mehrere redende Personen und bei Zeitstempel 01:39:25 schreit eine Person: „Polizei! Ist da jemand?“. Bei Zeitstempel 01:40:26 hört man den Namen „H. N.“.
3. Zu den verlesenen Urkunden
Das Schwurgericht hat zunächst den Entlassungsbrief des Klinikums Aschaffenburg vom 05.06.2017 verlesen. Hierin wurde ausgeführt, dass sich der Geschädigte S. R. vom 02.06.2017 bis zum 05.06.2017 in stationärer Behandlung befand. Als Diagnose wurde eine „Schnittwunde li. Hals und Schnittwunde D3 und D4 re. Hand“ gestellt. Nach stationärer Aufnahme sei eine antibiotische Therapie erfolgt und bei regelmäßigen Wundkontrollen und Verbandswechseln habe sich eine reizfreie und primäre Wundheilung aller Wunden gezeigt. Die Entlassmedikation beschränkte sich auf drei Tabletten Ibuprofen 400 pro Tag.
Die Kammer hat den Blutalkohol-Untersuchungsbefund vom 07.06.2017 des Universitätsklinikums B. verlesen. Hieraus ergab sich, dass in einer beim Geschädigten am 02.06.2017 gegen 07:02 Uhr entnommenen Blutprobe kein Alkohol festgestellt werden konnte. Ebenfalls hat die Kammer einen Immunologischen Vortestbefund (Serum) des Universitätsklinikums Bonn vom 07.06.2017 verlesen, aus welchem sich ergab, dass bei dem Geschädigten keinerlei Betäubungsmittelwirkstoffe, bis auf Benzodiazepine, festgestellt werden konnten.
In einem rechtsmedizinischen Gutachten des Universitätsklinikums B. vom 20.06.2017, welches verlesen wurde, wird ausgeführt, dass in der Blutprobe des Geschädigten das Benzodiazepin Midazolam (4,7 ng/ml) festgestellt wurde; hierbei handele es sich um ein Beruhigungsmittel, welches typischerweise im Rahmen der notfallmedizinischen Behandlung verabreicht werde. Die festgestellte Konzentration liege zudem unterhalb des therapeutischen Bereichs, was für eine geringe bzw. zurückliegende Einnahme spreche.
4. Zu den Ausführungen des Sachverständigen Dr. T.
Der Sachverständige Dr. med. T., Leitender Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin an der Universitätsklinik W., machte in seinem mündlich erstatteten Sachverständigengutachten Angaben zum Verletzungsbild beim Geschädigten S. R..
Aus den Krankenunterlagen des Klinikums A. gehe u.a. hervor, dass beim Geschädigten eine Schnittverletzung an der vorderen linken Halsseite sowie Schnittverletzungen an der Hand vorgelegen haben. Die Halsschnittverletzung mit einer Länge von etwa zehn Zentimetern verlaufe hierbei von hinten links nach vorn unten. Es habe sich eine Verletzung der tiefen Halsfaszie und ein freiliegender und teildurchtrennter linker Kopfdrehermuskel gezeigt. Auf einer Fotoaufnahme (die den Geschädigten mit offener Wunde im Innenhof des Anwesens S. zeigt und welche die Kammer bei Vernehmung des Zeugen EKHK B. in Augenschein genommen hat, Anm. d. Gerichts) sei erkennbar, dass der Schnitt an der linken Halsseite nahezu horizontal und glattrandig verlaufe. Der rechte Wundwinkel liege hierbei etwa in Höhe des Kehlkopfes und laufe flach aus; der linke Wundwinkel erscheine etwas tiefer. Auf dem Wundgrund erkenne man die Konturen des linken Kopfdrehermuskels mit augenscheinlicher Anschnittsverletzung an dessen linker Seite. Die Verletzungen an den Fingern zeigten keine Charakteristika von Abwehrverletzungen, seien mit dem vom Geschädigten geschilderten festen Klopfen an die Tür mit brechender Glasscheibe absolut kompatibel und seien bei der Frage der Gefährlichkeit der Verletzungen ohne weitere Relevanz. Soweit der Geschädigte angegeben habe, bei Wetterumschwüngen Schmerzen an der Narbe zu verspüren und dass diese auch „ziehe“, wenn er schwerere Gegenstände hebe, so erachtete der Sachverständige diese Folgeerscheinungen der Verletzung als „absolut plausibel“.
Zunächst könne, so der Sachverständige, festgestellt werden, dass die Verletzung des Halses mit einem scharfen Gegenstand – ohne geriffelte oder gezackte Klinge – ausgeführt wurde. Ausführungen zur Klingenlänge könnten hierbei nicht gemacht werden, die Angabe des Geschädigten, es habe sich um ein sog. Cuttermesser gehandelt, sei aber absolut schlüssig mit dem Verletzungsbild. Die Verletzung passe zu einer Schnittführung mit der rechten Hand von hinten, um den Kopf herumgreifend, von links zur Mitte des Halses hin.
Der Schnitt habe zu einer vollständigen Durchtrennung der Haut, des Unterhautfettgewebes und des flächigen Halshautmuskels geführt. Darunter sei auch eine oberflächliche Vene durchtrennt und der linke Kopfdrehermuskel auf etwa 20% der Stärke angeschnitten worden. Größere Blutgefäße und die Atemwege seien nicht betroffen gewesen, weshalb auch ein massiver Blutverlust nicht vorgelegen habe, schon gar nicht in Form eines „Spritzens“. Die Wunde habe zwar geblutet, allerdings sei hier eher von einem „Herablaufen“ auszugehen, sodass es nicht überraschend sei, dass am mutmaßlichen Tatort keine Blutspuren gefunden wurden.
Insgesamt handele es sich, so der Sachverständige, um eine (noch) vergleichsweise oberflächliche Verletzung, die im Wesentlichen durch Vernähung therapiert werden konnte und auch wurde. Letztlich habe sich daher das abstrakte Risiko einer akuten Lebensgefahr nicht realisiert. Eine abstrakte Lebensgefahr liege jedoch klar vor, da nur bei einer wenig größeren Schnitttiefe die an der linken Halsseite quer zur Schnittführung verlaufenden großen Halsgefäße eröffnet worden wären, was binnen Minuten hätte zum Tode führen können.
Es könne als ausgeschlossen gelten, dass eine Person, welche die vorliegende Schnittführung von hinten vornahm, in der Lage war, eine derartig (noch nicht akut lebensbedrohliche) Schnittführung zu dosieren: Ein Täter habe in der vom Geschädigten beschriebenen Situation schnell schneiden müssen um zu vermeiden, dass sich das Opfer bei der Schnittführung bewusst oder reflektorisch bewegt. Auch die Widerstandsfähigkeit der Haut und die der zu durchschneidenden Weichteile gegenüber der Klinge sei nicht vorhersehbar. Die anatomischen Verhältnisse am Hals seien so eng, dass absolut vitale Regionen nur etwa ein bis zwei Zentimeter von der Schnittlokalisation entfernt lägen. Letztlich könne vorliegend nur von einem Zufall gesprochen werden, dass der Schnitt nicht zu einer akuten Lebensgefahr oder gar zum Tod des Geschädigten geführt hat.
5. Zur Würdigung der Beweismittel durch die Kammer Im Hinblick auf die vorstehenden Beweismittel bestehen für die Kammer keine Zweifel daran, dass der oben unter B.II. festgestellte Sachverhalt sich so tatsächlich zugetragen hat.
Soweit der Angeklagte in seinem letzten Wort angegeben hat, er sei nicht der Täter, denn wenn er es gewesen wäre, wäre er schneller als der Geschädigte gerannt und hätte es geschafft ihn zu töten, erachtet die Kammer diese Einlassung als widerlegt. Zwar standen der Kammer neben den Angaben des Zeugen R. keine weiteren Beweismittel bzgl. des unmittelbaren Tatgeschehens zur Verfügung. Die Kammer hat dennoch keinen Zweifel daran, dass die Angaben des Geschädigten auf einem tatsächlich erlebten Lebenssachverhalt beruhen, zumal dessen Angaben durch sonstige Beweismittel bestätigt werden.
a) Zur Würdigung der Angaben des Zeugen R.
aa) Zu der bei der Würdigung der Aussage des Zeugen angewendeten Methodik Das bei der Würdigung anzuwendende methodische Grundprinzip besteht darin, bzgl. eines zu überprüfenden Sachverhalts, den ein Zeuge schildert, davon auszugehen, dass die Aussage nicht einem tatsächlichen Geschehensablauf entspricht (sog. Nullhypothese). Ergibt die Prüfstrategie, dass diese Hypothese mit den erhobenen Fakten nicht in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre – also auf einem tatsächlich erlebten Geschehen beruhende – Aussage handelt (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 680/98, NJW 1999, 2746, Rn. 12).
