Aktenzeichen 4 OLG 13 Ss 54/18
Leitsatz
1. Weder der bloße Eintritt in ein Kirchenasyl noch die bloße Untätigkeit der Ausländerbehörde führen zum Wegfall einer Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2c AufenthG. (Rn. 19)
2. Kirchenasyl ist kein in der geltenden Rechtsordnung anerkanntes Rechtsinstitut. Der Eintritt in ein Kirchenasyl begründet deshalb keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung. (Rn. 23 – 24 und 36 – 38)
3. Unterlässt die Ausländerbehörde die Vollziehung der Abschiebung, weil sie Kirchenasyl grundsätzlich als christlich-humanitäre Tradition toleriert, so liegt darin weder eine Ermessensduldung noch eine stillschweigende bzw. faktische Duldung und führt dies auch nicht zu einem Wegfall der Strafbarkeit. (Rn. 25 – 26)
4. Tritt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgrund einer mit Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche am 24. Februar 2015 getroffenen Vereinbarung in eine erneute Einzelfallprüfung ein, so liegt darin ein rechtliches Abschiebungshindernis, das einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG begründet, solange die Einzelfallprüfung anhält. (Rn. 27 – 51)
Verfahrensgang
6 Ds 506 Js 37436/16 2017-10-27 Urt AGFREISING AG Freising
Tenor
I. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Freising vom 27. Oktober 2017 wird als unbegründet verworfen.
II. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
1. Die Staatsanwaltschaft Landshut hat den Angeklagten mit Anklageschrift vom 6. Juli 2017, Aktenzeichen 506 Js 37436/16, unverändert zugelassen durch Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Freising vom 13. Oktober 2017, beschuldigt, sich wegen unerlaubten Aufenthalts im Zeitraum vom 17. Februar 2016 bis zum 21. Oktober 2016 gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2, 4 AufenthG strafbar gemacht zu haben.
Das Amtsgericht Freising hat den Angeklagten mit Urteil vom 27. Oktober 2017 aus rechtlichen Gründen freigesprochen.
Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Landshut Rechtsmittel eingelegt und dieses mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2017 als Revision bezeichnet.
2. Dem Freispruch des Amtsgerichts Freising lagen folgende Tatsachenfeststellungen zu Grunde:
a) Als nigerianischer Staatsangehöriger unterliegt der Angeklagte den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes.
b) Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28. Januar 2016 wurde der Asylantrag des am 6. November 2014 aus Italien nach Deutschland eingereisten Angeklagten vom 18. August 2015 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet. Dieser Bescheid war ab dem 17. Februar 2016 vollziehbar, nachdem das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom gleichen Tag (M 9 S 16.50102) den vom Angeklagten gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Bescheid eingereichten Klage abgelehnt hat. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 17. Februar 2016 wurde am 1. März 2016 zugestellt, sodass die Überstellungsfrist gemäß Dublin-III-VO spätestens am 3. September 2016 abgelaufen ist.
c) Der Angeklagte wusste, dass er seit dem 17. Februar 2016 vollziehbar ausreisepflichtig war, und befürchtete in der Folgezeit die Überstellung nach Italien. Er begab sich deshalb am 15. Juli 2016 in die Pfarrei St. X. in Freising und blieb dort im „Kirchenasyl“ bis zum 21. Oktober 2016. Am gleichen Tag stellte er einen Antrag auf Durchführung des Asylverfahrens im nationalen Verfahren, woraufhin ihm am 21.Oktober 2016 eine Duldung bis zum 22. November 2016 erteilt wurde.
d) Pfarrer X. zeigte noch am 15. Juli 2016, also sofort nach Ankunft des Angeklagten in der Pfarrei St. X dessen Eintritt in das Kirchenasyl bei der Ausländerbehörde beim Landratsamt Freising und beim BAMF an. Damit hielt er sich an die Verfahrensabläufe, wie sie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit der evangelischen und katholischen Kirche am 24. Februar 2015 vereinbart hat und die seit diesem Datum durchgängig beachtet worden sind.