Die Prüfungsstrategie liegt vorliegend darin, zunächst die Aussage des Zeugen S. R. auf Aussagequalität und Konstanz hin zu analysieren. Im Wege der Kompetenzanalyse ist zu prüfen, ob eine gefundene Aussagequalität insbesondere durch eine reine Erfindung erklärbar sein könnte; hierbei sind auch etwaige Belastungsmotive abzuklären. Das erzielte Ergebnis ist sodann anhand einer Gesamtschau der Aussageentstehung und -entwicklung auf Fehlerquellen zu analysieren (Fremd- oder Eigensuggestion sowie Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefehler).
bb) Zur Qualität der Aussage
(1) Zu den Realkennzeichen Zur Durchführung der Analyse der Aussagequalität gibt es Merkmale, denen indizielle Bedeutung für die Entscheidung zukommen kann, ob die Angaben der untersuchten Person auf tatsächlichem Erleben beruhen. Es handelt sich um aussageimmanente Qualitätsmerkmale, deren Auftreten in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt. Hierzu zählen die Schilderung von Handlungskomplikationen, von überflüssigen oder ungewöhnlichen Details, Querverbindungen zu ähnlichen Vorgängen, räumlichzeitliche Einbettung der Aussage, Wiedergabe von Gesprächen oder unverstandenen Handlungen, Schilderung von deliktspezifischen Merkmalen und eigen- oder fremdpsychische Vorgänge, eine Inschutznahme des Täters, eine Selbstbelastung des Zeugen, spontane Selbstverbesserungen durch den Zeugen, das Zugeben von Erinnerungslücken oder von Unsicherheiten und eine ungeordnete und dennoch widerspruchsfreie Erzählweise.
Solche Realkennzeichen (oder auch Glaubhaftigkeitsmerkmale) können als grundsätzlich empirisch überprüft angesehen werden. Zwar handelt es sich um Indikatoren mit jeweils für sich genommen nur geringer Validität, d.h. mit durchschnittlich nur wenig über dem Zufallsniveau liegender Bedeutung. Eine Schlussfolgerung kann aber eine beträchtlich höhere Aussagekraft und damit Indizwert für die Glaubhaftigkeit zu beurteilender Angaben erlangen, wenn sie aus der Gesamtheit aller Indikatoren abgeleitet wird. Denn durch das Zusammenwirken der Indikatoren werden deren Fehleranteile insgesamt gesenkt. Unabhängig davon dürfen die Realkennzeichen jedenfalls nicht schematisch angewandt werden: Nur im Einzelfall können auch einzelne Realkennzeichen ausreichen, um den Erlebnisbezug einer Aussage anzunehmen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30.07.1999, a.a.O., Rn. 21 ff. m.w.N.).
(2) Zu den Realkennzeichen in den Angaben des Zeugen R.
Die Kammer hat im vorliegenden Fall eine erhebliche Anzahl solcher Realkennzeichen in den Angaben des Zeugen in der mündlichen Hauptverhandlung festgestellt. Auch wenn keinem dieser Realkennzeichen eine entscheidende Funktion zukommt, da jedes Glaubhaftigkeitsmerkmal für sich – wie bereits ausgeführt wurde – lediglich eine indizielle Bedeutung hat, ist die Kammer aufgrund der Quantität und Qualität der Merkmale davon überzeugt, dass die Nullhypothese – vorbehaltlich der noch vorzunehmenden Konstanz-, Kompetenz- und Fehlerquellenanalyse – hinsichtlich des Geschehens am Abend des 01.06.2017 und am frühen Morgen des 02.06.2017 verworfen werden kann und die Angaben des Zeugen demnach auf einem tatsächlich erlebten Lebenssachverhalt beruhen. Zu den Realkennzeichen im Einzelnen:
Der Zeuge konnte das geschilderte Geschehen im Rahmen seiner Vernehmung sehr gut räumlichzeitlich einordnen: So gab er an, an dem damaligen „Donnerstag“ abends zuhause bei seinem Onkel geschlafen zu haben und der Angeklagte habe ihn zwischen 20:00 Uhr und 20:30 Uhr angerufen. Grund für den Zeitpunkt sei gewesen, dass der Angeklagte am Folgetag in das Gefängnis gehen sollte. Er sei dann zu Fuß zum Bahnhof gelaufen, wo man sich gegen 21:00 Uhr getroffen habe und man sei dann durch die Stadt und schließlich den Main entlang gelaufen. Schließlich sei man an den Tatort gelangt, den der Zeuge vom Anwesen S. aus gesehen in Richtung links blickend beschrieb.
Der Zeuge schilderte im Rahmen seiner Aussage auch deutliche eigenpsychische Vorgänge: So schilderte er etwa, dass ihm im Verlauf des Spaziergangs kalt wurde, weil er keine Jacke dabei hatte und er dauernd über den Verbleib – auch unmittelbar vor dem Messerschnitt auf den Main blickend – der M. nachgedacht habe. Auch schilderte er – für die Kammer recht eindrücklich – die große Angst, die er nach dem Schnitt und auf der Flucht vor dem Angeklagten hatte, der ihn bis zum Überwinden der Grundstücksbewehrung des Anwesens S. verfolgte.
Der Zeuge gab im Rahmen seiner Vernehmung auch Gespräche wieder. Zwar schilderte er keine vollständigen konkreten Gesprächssequenzen in direkter Rede, jedoch machte er umfangreiche Angaben dazu, was Inhalt der an diesem Abend mit dem Angeklagten geführten Gespräche war (Frage des Angeklagten, wo der Geschädigte sei und Antwort des Geschädigten, dass er bei Onkel sei; Angebot des Angeklagten, ihn mit dem Auto dort abzuholen und Antwort des Geschädigten, dass er das nicht wolle und man sich am Bahnhof treffen soll; Mitteilung des Angeklagten, dass er in das Gefängnis solle und jetzt fliehen werde und Verbleib der M.; Mitteilung des Angeklagten, dass er niemandem sagen solle, dass man zusammen unterwegs sei; Mitteilung des Angeklagten, dass keiner kommen und dem Geschädigten eine Jacke bringen soll, weil er diese Person „hasse“; Kommentar des Angeklagten „ja, ja, mach’ das“).
Der Zeuge räumte auch Erinnerungslücken ein bzw. gab Unsicherheiten zu. So gab der Zeuge etwa – trotz des Vorhalts eines Prozessbeteiligten, dass er doch gesehen haben muss, von wo das Messer kam – an, dass er nicht sagen könne, aus welcher Richtung (von links hinten oder rechts hinten) das Messer geführt wurde, da er ja auf den Main geschaut habe. Auch konnte er auf Vorhalt nicht mehr sagen, ob der Angeklagte kurz vor der Tat behauptet hatte, in seiner Tasche nach einem Schlüssel zu suchen; er wisse das nicht mehr sondern könne nur noch bestätigen, dass der Angeklagte vorgab, in seiner Tasche nach etwas zu suchen.
Insoweit liegt auch – wenn auch in einer abgeschwächten Form – das Realkennzeichen einer unverstandenen Handlung vor: So gab der Geschädigte an, dass der Angeklagte mehrfach in seiner Tasche etwas gesucht habe. Dieses Vorgehen habe er – der ja nicht erwartete, dass der Angeklagte gleich überraschend ein Messer einsetzen werde – nicht verstanden.
Der Zeuge berichtete auch ungewöhnliche Details, die eher ausgefallen und deshalb an sich nicht zu erwarten wären. So gab er etwa an, dass er auf Aufforderung des Angeklagten hin keinem sagen durfte, dass er mit dem Angeklagten unterwegs war. Auch schilderte der Geschädigte den ungewöhnlichen Umstand, dass der Angeklagte ihn mit dem Mobiltelefon seiner Ehefrau anrief, während die Ehefrau ihn noch am gleichen Abend mit dem Mobiltelefon des Angeklagten kontaktierte. Auch die Ausführungen, er habe einen Freund (der ihm eine Jacke bringen sollte) nicht angerufen, weil der Angeklagte sagte, dass er diesen „hasse“ erscheint eher ungewöhnlich. Gleiches gilt für die aus Sicht des Geschädigten eher unerwartete Frage des Angeklagten, ob er von der Polizei überwacht werde.
Vereinzelt kommt den Angaben des Geschädigten zumindest im Ansatz – wenn auch bezogen auf einen anderen Tatkomplex – eine den Angeklagten in Schutz nehmende Funktion zu: So gab der Geschädigte an, dass der Angeklagte zwar gesagt habe, dass M. „verloren“ sei, jedoch habe der Angeklagte – so ausdrücklich der Zeuge R. – den Geschädigten auch gefragt, wo M. jetzt sei – eine Frage, die eher dagegen spricht, dass der Angeklagte mit dem Tod seiner Tochter etwas zu tun hat und grundsätzlich geeignet ist, ihn indiziell vom Tatvorwurf des Mordes (s.o.) zu entlasten.
Auch im Vergleich der Angaben des Zeugen zum Tatgeschehen zur sonstigen Zeugenbefragung vermochte die Kammer keinen „Bruch“ dahingehend festzustellen, dass die Angaben des Zeugen zum Kerngeschehen auffällig viele oder auffällig wenige Realkennzeichen aufwiesen. Insgesamt imponiert die Aussage des Geschädigten in der Hauptverhandlung als detailreich, flüssig und von der Qualität her gleichförmig. Zumal konnten die Ausführungen zum Kerngeschehen, soweit sie im freien Bericht und in deutscher Sprache gehalten waren, wegen des Fehlens eines Dolmetschers als „Filter“ noch unmittelbarer gewürdigt werden.
cc) Zur Konstanz der Aussage
Bei der Konstanzanalyse handelt es sich um ein wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse, bei der aussageübergreifende Qualitätsmerkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben, überprüft werden. Es ist insoweit ein Aussagevergleich im Hinblick auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen vorzunehmen. Dabei stellt allerdings nicht jede Inkonstanz einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar. Vielmehr können vor allem Gedächtnisunsicherheiten eine hinreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen (BGH, Urteil vom 30.07.1999, a.a.O., Rn. 26).
Der Geschädigte R. hat bereits unmittelbar nach der Tat, als die Polizei eintraf und soweit dies in der Situation möglich war – immerhin lag der Geschädigte zu diesem Zeitpunkt mit offenem Hals zur Nachtzeit in einem Innenhof und wurde notfallmäßig erstversorgt – erste Angaben zur Tat in gebrochenem Deutsch gemacht, etwa dass der Angeklagte ihn mit einem Messer geschnitten habe, man sich verabredet habe und der Angeklagte mit einem kleinen blauen Auto zum Treffpunkt am Bahnhof gekommen sei. Bei seiner zweiten Vernehmung nur wenige Stunden später, ebenfalls in deutscher Sprache im Klinikum Aschaffenburg, präzisierte er diese ersten Angaben weiter (Flucht und Verfolgung durch den Angeklagten, sowie grobe Beschreibung des Tatorts). In seiner dritten Vernehmung, eine weitere Stunde später im Klinikum Aschaffenburg, die in türkischer Sprache durchgeführt wurde, präzisierte er diese Angaben nochmals (abends geschlafen, Anruf des Angeklagten mit Handy der Ehefrau, Gesprächsinhalte, Anruf der Ehefrau vom Handy des Angeklagten, Frösteln, Arme unter dem T-Shirt, Verfolgung durch den Angeklagten bis zum Anwesen S.). Diese Angaben in den drei Vernehmungen am 02.06.2017 konnte der Geschädigte – nahezu identisch – in einer 18 Monate späteren Vernehmung in arabischer Sprache und schließlich, weitere 27 Monate später, nochmals in öffentlicher Hauptverhandlung zunächst in deutscher Sprache und dann wieder in arabischer Sprache, wiederholen. Hierbei hat die Kammer insbesondere berücksichtigt, dass der Nebenklägervertreter erst nach der Vernehmung seines Mandanten, des Geschädigten und Nebenklägers R., Akteneinsicht beantragt und erhalten hat. Es bestehen insoweit keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dem Geschädigten unmittelbar vor seiner Vernehmung in öffentlicher Hauptverhandlung die Protokolle seiner früheren Vernehmungen vorlagen und er seine Angaben hierauf ausrichten konnte.
Insgesamt imponiert nicht nur die Konstanz der Angaben des Geschädigten – nicht nur zum Kerngeschehen, sondern auch zum Randgeschehen. Auch fällt der Umstand auf, dass diese Zeugenangaben in verschiedenen Sprachen erfolgten, übersetzt wurden und dennoch diese Konstanz aufweisen, denn es ist nicht ungewöhnlich, dass infolge einer Dolmetschertätigkeit die ursprünglichen Angaben im Wortlaut variieren. Insoweit erachtet die Kammer den grundsätzlich problematischen Umstand einer Vernehmung in verschiedenen Sprachen durch verschiedene Dolmetscher im vorliegenden Fall gerade als ein die Konstanz tragendes Moment.
Die Kammer kann insgesamt keine Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen bei den verschiedenen Angaben des Zeugen feststellen, die an insgesamt konstanten Angaben zweifeln ließen. Soweit tatsächlich die Angaben differieren – etwa bei dem Umstand dass einmal der Angeklagte den Geschädigten aufgefordert haben soll, die Hände unter das T-Shirt zu nehmen und ein anderes Mal der Zeuge dies selbstständig gemacht hat und der Angeklagte dies nur mit „ja, ja, mach’ das“ kommentiert habe – so sind diese Differenzen nach Überzeugung der Kammer entweder im Hinblick auf den erheblichen Zeitablauf gedächtnispsychologisch oder aber im Hinblick auf die jeweilige Vernehmungssituation – einschließlich der Tatsache, dass die Aussagen teilweise über Dolmetscher getätigt wurden – erklärbar.
dd) Zur Kompetenz des Zeugen R.
(1) Zu dem Niveau der kognitiven Fähigkeiten des Zeugen R.
Während im Falle einer wahren Aussage ein Bericht aus dem Gedächtnis schlicht wiedergegeben wird, konstruiert andererseits eine bewusst lügende Person ihre Aussage aus ihrem gespeicherten Allgemeinwissen. Es stellt allgemein eine schwierige Aufgabe mit hohen Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit dar, eine Aussage über ein (komplexes) Geschehen ohne eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden und zudem über längere Zeiträume aufrechtzuerhalten (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.1999, a.a.O., Rn. 20).
Der Zeuge R. hat im Rahmen seiner Vernehmung in öffentlicher Hauptverhandlung mit der Kammer sowohl in verständlicher deutscher Sprache als auch über Dolmetscher kommuniziert. Die Kammer ordnet die kognitiven Fähigkeiten des Zeugen im Normalbereich ein; es bestehen weder Anhaltspunkte für ein relevantes Abweichen der Intelligenz des Zeugen vom allgemeinen Durchschnitt nach oben oder nach unten. Jedenfalls aber schließt es die Kammer aus, dass der Zeuge dazu fähig ist, zu mehreren verschiedenen Zeitpunkten, in verschiedenen Sprachen und über einen Zeitraum von insgesamt 45 Monaten hinweg – beginnend nahezu unmittelbar nach der Tat (in offensichtlich traumatisiertem Zustand) bis zu der Vernehmung in öffentlicher Verhandlung – ein erfundenes Geschehen in so gleichbleibender Präzision zu schildern und aufrechtzuerhalten. Insoweit schließt es die Kammer aus, dass der Zeuge in der Lage war, die angegebenen Ereignisse in der hier geschilderten Weise zu erfinden.
(2) Zum Fehlen weiterer Anhaltspunkte für eine intentionale Falschaussage Unabhängig davon, dass der Zeuge nach Überzeugung der Kammer nicht die Kompetenz hat, den vorliegenden Sachverhalt in vorliegender Qualität zu erfinden und über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, liegen auch sonst keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Geschädigte sich die Verletzung selbst beigebracht hat, nur um dann den Angeklagten der Tat zu bezichtigen: Zum einen kann die Kammer hierfür kein Motiv feststellen – insbesondere konnte die Kammer nicht feststellen, dass der Geschädigte den Angeklagten schon am 01.06.2017 des Mordes an der M. N. verdächtigte – zum anderen konnten bei Selbstverletzungen eher übliche Zauderschnitte nicht festgestellt werden.
Auch Anhaltspunkte dafür, dass eine dritte Person den Geschädigten verletzt und letzterer sodann diesen Umstand nutzte, um den Angeklagten der Tat zu bezichtigen, lagen nicht vor: Abgesehen von dem vorgenannten fehlenden Motiv für eine solche Falschbeschuldigung schließt es die Kammer aus, dass der Geschädigte – der noch im Innenhof der Familie S. den Angeklagten der Tat bezichtigte – in der Lage war, in einem derart panischen Zustand unmittelbar nach einem derartigen Angriff, mit noch klaffender und blutender Halswunde einen berechnenden Entschluss dahingehend zu fassen, diesen Sachverhalt – unter Entlastung des wahren Täters – zum Nachteil eines Unbeteiligten zu verwenden.