Auf der Grundlage dieser Vereinbarung vom 24. Februar 2015 haben sich das BAMF und die beiden Kirchen darauf verständigt, dass jeder Fall von Kirchenasyl registriert und an die zuständige Ausländerbehörde und die Bundespolizei gemeldet, von Kirchenvertretern gesichtet und mit einem Votum und Vorschlag zum weiteren Vorgehen (Ausübung des Selbsteintritts oder Feststellung des Ablaufs der Überstellungsfrist in Dublin-Fällen, Möglichkeit einer positiven Entscheidung) versehen an das zuständige Fachreferat beim BAMF abgegeben wird. Wenn dieses dem Votum zustimmt erfolgt anschließend eine entsprechende Benachrichtigung der Kirchen-Ansprechpartner. Mit Schreiben vom 04. August 2016 wurde die Pfarrei St. X vom BAMF bzgl. des vereinbarten Verfahrens informiert.
e) Die Ausländerbehörde beim Landratsamt in Freising verzichtete auf Geheiß der Regierung von Oberbayern und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgrund seines Aufenthalts im Kirchenasyl auf die Vollziehung des Bescheids vom 28. Januar 2016 und unternahm keinen Abschiebeversuch. Zwar sei das Kirchenasyl gemäß dem Ergebnis des Gespräches zwischen dem BAMF und der evangelischen und katholischen Kirche vom 24. Februar 2015 kein eigenständiges, neben dem Rechtsstaat stehendes Institut, doch habe sich dieses als christlichhumanitäre Tradition etabliert, die das BAMF nicht beabsichtige in Frage zu stellen.
3. Mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft wurde die Verfolgung gemäß § 154a Abs. 2 StPO auf den Zeitraum des Aufenthalts im Kirchenasyl vom 15. Juli 2016 – Beginn -bis 21. Oktober 2016 beschränkt. Des Weiteren wurde mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 154a Abs. 2 StPO von einer Verfolgung im Zeitraum vom 17. Februar 2016 bis 20. November 2016 wegen etwaigen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass gemäß §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 3 AufenthG abgesehen.
4. Das Amtsgericht Freising hat den Angeklagten aus Rechtsgründen freigesprochen. Zwar habe der Angeklagte sich ohne den nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel in Deutschland aufgehalten, jedoch hätte auf Grund seines Aufenthalts im Kirchenasyl, der ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis sei, seine Abschiebung ausgesetzt und eine Duldung erteilt werden müssen. Da der Angeklagte im Kirchenasyl und nach Ablauf der Überstellungsfrist einen Anspruch auf Ausstellung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG bzw. auf Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG gehabt habe, scheide eine Strafbarkeit gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aus.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen des Amtsgerichts Freising in seinem Urteil vom 27. Oktober 2017 Bezug genommen.
5. Mit der Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts, denn entgegen der Ansicht des Amtsgerichts seien sämtliche Voraussetzungen einer Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt.
Die Staatsanwaltschaft macht geltend, das Amtsgericht habe verkannt, dass der Angeklagte über keinen Aufenthaltstitel verfügte und aufgrund des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28. Januar 2016 seit dem 17. Februar 2016 vollziehbar ausreisepflichtig war, wobei ihm eine Frist zur Ausreise nicht gewährt worden sei. Es sei weder die Aussetzung der Abschiebung erfolgt, noch habe der Angeklagte einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Die Inanspruchnahme von Kirchenasyl stelle kein tatsächliches, einen Duldungsanspruch begründendes Abschiebungshindernis dar. Die Abschiebung des Angeklagten sei unter rein tatsächlichen Gesichtspunkten ohne weiteres durchführbar gewesen und allein mit Rücksicht auf seinen Aufenthalt in kirchlichen Räumen unterblieben, weshalb sich die Ausländerbehörden auch nicht zu sich selbst in Widerspruch gesetzt hätten. Die Vereinbarung zwischen dem BAMF und den beiden Kirchen habe deshalb kein rechtliches AbSchiebungshindernis im Sinne von § 60a AufenthG und auch keine „stillschweigende Duldung“ begründet. Die Behörden hätten lediglich davon abgesehen, in dem räumlich eng umgrenzten Bereich der Kirche zum Vollzug der Abschiebung unmittelbaren Zwang gegen den Angeklagten anzuwenden. Die Anerkennung eines Bleiberechts für den Ausländer sei damit nicht verbunden, was auch daran zu erkennen sei, dass Ausländer, die in ein Kirchenasyl eingetreten sind, häufig weiter zur Festnahme außerhalb der kirchlichen Räume ausgeschrieben blieben. Dies wäre nicht erklärbar, wenn man zugleich von einer rechtlichen Anerkennung des Kirchenasyls ausgehen wolle.