(3) Zum Fehlen weiterer, die Glaubwürdigkeit des Zeugen erschütternder Umstände Die Glaubwürdigkeit des Zeugen wird auch nicht durch sonstige konkrete Umstände erschüttert. Zwar übersieht die Kammer nicht, dass der Zeuge R. betreffend die Tat zum Nachteil der M. N. in früheren Vernehmungen angegeben (bzw. auf Vorhalt bestätigt) hat, man habe „Geschlechtsverkehr“ gehabt bzw. „miteinander geschlafen“ und in der Hauptverhandlung ausgesagt hat, es sei nur zum Oralverkehr gekommen bzw. es habe nur ein „außennachaußen“ vorgelegen (eine orientalische Formulierung, die nach Angaben des Zeugen alle Formen des sexuellen Kontaktes beschreibt, bei welcher die sog. „Jungfräulichkeit der Frau“ nicht tangiert wird, Anm. d. Gerichts). Unabhängig davon, dass es keinen zwingenden Schluss dahingehend gibt, dass ein Zeuge, der in einer Sache lügt auch in anderer Sache nicht die Wahrheit sagt, kann die Kammer schon gar nicht feststellen, dass der Zeuge tatsächlich in früheren Vernehmungen gelogen hat. Tatsächlich sind diese Aussagedivergenzen – ohne dass hierdurch die Glaubwürdigkeit des Zeugen tangiert wird – für die Kammer erklärbar:
Einerseits war beim Zeugen R. zu Beginn seiner gerichtlichen Aussage eine – augenscheinlich kulturell bedingte – Schambehaftung bei Themen mit sexuellem Kontext klar erkennbar, sodass für die Kammer durchaus naheliegt, dass er in vorangegangenen polizeilichen Vernehmungen kein Interesse hatte oder keine Veranlassung sah, den Vernehmungspersonen auf die Frage nach „Geschlechtsverkehr“ die zusammen mit der M. erlebten sexuellen Details zu erläutern, sondern dass er die Frage schlicht bejaht hat. Zum anderen bestand zu jeder Zeit in gewisser Hinsicht eine Sprachbarriere und die Begriffe „Geschlechtsverkehr“ oder „miteinander schlafen“ sind durchaus auslegungsfähig und beinhalten – zumindest nicht ausschließbar aus Sicht des Zeugen R. – nicht zwingend eine vaginale Penetration.
ee) Zur Möglichkeit des Bestehens von Fehlerquellen Neben der Prüfung der Qualität der Aussage, der Konstanz und der Kompetenz des Zeugen ist zudem die Hypothese, dass die für sich glaubhafte Aussage des Zeugen auf Fehlerquellen beruht, zu prüfen (BGH, Urteil vom 30.07.1999, a.a.O., Rn. 27 ff.). Hintergrund ist, dass die vorangegangene Prüfung der Aussage nur die Hypothese widerlegt hat, dass der Zeuge R. bewusst gelogen hat. Die vorangegangene inhaltsorientierte Glaubhaftigkeitsanalyse ist dagegen für die Fehler der Suggestion oder des Irrtums „blind“, d.h. ein suggestiv hinreichend beeinflusster Zeuge oder ein Zeuge, der einen Vorgang fehlerhaft wahrgenommen hat, ist durchaus in der Lage, einen objektiv nicht wahren Sachverhalt aus seiner subjektiv wahr erlebten Sicht so darzustellen, dass die Prüfung auf Qualität, Konstanz und Kompetenz die Aussage auch als objektiv wahr erscheinen lässt.
Die Kammer hat vorliegend jedoch keine Anhaltspunkte dafür feststellen können, dass der Zeuge R. dazu neigt, Vorgänge falsch wahrzunehmen, sich falsch zu erinnern oder erlebte Vorgänge falsch wiederzugeben. Auch konnte die Kammer keine Anhaltspunkte für eine Fremd- oder Eigensuggestion des Zeugen feststellen, zumal die ersten drei Vernehmungen unmittelbar bzw. nur kurze Zeit nach der Tat erfolgten.
b) Zur Würdigung der übrigen Beweismittel
Diese Angaben des Geschädigten, die nach Überzeugung der Kammer auf einem tatsächlich erlebten Lebenssachverhalt beruhen, werden zudem durch weitere Beweismittel bestätigt.
Soweit der Zeuge R. bereits frühzeitig die Art und Weise des Zustandekommens des Treffens mit dem Angeklagten beschrieb (Kontakt über den Anschluss der Zeugin S.-M., welchen der Angeklagte nutzte), wird dies durch die per Screenshot gesicherte und in Augenschein genommene Anrufliste bestätigt, aus der hervorgeht, dass es zwischen 20:00 Uhr und 21:00 Uhr drei Gesprächskontakte gab. Soweit der Zeuge R. auch frühzeitig angab, mit der Zeugin S.-M., die den Anschluss des Angeklagten nutzte, Kontakt gehabt zu haben, wird dies ebenfalls aus dem per Screenshot gesicherten und in Augenschein genommenen Chatverlauf sowie den verlesenen Angaben der Zeugin S.-M. bestätigt.
Der Zeuge R. gab zudem an, dass man sich am Bahnhof getroffen habe und der Geschädigte wusste, dass der Angeklagte dorthin mit einem kleinem blauen Pkw kam und dort parkte. Dies konnte durch die Angaben des Zeugen Y., der dem Angeklagten seinen blauen Peugeot ausgeliehen hatte und der diesen in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof schließlich geparkt feststellte, bestätigt werden.
Der Zeuge R. wusste, dass der Angeklagte beabsichtigte, in der Nacht zum 02.06.2017 oder spätestens vor dem festgesetzten Strafantritt am 02.06.2017 um 12:00 Uhr zu fliehen. Dies konnte durch die Zeugin S.-M. bestätigt werden, die angab, dass der Angeklagte die Koffer gepackt hatte und eine Flucht beabsichtigte. Zudem konnten in dem Pkw gepackte Taschen festgestellt werden.
Auch das in Augenschein genommene Überwachungsvideo zeigt akustisch, dass der Geschädigte augenscheinlich in Panik war und Sicherheit in dem Anwesen der Familie S. sucht. Auch hört man mindestens einmal den Namen „Hashem N.“, wobei es sich hierbei weniger um den vom Polizeibeamten R. geschilderten Ausruf des Geschädigten, sondern eher um die fragende Wiederholung einer anwesenden Person – mutmaßlich eines Polizeibeamten – handelt. Durch die Angaben des Zeugen S. und durch das Video samt des darin erkennbaren (um sechs Minuten verzögerten) Zeitstempels lässt sich zudem die Tatzeit relativ genau bestimmen; die Tat muss sich insoweit wenige Minuten vor 01:38 Uhr ereignet haben (bei Zeitstempel 01:32 Uhr hört man die ersten Schreie des Geschädigten).
Flankierend hierzu – ohne dass es jedoch hierauf noch tragend ankommt – hat der Zeuge Y. angegeben, dass der Angeklagte ihm am Telefon gesagt hat, dass er den „S. in den Hals geschnitten“ hat. Die Kammer erachtet die Angaben des Zeugen Y., der in seiner Aussage ein gewisses Grundmaß an Sympathie und Verständnis für den Angeklagten zeigte und insoweit keine Belastungsmotivation ersichtlich ist, für glaubhaft. Insbesondere beschrieb der Zeuge (auf Nachfrage zu einem „Telefongespräch mit dem Angeklagten“) im freien Bericht – während sich das Gesicht des Zeugen in der Vernehmung sichtlich aufhellte, als sei ihm die Begebenheit wieder eingefallen – wie es zu dem Gespräch mit dem Angeklagten kam und was dort gesprochen wurde.
Ebenfalls flankierend – ohne dass es jedoch hierauf noch tragend ankommt – hat zudem der Zeuge R. angegeben, dass der Angeklagte ihm in der Haft gegenüber angegeben habe, dass er den „S. in Hals geschnitten“ hat und dies mit einer entsprechenden Gestik darstellte. Die Kammer übersieht hierbei nicht, dass der Zeuge einen völlig anderen Sachverhalt (Kneipenbesuch des Angeklagten und des Zeugen R., Alkohol- und Drogenkonsum, Streit und dann den Schnitt) schilderte. Der Zeuge R., der ebenso wie der Angeklagte nur schlecht deutsch spricht, schilderte zwar diesen Sachverhalt, nahm für sich aber gar nicht in Anspruch, dass dieser Sachverhalt zutreffe; vielmehr hat er klargestellt, dass er die Ausführungen des Angeklagten in der Haft so verstanden habe bzw. sich so zusammengereimt habe. Der Zeuge – der für die Kammer glaubhafte Angaben machte und der bereits rechtskräftig verurteilt wurde und (anders als der Zeuge C.) keinerlei Vergünstigungen aufgrund einer bestimmten Aussage erstrebt – machte auch deutlich, dass er klar die Ausführungen „S. in Hals geschnitten“ und die Geste des Angeklagten wahrgenommen hat. Der Zeuge R. hat auch klargestellt, dass der Angeklagte ihm gegenüber mehrfach angab, dass er – der Angeklagte – den Geschädigten „S.“ endgültig töten werde, wenn er aus der Haft freikomme.
D. Die Verletzungen und deren Umfang sind zum einen durch die in Augenschein genommenen Lichtbilder dokumentiert und ergeben sich zudem aus den Angaben des Zeugen Dr. G., dem vorliegenden Arztbericht und den Angaben des Geschädigten R.. Zudem hat der Sachverständige Dr. T. den Umfang der Verletzungen für die Kammer widerspruchsfrei und gut nachvollziehbar geschildert; die Angaben des Geschädigten zu den Folgebeschwerden erachtete der Sachverständige Dr. T. als „absolut plausibel“, weshalb sich die Kammer auch hiervon überzeugen konnte. Zur rechtliche Würdigung
I. Zur rechtlichen Würdigung, soweit ein Freispruch erfolgte Die Kammer konnte hinsichtlich des angeklagten Lebenssachverhaltes betreffend den Mord an M. N. keinen Sachverhalt feststellen, der die Vollendung des Tatbestands eines Strafgesetzes durch den Angeklagten erfüllt. Der Angeklagte war daher insoweit freizusprechen.
II. Zur rechtlichen Würdigung, soweit eine Verurteilung erfolgte Auf Grundlage der getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte sich des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 211 Abs. 1 und 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB schuldig gemacht.
1. Zur Annahme eines versuchten Mordes
Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Angeklagte nicht nur mit bedingtem Tötungsvorsatz, sondern mit Absicht dem Geschädigten heimtückisch den Schnitt in der Halsregion beibrachte, weshalb er auch gemäß § 22 StGB nach seiner Vorstellung von der Tat – nämlich einer Tötung – zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzte.
a) Zur Annahme einer Tötungsabsicht
Die Kammer hat sich davon überzeugt, dass der Angeklagte absichtlich handelte, da er bezweckte, den Zeugen R. zu töten.
Absichtlich (dolus directus 1. Grades) handelt ein Täter, der die Tatbestandsverwirklichung anstrebt; sein Wille ist auf Erfolg gerichtet und hierauf kommt es ihm auch an (vgl. Joecks/Kulhanek in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2020, § 16 StGB, Rn. 22 m.w.N.; Fischer, Strafgesetzbuch, 68. Auflage 2021, § 15 StGB Rn. 8).
Das Wissenselement eines absichtlichen Handelns – sofern es vorausgesetzt wird (vgl. hierzu Joecks/Kulhanek, a.a.O., Rn. 23 m.w.N.) – liegt vor: Ein Schnitt mit einem Messer in den Hals entfaltet eine enorme Gefahr für das Leben, vor allem dann, wenn der Schnitt von hinten geführt wird: Da – wie der Sachverständige Dr. T. zutreffend ausführte – im vorderen Halsbereich die vitalen Blut- und Nervenbahnen derart nah beisammen liegen und bei einem Schnitt von hinten nicht steuerbar ist, ob und welche vitalen Bereiche geschädigt werden, ist eine solche Tatausführung äußerst gefährlich. Bei unkontrollierbaren Messerangriffen gegen den Hals in Form eines Stechens oder Schneidens entspricht das Wissen um die naheliegende tödliche Gefahr so sehr der allgemeinen Lebenserfahrung, dass dieses Wissen in der Regel jedem Menschen zugänglich ist, woraus gefolgert werden kann, dass dies auch dem Angeklagten bewusst war. Anhaltspunkte, die hiergegen sprechen, sind nicht ersichtlich.
Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass der Angeklagte mit seinem Handeln den Geschädigten R. nicht nur erheblich verletzen, sondern auch töten wollte. Die Kammer ist zu diesem Ergebnis anhand einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalles gelangt: Der Angeklagte war mit dem Geschädigten in der Nacht auf den 02.06.2017 in Aschaffenburg alleine unterwegs und versuchte ab Mitternacht den Geschädigten R. davon abzuhalten, anderen mitzuteilen, wo bzw. mit wem er unterwegs war – sei es bezogen auf die Anfrage der Ehefrau des Angeklagten, ob der Angeklagte beim Geschädigten sei, sei es das Ansinnen des fröstelnden Geschädigten, einen Freund anzurufen, damit er ihm eine Jacke bringe. Spätestens nachdem zwei Passanten die Örtlichkeit verlassen hatten, erachtete der Angeklagte nach Überzeugung der Kammer den richtigen Moment für gegeben – er befand sich an einem dunklen, einsamen Ort mit dem Geschädigten, der fror und zudem seine Hände unter sein T-Shirt steckte und auf diese Weise seine Verteidigungsfähigkeit minderte. Der Angeklagte fasste spätestens in diesem Moment den Entschluss, den Geschädigten zu töten. Nach dem ersten Schnitt in den Hals versuchte der Angeklagte, um seinen Wunsch nach Tötung des Geschädigten R. sicherzustellen, einen weiteren Schnitt gegen den Geschädigten zu führen, den der Geschädigte abwehren konnte. Ein dritter Messerangriff ging fehl, weil der Geschädigte auswich bzw. bereits zur Flucht angesetzt hatte. Daraufhin nahm der Angeklagte die Verfolgung des Flüchtenden auf, wobei die Kammer keinen Zweifel daran hat, dass der Angeklagte dies tat, um den Zeugen R. endgültig zu töten. Auch wenn die Kammer letztlich die bei der Tat führende Tatmotivation nicht aufklären konnte, ist sie jedoch davon überzeugt, dass eine der beiden folgenden Motivationen vorlag, die jeweils für sich ebenfalls die angenommene Tötungsabsicht stützen:
Entweder der Angeklagte hat seine Tochter M. N. wegen deren Beziehung zum Geschädigten R. umgebracht und wollte aus ähnlicher Motivation nun auch – bevor er in der gleichen Nacht flieht und Deutschland verlässt – dem Geschädigten R. das gleiche Schicksal bereiten oder der Angeklagte hat seine Tochter nicht umgebracht bzw. wusste zu diesem Zeitpunkt nichts von deren Schicksal und er wollte den Geschädigten R. – bevor er noch in der gleichen Nacht flieht – töten, weil er ihn für das Verschwinden der M. in irgendeiner Art und Weise verantwortlich macht (etwa weil er davon ausging, der Geschädigte habe der M. etwas Übles angetan, oder weil er davon ausging, der Geschädigte habe die Mm beim Untertauchen und somit beim Ausbruch aus dem Familienverbund unterstützt, oder aber weil er davon ausging, der Geschädigte R. wisse etwas über den Verbleib der Mm und lege dies – trotz seiner mehrfachen Nachfragen – nicht offen).
Insgesamt hat die Kammer keine Zweifel daran, dass der Angeklagte den Todeseintritt des Geschädigten R. nicht nur billigend in Kauf nahm, sondern er tatsächlich beabsichtigte, diesen zu töten.
b) Zur Annahme des Merkmals der Heimtücke
Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Angeklagte N. vorliegend gemäß § 211 Abs. 1, Abs. 2, 2. Gruppe, Alt. 1 StGB in heimtückischer Weise gegen den Geschädigten R. das Messer einsetzte.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt heimtückisch, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt (BGH vom 01.04.2009, NStZ 2009, 501 [502]; BGH vom 17.09.2008, NStZ 2009, 30 [31]). Arglos ist ein Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs weder mit einem lebensbedrohlichen, noch mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. In subjektiver Hinsicht muss bei einer heimtückischen Tötung hinzutreten, dass der Täter die hilflose Lage des Opfers wahrnimmt und bewusst zur Tötung ausnutzt.
aa) Zu den objektiven Voraussetzungen für eine heimtückische Begehungsweise Der Geschädigte R. war arg- und wehrlos in diesem Sinne: Er hatte vor der Tat keine Konfrontation mit dem Angeklagten, sondern war mit diesem über mehrere Stunden in der Stadt spazieren gewesen. Hierbei haben die beiden sich über vertrauliche Belange unterhalten wie etwa die Fluchtabsichten des Angeklagten, die Übernahme der Sorge für die in Deutschland verbleibende Familie des Angeklagten durch den Geschädigten R. sowie den Verbleib der M. N.. Es gab keinerlei Anlass für den Geschädigten, mit einem Angriff zu rechnen. Im Hinblick darauf, dass der Angeklagte zur Nachtzeit im Dunkeln dem Geschädigten den Schnitt von hinten versetzte, als dieser mit den Armen unter seinem T-Shirt auf den Main blickte, stand dem Geschädigten auch keine Abwehrmöglichkeit zur Verfügung. Der Messerschnitt kam für den Geschädigten völlig ungesehen und unerwartet.
bb) Zu den subjektiven Voraussetzungen für eine heimtückische Begehungsweise Für den Tatbestand eines Heimtückemordes in subjektiver Hinsicht genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage der angegriffenen Person und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (sog. „Ausnutzungsbewusstsein“).