Wegen der näheren Ausführungen wird darüber hinaus auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft München I vom 8. Dezember 2017 sowie auf die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft München vom 31. Januar 2018 verwiesen. Hierzu hat der Angeklagte über seinen Verteidiger eine Gegenerklärung vom 8. Februar 2018 abgegeben, in der geltend gemacht wird, dass dem Angeklagten eine Duldung (vorübergehende Aussetzung der Abschiebung) nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu erteilen gewesen wäre und deshalb keine Strafbarkeit gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliege, und auf die im Übrigen Bezug genommen wird.
II.
Das statthafte (§ 333 StPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 341 Abs. 1 StPO, §§ 344, 345 StPO) Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg. Der vom Amtsgericht ausgesprochene Freispruch des Angeklagten ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, weil die Verwirklichung des Tatbestandes des § 95 Abs. 1 Nr. 2 Auf-enthG auf der Grundlage der Feststellungen des Amtsgerichts ausgeschlossen werden kann.
1. Die Prüfung des Revisionsgerichts auf die allein erhobene Sachrüge erstreckt sich insbesondere auf die Gesetzesanwendung, also auf die Frage, ob das Recht auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet worden ist und Auslegung und Sub-sumtion der angewendeten Rechtsnorm frei von Rechtsfehlern sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 337 Rn. 33).
Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen vorliegend aus Rechtsgründen den Freispruch des Angeklagten. Zwar führt der bloße Eintritt eines Ausländers in das Kirchenasyl ebenso wenig wie die bloße Untätigkeit der Ausländerbehörde zu einem Wegfall der Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1Nr. 2 AufenthG. Auch aus der zwischen Kirchenvertretern und BAMF am 24. Februar 2015 getroffenen Vereinbarung folgt nicht ohne weiteres die Straflosigkeit des Ausländers. Diese ergibt sich jedoch im vorliegenden Fall aus der auf dieser Vereinbarung basierenden erneuten Überprüfung des Falles des Angeklagten durch das BAMF, wie sie sich aus dem Schreiben des BAMF vom 04. August 2016 an die Pfarrei St. X entnehmen lässt, und dem Anspruch des Angeklagten auf Erteilung einer Duldung infolge des in dieser nochmaligen Einzelfallprüfung zu sehenden rechtlichen Abschiebungshindernisses.
a) Gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG liegt objektiv ein strafbarer illegaler Aufenthalt vor, wenn eine Person sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhält, vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist und die Abschiebung nicht ausgesetzt ist (BeckOK AuslR/Hohoff, 17. Ed. 1.11.2017, AufenthG § 95 Rn. 12).
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts verfügte der Angeklagte nicht über einen Aufenthaltstitel. Er war aufgrund des Bescheids des BAMF vom 28. Januar 2016 seit dem 17. Februar 2016 vollziehbar ausreisepflichtig, wobei ihm eine Frist zur Ausreise nicht gewährt worden war (UA S. 2/3). Seine gemäß Art. 29 Dublin Iii-Verordnung vorgesehene Überstellung (Abschiebung) nach Italien war von den Ausländerbehörden nicht ausgesetzt worden. Diese Umstände waren dem Angeklagten auch sämtlich bekannt.
b) Die Strafbarkeit entfällt vorliegend auch nicht, weil dem Angeklagten eine Duldung gemäß § 62a Abs. 2 AufenthG erteilt worden wäre. Eine solche wurde durch die zuständige Ausländerbehörde nach den Feststellungen des Amtsgerichts gerade nicht erteilt.
c) In der Tolerierung des Kirchenasyls als christlich – humanitäre Tradition, wie sie in der Vereinbarung vom 24. Februar 2015 zum Ausdruck gebracht worden ist, kann auch keine Ermessensduldung oder stillschweigende bzw. faktische Duldung gesehen werden.
aa) Die Fälle der Ermessensduldung sind in § 60a Abs. 2a – d AufenthG abschließend geregelt. Kirchenasyl ist dort nicht genannt und auch mit den genannten Fällen inhaltlich nicht vergleichbar.
bb) Das Nichteinschreiten der Ausländerbehörde kann auch nicht als faktische oder stillschweigende Duldung angesehen werden.