Dieses Ausnutzungsbewusstsein lag hier vor: Wie bereits ausgeführt wurde, versuchte der Angeklagte spätestens gegen Mitternacht den Geschädigten R. davon abzuhalten, anderen mitzuteilen, wo bzw. mit wem er unterwegs war – sei es bezogen auf die Anfrage der Ehefrau des Angeklagten, ob der Angeklagte beim Geschädigten sei, sei es das Ansinnen des fröstelnden Geschädigten, einen Freund anzurufen, damit er ihm eine Jacke bringe. Auf diese Weise wollte der Angeklagte ohne Mitwisser mit dem Geschädigten unterwegs sein. Auch wenn unklar bleibt, ob der Angeklagte bereits in diesem Zeitpunkt den Tötungsentschluss gefasst hatte, so war ihm zumindest der Umstand bekannt, dass keine weitere Person wusste, dass die beiden zusammen unterwegs waren. Spätestens als man alleine auf der Treppe saß und der frierende Geschädigte zudem seine Hände unter sein T-Shirt steckte und auf diese Weise seine Verteidigungsfähigkeit minderte, sah der Angeklagte jedoch den richtigen Moment als gegeben an, um den ahnungslosen und wehrlosen Geschädigten von hinten mittels eines Messerschnitts in den Hals zu töten.
c) Zur Nichtannahme eines Rücktritts vom Versuch des Mordes Die Kammer ist darüber hinaus davon überzeugt, dass der Angeklagte nicht vom Versuch des Mordes freiwillig zurückgetreten ist.
aa) Zum vorliegenden Fehlschlag des Versuchs
Ein Rücktritt vom versuchten Mord war vorliegend ausgeschlossen, weil der Versuch fehlgeschlagen ist.
Fehlgeschlagen ist der Versuch, wenn der Taterfolg aus Sicht des Täters mit den bereits eingesetzten oder zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr erreicht werden kann, ohne dass eine ganz neue Handlungs- und Kausalkette in Gang gesetzt wird (BGH, Beschluss vom 27.11.2014 – 3 StR 458/14, Rn. 6 m.w.N.). Maßgeblich ist hier die Sicht des Täters unmittelbar nach Ende seiner letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont, vgl. Fischer, Strafgesetzbuch, 68. Auflage 2021, § 24 StGB Rn. 7).
Ausgehend von dem ursprünglichen Plan des Angeklagten, den Geschädigten an einem einsamen Ort bei Dunkelheit durch einen Halsschnitt von hinten zu töten, war dieser Plan infolge der Flucht des Geschädigten R. vom Tatort gescheitert. Dies erkennend verfolgte der Angeklagte den fliehenden Geschädigten, konnte diesen jedoch zu keinem Zeitpunkt mehr einholen, da der Geschädigte schneller rannte und sich schließlich mit dem Überwinden der Grundstücksbewehrung des Anwesens S. dem Angeklagten endgültig entziehen konnte. Hinzukam, dass der Geschädigte durch seine panischen Schreie und das Schlagen an die Wohnungstür öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Der Angeklagte musste ab diesem Zeitpunkt damit rechnen, dass die Bewohner des Anwesens die Türe öffnen oder andere Personen zum Geschehen hinzutreten. Nach Überzeugung der Kammer erkannte der Angeklagte, dass es nicht mehr möglich war, den erstrebten Erfolg – Tötung des Geschädigten R. – ohne zeitliche Zäsur im unmittelbaren Fortgang des Geschehens noch herbeizuführen.
bb) Zum Fehlen einer freiwilligen Rücktrittshandlung
Zudem steht dem Rücktritt auch entgegen, dass der Angeklagte beim vorliegenden unbeendeten Versuch nicht freiwillig die weitere Tatausführung aufgab.
(1) Zum Vorliegen eines unbeendeten Versuchs Wegen Versuchs wird gemäß § 24 Abs. 1 StGB nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt (sog. unbeendeter Versuch) oder deren Vollendung verhindert (sog. beendeter Versuch). Welche der beiden Varianten des § 24 Abs. 1 StGB anwendbar ist, entscheidet sich danach, ob der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält, sog. „Rücktrittshorizont“ (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 17.07.2014 – 4 StR 158/14, NStZ 2014, 569).
Die Kammer ist vorliegend von einem unbeendeten Versuch ausgegangen: Ein unbeendeter Versuch kommt auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seiner letzten Tathandlung den Eintritt des Taterfolgs zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne diesen doch nicht herbeiführen, und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Verwirklichung des Taterfolges absieht (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 – 5 StR 601/19, Rn. 3 m.w.N.). Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu von dem Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt (BGH, a.a.O.). Ein solcher Umstand kann geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, bereits alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs getan zu haben. Dabei ist die Feststellung der tatsächlichen Vorstellungen des Täters entscheidend.
Vorliegend erkannte der Angeklagte, dass sein erster Messerschnitt gegen den Hals des Geschädigten nicht unmittelbar zum Tod des Geschädigten R. geführt hat und er übte zwei weitere Schnittversuche aus, die der Geschädigte abwehren konnte bzw. denen sich der Geschädigte durch Ausweichen oder Flucht entziehen konnte. Nach seiner letzten Tathandlung erkannte der Angeklagte, dass sein bisheriges Tun für den Eintritt des erwünschten Erfolgs (Tod des R.) noch nicht ausreichen werde.
(2) Zum Fehlen einer freiwilligen Rücktrittshandlung Insoweit kommt vorliegend kein Rücktritt in Betracht, weil der Angeklagte – selbst wenn ein fehlgeschlagener Versuch nicht vorläge – nicht freiwillig die weitere Tatausführung aufgab.
Der Grund, dass die Tat nicht vollendet wurde, liegt nach Überzeugung der Kammer allein in der erfolgreichen Flucht des Geschädigten. Der bei der Tat 23jährige Geschädigte rannte in panischer Angst nach dem Messerschnitt weg und konnte sich dem Zugriff des Angeklagten entziehen. Er legte rennend eine Distanz von knapp 250 Meter zum Anwesen der Familie S. zurück, wobei er schneller als der Angeklagte lief, überkletterte dort die knapp zwei Meter hohe Grundstücksbewehrung im Bereich der Mauer oder im Bereich des Tors und gelangte in das dortige befriedete Besitztum. Bei der Flucht schlug der Geschädigte mehrere Haken (“Zickzack“) und rannte zuletzt auf der beleuchteten Straße, während der bei der Tat 42jährige Angeklagte auf dem parallel hierzu verlaufenden unbeleuchteten Fußgänger- und Radweg rannte, der von einem mehrere Meter breiten Grünstreifen von der Straße getrennt ist.
Die Kammer konnte aufgrund der Angaben des Geschädigten feststellen, dass der Angeklagte sich in dem Moment, als der Geschädigte die Grundstücksbewehrung überwand, noch diesen verfolgend auf der anderen Straßenseite befand und der Angeklagte in diesem Moment keine Möglichkeit mehr sah, den Geschädigten noch tödlich zu verletzen; der Grund der Aufgabe war nicht freiwillig.
Selbst wenn der Angeklagte dem Geschädigten weiter hätte nachsetzen und ihn gar einholen können – wofür den Angaben des Geschädigten R. folgend keine Anhaltspunkte bestehen – war spätestens in dem Moment, als der Geschädigte das Anwesen S. erreichte, wo er laut und panisch schrie, Hundegebell zu hören war, die Lichter an dem Wohnanwesen an gingen und er die Grundstücksbewehrung überstieg, ein derart erhebliches Entdeckungsrisiko für den Angeklagten entstanden, welches den Angeklagten – spätestens in diesem Zeitpunkt – zum Abbruch seines Angriffs zwang. Zwar steht allein die Erhöhung des Entdeckungsrisikos der Annahme der Freiwilligkeit im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht von vornherein entgegen, da der Täter in der Zeit bis zum Eintreffen von feststellungsbereiten Dritten meist noch ungehindert weitere Ausführungshandlungen vornehmen kann, ohne dass damit für ihn eine beträchtliche Risikoerhöhung verbunden sein muss (vgl. BGH, Beschluss vom 07.03.2018 – 1 StR 83/18, Rn. 10). Allerdings ist im vorliegenden Fall ausgehend von der ursprünglichen Planung des Angeklagten, welche nahezu kein Entdeckungsrisiko beinhaltete (Töten des Geschädigten R. an einem dunklen, einsamen Ort) im Hinblick auf die erfolgte Flucht, die Verlagerung des Geschehens in oder zumindest an den Rand eines Wohngebiets, die lauten Schreie des Geschädigten, das Angehen von Lichtern an den Häusern von Anwohnern, das Hundegebell und das Überwinden einer Grundstücksbewehrung, die in diesem Moment den Angeklagten von dem Geschädigten trennte, nichts mehr übrig. Es traten – nach Überzeugung der Kammer – insoweit aus Sicht des Angeklagten erhebliche und unvorhergesehene äußere Umstände ein, die das Risiko, bei einem weiteren Handeln entdeckt, angezeigt oder bestraft zu werden, unvertretbar im Vergleich zum ursprünglich bestehenden Entdeckungsrisiko ansteigen ließen (vgl. BGH, Beschluss vom 14.01.2020 – 2 StR 284/19, Rn. 12 m.w.N.) – unabhängig davon, ob der Angeklagte im Hinblick auf die entstandene räumliche Distanz überhaupt in der Lage war, den Geschädigten noch weiter zu verletzen.
Insgesamt scheidet insoweit ein Rücktritt aus, da der Versuch fehlgeschlagen war, jedenfalls aber die weitere Tatausführung nicht freiwillig aufgegeben wurde.
2. Zur Annahme der gefährlichen Körperverletzung
Die Qualifikationstatbestände des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB sind erfüllt.
Der Angeklagte verursachte die Verletzung mittels eines Schnittes mit einem Messer am Hals; die Qualifikation des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB (gefährliches Werkzeug) liegt vor.
Die Körperverletzung wurde auch mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen. Erforderlich, aber auch genügend ist hierfür, dass die Art der Behandlung durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls (generell) geeignet ist, das Leben zu gefährden. Dies ist bei einem Schnitt in den Halsbereich, wo in unmittelbarer Nähe zentrale Blut- und Nervenbahnen verlaufen, wie der Sachverständige Dr. T. ausführte, vor allem dann der Fall, wenn der Schnitt von hinten durchgeführt wird; in diesem Fall ist es durch den Täter nicht zu steuern, an welcher Stelle exakt und vor allem wie fest bzw. wie tief geschnitten wird. Auch wenn letztlich eine akute Lebensgefahr des Geschädigten zu keinem Zeitpunkt bestand – was nach den Ausführungen des Sachverständigen auf einem reinen Zufall beruhte – war der Angriff des Angeklagten nach den Umständen generell geeignet, das Leben des Zeugen R. zu gefährden; die Qualifikation des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB ist damit ebenfalls erfüllt.
3. Zur Wahrung des Grundsatzes der Spezialität
Der Angeklagte wurde am 08.10.2020 infolge eines Auslieferungsverfahrens wegen des Tötungsdeliktes (04.05.2017 zum Nachteil der M. N.), des versuchten Tötungsdeliktes (02.06.2017 zum Nachteil des S. R.) und der körperlichen Misshandlung bzw. Bedrohung (Vollstreckung des Urteils des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 17.05.2017) an deutsche Beamte von Seiten der türkischen Behörden übergeben. In einem in der Hauptverhandlung verlesenen Schreiben des Justizministeriums der Republik Türkei vom 07.10.2020 heißt es hierzu:
„Der (…) aufgeführte syrische Staatsangehörige H. N. (…) wurde auf internationaler Ebene wegen „Totschlags“, „versuchten Totschlags“, „schwerer Körperverletzung“, körperlicher Misshandlung“ und „Bedrohung“ zwecks Auslieferung an die deutschen Justizbehörden gesucht und in Istanbul festgenommen.
Durch Beschluss wurde dem „Auslieferungsersuchen stattgegeben“ und dieser Beschluss ist seit dem 15.11.2019 rechtskräftig.“ (Hervorhebungen durch d. Gericht).
Eine formelle Auslieferungsbewilligung wurde – trotz mehrfacher Nachfragen der Justizbehörden und der Kammer – von Seiten der türkischen Behörden nicht erteilt; nach Auskunft des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 03.02.2021, welche ebenfalls verlesen wurde, sei nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Justiz „mit einer schriftlichen Bewilligungsentscheidung nicht mehr zu rechnen. Durch die Übergabe wurde konkludent auch die Zustimmung zur Auslieferung im beantragten Umfang erteilt“.
E. Dem schließt sich die Kammer an: Erkennbar wurde der Angeklagte auch wegen des Tatvorwurfs des „versuchten Totschlag“ vom 02.06.2017 ausgeliefert; damit ist die prozessuale Tat, wegen derer vorliegend eine Verurteilung erfolgte, von der Auslieferung erfasst. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Spezialität – etwa weil eine formelle Auslieferungsbewilligung seitens der türkischen Behörden fehlt – ist nicht gegeben; erkennbar sollte auch wegen des „versuchten Totschlags“ und der „schweren Körperverletzung“ – vorliegend rechtlich zu würdigen als versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung – eine Auslieferung erfolgen und eine Zustimmung der türkischen Behörden im beantragten Umfang wurde erteilt. Zur Strafzumessung
I. Zum angewendeten Strafrahmen
Die Kammer ist zunächst vom Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB ausgegangen, der als Punktstrafe eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht.
Da der von § 211 Abs. 1 StGB vorausgesetzte tatbestandliche Erfolg – der Tod des Geschädigten R. – ausgeblieben ist und dieser Erfolg trotz der Verletzungen des Geschädigten zur Überzeugung der Kammer aufgrund günstiger Umstände im konkreten Fall nicht unmittelbar bevorstand (vgl. BGH, Beschluss v. 22.10.2019 – 5 StR 449/19), hat die Kammer den Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB gemäß §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB gemildert, sodass der Kammer an dieser Stelle nach dieser Milderung zunächst ein Strafrahmen von nicht unter drei Jahren Freiheitsstrafe zur Verfügung stand.
II. Zur Strafzumessung im engeren Sinn
Ausgehend von dem o.g. Strafrahmen – Freiheitsstrafe von 3 Jahren bis zu 15 Jahren – hat die Kammer bei der Strafzumessung im engeren Sinne folgende Umstände als strafmildernd bzw. als strafschärfend berücksichtigt:
1. Zu den strafmildernden Umständen
Die Kammer hat bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten gewürdigt, dass die Halsverletzung, die der Geschädigte R. infolge des Messerangriffs des Angeklagten erlitten hat, keine lebensrelevanten Blut- und Nervenbahnen verletzt hat und der Geschädigte bereits nach drei Tagen aus der stationären Behandlung entlassen werden konnte.
Die Wundheilung gestaltete sich reizfrei und unauffällig und es verblieb im Halsbereich eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe, wobei der Geschädigte im Narbenbereich unter einer Wetterfühligkeit sowie einem Ziehen leidet, wobei letzteres auftritt, wenn er schwerere Sachen hebt. Insgesamt aber erachtet die Kammer die Verletzungen – im Vergleich zu den sonst vorkommenden physische Verletzungsfolgen eines versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung – als eher unterdurchschnittlich.
Auch hat die Kammer berücksichtigt, dass der Angeklagte als Ausländer in Deutschland – auch wenn der Angeklagte etwas Deutsch sprechen kann – erschwerte Haftbedingungen hat. Die Kammer hat auch berücksichtigt, dass der Angeklagte sich als syrischer Staatsangehöriger knapp 11 Monate in der Türkei in Auslieferungshaft befand, wobei die ungünstigen Haftbedingungen maßgeblich bereits in Ziff. 4 des Urteilstenors berücksichtigt wurden.
2. Zu den weder strafschärfenden noch strafmildernden Umständen Weder strafschärfend noch strafmildernd hat die Kammer die psychischen Folgen der Tat gewertet. Psychische Beschwerden – insbesondere eine erhöhte Anfälligkeit von Angst oder ein Verlust des subjektiven Sicherheitsgefühls – sind typische Folgen eines versuchten Mordes, der heimtückisch in Tateinheit mit Körperverletzung begangen wird. Insoweit sind bei solchen Taten derartige Folgen immanent und wirken sich nur dann strafmildernd oder strafschärfend aus, wenn sie äußerst leicht verlaufen bzw. ganz entfallen oder aber in ihrer Massivität deutlich hervorstechen.
Eine über- oder unterdurchschnittliche Schwere liegt hier aber nicht vor: Der Geschädigte R. gab an, er habe öfters Angst und schlafe schlecht. Nach der Tat habe er einen Monat nicht in die Schule (bfz) gehen können, er habe knapp drei Wochen ohne festen Wohnsitz gelebt und bei Freunden geschlafen und habe ein Problem mit Alkohol und Betäubungsmitteln bekommen. Zum Arzt sei er nicht gegangen; Medikamente habe er nicht genommen. Diese geschilderten Folgen sind zwar erheblich, leider aber als Folgen eines heimtückisch durchgeführten Mordversuchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung nicht ungewöhnlich. Zudem fehlt mangels Konsultation eines Arztes eine medizinische Diagnose der psychischen Folgen, weshalb die Kammer keine Feststellungen treffen konnte, dass die – durchaus glaubhaft geschilderten – Beschwerden über das übliche Maß hinausgehen.
3. Zu den strafschärfenden Umständen
Strafschärfend hat die Kammer dagegen berücksichtigt, dass der Angeklagte mit Tötungsabsicht handelte; die strafschärfende Berücksichtigung von Tötungsabsicht verstößt grundsätzlich nicht gegen das Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen: Mit der Tötungsabsicht verbindet sich regelmäßig eine erhöhte Tatschuld des absichtsvoll Tötenden (vgl. BGH, Urteil v. 10.01.2018 – 2 StR 150/15, Rn. 30). Die Frage, ob in der festgestellten Tötungsabsicht ein die Strafhöhe beeinflussender, bestimmender Strafschärfungsgrund zu sehen ist, kann aber nur unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls getroffen werden. Die Entscheidung hierüber obliegt dem Tatrichter, der hier – wie stets im Rahmen der Strafzumessung – gehalten ist, gegenläufig wirkende strafmildernde Umstände im konkreten Einzelfall zu berücksichtigen (BGH, a.a.O., Rn. 28). Im Hinblick auf die vorgenannten Erwägungen hat die Kammer mit der festgestellten Tötungsabsicht einen die Strafhöhe beeinflussenden, bestimmenden Strafschärfungsgrund angenommen: Der Angeklagte wollte, im Hinblick auf seine anstehende Flucht, „reinen Tisch“ machen und den Geschädigten R. töten. Er führte hierbei drei Schnittversuche in dieser Tötungsabsicht (einen erfolgreichen Schnitt, einen weiteren abgewehrten Schnittversuch und einen erfolglosen Schnitt ins Leere im Hinblick auf das Ausweichen bzw. die Flucht des Geschädigten) aus, wobei er anschließend den fliehenden Geschädigten verfolgte. Dass vorliegend ein strafschärfendes Moment in der Tötungsabsicht zu sehen ist, ergibt sich insbesondere – ohne dass es hierauf aber noch ankommt – auch aufgrund des Umstandes, dass der Angeklagte bis zuletzt in Haft gegenüber dem Zeugen R. mehrfach äußerte, dass er den Geschädigten R. endgültig umbringen werde, wenn er aus der Haft freikomme.
Neben der Tötungsabsicht wurde strafschärfend weiter berücksichtigt, dass der Angeklagte durch sein Verhalten mehrere Straftatbestände gleichzeitig, nämlich nicht nur einen versuchten Mord, sondern auch eine vollendete gefährliche Körperverletzung verwirklicht hat und bezüglich des letzteren Straftatbestands gleich zwei Tatbestandsmerkmale – die Begehung mittels eines gefährlichen Werkzeugs und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung – vorliegen.
Darüber hinaus hat die Kammer strafschärfend gewertet, dass der Angeklagte im Zeitpunkt der Tat einschlägig vorbestraft war: Gegen ihn wurde am 17.05.2017, rechtskräftig am 25.05.2017 wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten (ohne Bewährung) verhängt. Der Angeklagte hat insoweit auch eine sehr hohe Rückfallgeschwindigkeit an den Tag gelegt und sich von der ausgesprochenen Freiheitsstrafe nicht beeindrucken lassen: Am 29.05.2017 wurde ihm die Ladung zum Strafantritt zum 02.06.2017 ausgehändigt – er war daher bei der Tatbegehung am frühen Morgen des 02.06.2017 unmittelbar mit den Konsequenzen seines vorangegangenen strafbaren Handelns konfrontiert und wurde dennoch erneut straffällig.
3. Zu der gefundenen Strafe
Nach Abwägung sämtlicher genannter für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände hält die Kammer – auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass seit der Tat mittlerweile knapp vier Jahre vergangen sind – eine Freiheitsstrafe von
8 Jahren und 9 Monaten
für tat- und schuldangemessen und erachtet diese als einen gerechten Schuldausgleich. Zur getroffenen Entscheidung nach § 51 Abs. 4 S. 2 StGB Der Angeklagte befand sich – nicht widerlegbar – vom 15.11.2019 bis zum 08.10.2020 aufgrund eines europäischen Haftbefehls in hiesiger Sache in der Türkei in Auslieferungshaft.
Hat der Verurteilte aus Anlass einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die zeitige Freiheitsstrafe angerechnet; wird eine ausländische Strafe oder Freiheitsentziehung angerechnet, so bestimmt das Gericht den Maßstab nach seinem Ermessen, § 51 Abs. 4 S. 2 StGB.
Die Kammer hatte demnach zu würdigen, inwieweit die erlittene Auslieferungshaft in der Türkei anzurechnen war. Der für die Kammer hier entscheidende Maßstab waren hierfür die Haftbedingungen in der türkischen Haft. Die Kammer hat hierzu freibeweislich Erkundigungen beim Bundesministerium der Justiz über die Haftbedingungen in der JVA Maltepe eingeholt, in welcher der Angeklagte den Auslieferungsunterlagen zufolge einsaß.
Aus den Erkundigungen ging hervor, dass vor der Pandemie – aktuellere Erkenntnisse lagen nicht vor – dort eine starke Überbelegung, eine nur rudimentäre sanitäre Ausstattung und fehlende adäquate medizinische Betreuung (bedingt durch Überbelegung) festgestellt wurden; im landesweiten Vergleich der Türkei bewegten sich hierbei die Bedingungen in der JVA Maltepe im unteren Mittelfeld.
G. Unter Berücksichtigung dieser erschwerten Haftbedingungen in der Türkei hat die Kammer unter Ausübung ihres Ermessens i.S.d. § 51 Abs. 4 S. 2 StGB im Hinblick auf die Haftbedingungen festgelegt, dass die ausländische Haft in einem Verhältnis 1:2 auf die hier verhängte Strafe anzurechnen ist, die erlittene Haft in der Türkei daher doppelt auf die hiesige Haft angerechnet wird. Zur getroffenen Entscheidung über den Adhäsionsantrag Der zulässige (§§ 403, 404 Absatz 1 StPO) Adhäsionsantrag des Nebenklägers S. R. in welchem beantragt wurde, den Angeklagten zu verurteilen, ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, erweist sich als begründet.
Der Nebenkläger hat gegen den Angeklagten gemäß den §§ 253 Abs. 2, 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 211, 223, 224 StGB einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes.
Die Kammer erachtet hierbei einen Schmerzensgeldanspruch des Geschädigten R. gegen den Angeklagten in Höhe von 6.000,- EUR für angemessen. Bei der Bemessung der Höhe eines Schmerzensgelds, welches nach § 287 ZPO im freien Ermessen des Gerichts steht, sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls insbesondere die Art, die Intensität und die Dauer der Rechtsgutsverletzung einzubeziehen.
Bei der konkreten Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes hat die Kammer vor allem berücksichtigt, dass der Geschädigte eine etwa zehn Zentimeter lange Verletzung erlitten hat, die – auch wenn kein längerer stationärer Aufenthalt erforderlich war, keine lebensrelevanten Blut- und Nervenbahnen verletzt wurden und auch eine reizfreie und unauffällige Wundheilung erfolgte – eine sichtbare Narbe im Halsbereich verursacht hat und der Geschädigte an der Narbe eine Wetterfühligkeit und Beschwerden beim Heben schwerer Gegenstände verspürt. Die Kammer hat hierbei auch berücksichtigt, dass der Angeklagte glaubhaft angab, öfters Angst zu haben, schlecht zu schlafen und bis zuletzt in psychischer Hinsicht unter der Tat zu leiden. Zudem hat die Kammer bei ihrer Entscheidung auch die wirtschaftlichen Verhältnisse sowohl des Angeklagten als auch des Geschädigten – beide sind arbeitslos und verfügen über kein geregeltes Einkommen – berücksichtigt.
Über den zuerkannten Schmerzensgeldbetrag von 6.000,- EUR hinaus – die Nebenklage hatte sich ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von 10.000,- EUR vorgestellt – hat die Kammer von einer Entscheidung abgesehen (§ 406 Abs. 1 S. 3 Alt. 2 StPO).
H. Der Zinsanspruch des Adhäsionsantrag folgt aus den §§ 291 S. 1, S. 2, 288 Abs. 1 S. 1 BGB. Der Adhäsionsantrag wurde in der mündlichen Verhandlung gestellt, so dass hierdurch gemäß § 404 Abs. 2 StPO Rechtshängigkeit eingetreten ist. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 406 Abs. 3 S. 2 StPO, 709 S. 1 und S. 2 ZPO. Zur Kostenentscheidung Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 464, 465 Abs. 1 S. 1, 467 Abs. 1, 472 Abs. 1 S. 1, 472a Abs. 1 StPO.