Die Duldung iSv § 60a Abs. 2 AufenthG ist ein in der Verwaltungsvollstreckung ergehender begünstigender Verwaltungsakt (vgl. Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 60a Rn 15). Das schlichte Nichts-Tun einer Behörde kann jedoch kein Verwaltungsakt sein (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2018, § 35 Rn 81). Die Duldung bedarf gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG außerdem zwingend der Schriftform, lediglich eine Begründung ist aufgrund des begünstigenden Charakters entbehrlich (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 77 Rn 3). Gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG ist außerdem eine deklaratorische Bescheinigung zu erteilen. Auch dies verdeutlicht, dass es eine konkludente oder faktische Duldung nicht mehr geben kann (vgl. BeckOK AuslR/Kluth, 17. Ed. 1.5.2017, AufenthG § 77 Rn. 9.7).
d) Die Strafbarkeit des Angeklagten entfällt im vorliegenden Fall jedoch deshalb, weil der Angeklagte einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hatte.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die Strafgerichte selbständig zu überprüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren (BVerfG Beschluss vom 6. März 2003, 2 BvR 397/02, zitiert über juris Rn. 41).
Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes (nunmehr Aufenthaltsgesetzes), einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu dulden. Dabei hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann eine Abschiebung des Ausländers durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden kann. Schon dann, wenn sich herausstellt, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, ist – unabhängig von einem Antrag des Ausländers – als „gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis“ grundsätzlich eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerwGE 105, 232 [235 f., 238], BVerfG aaO Rn. 37).
Kommt der Strafrichter zu der Überzeugung, die Voraussetzungen für eine Duldung hätten vorgelegen, scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers wegen unerlaubten Aufenthalts auch dann aus, wenn eine Duldung tatsächlich nicht erteilt wurde (BeckOK AuslR/Hohoff, 17. Ed. 1.11.2017, AufenthG § 95 Rn. 18), denn die Strafbarkeit einer Person kann nicht davon abhängen, ob eine Verwaltungsbehörde ordnungsgemäß handelt oder nicht. Das wäre jedoch der Fall, wenn das Unterlassen einer Duldungserteilung trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen zu einer Strafbarkeit führen würde.
Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist eine Abschiebung auszusetzen, wenn sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Ein Anspruch auf Duldungserteilung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung scheidet vorliegend aus, da eine solche weder nach den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 60a AufenthG noch im Kirchenasyl an sich vorliegt und auch nicht in der Tolerierung des Kirchenasyls gesehen werden kann, denn eine Beendigung wäre faktisch jederzeit möglich gewesen.
Ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung ergibt sich vorliegend jedoch aus einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung.
aa) Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts war der Eintritt in das „Kirchenasyl“ alleine nicht geeignet, einen Anspruch des Angeklagten auf Erteilung einer Duldung zu begründen.
Auch wenn nach innerkirchlichem Selbstverständnis sog. Kirchenasyl anerkannt sein sollte, so kann dies nach der Verfassung nur in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes Beachtung finden.
Jedenfalls der Angeklagte als Kirchenasyl in Anspruch nehmender Ausländer kann aus den christlich-humanitären Traditionen und Werten des Kirchenasyls keine ihm zustehenden besonderen Rechte ableiten.
Kirchenasyl ist kein in der geltenden Rechtsordnung anerkanntes Recht. Die Grundrechte werden durch den Staat garantiert. Zu diesen gehört die Gewährung staatlichen Asyls in seiner gesetzlich geregelten praktischen Anwendung. Niemand, auch nicht die Kirche oder sonstige gesellschaftliche Interessengruppen, kann hier oder in anderen Bereichen außerhalb dieser Ordnung Sonderrechte für sich beanspruchen und etwa Asyl gewähren, oder sonst Allgemeinverbindlichkeit für das beanspruchen, was er jeweils gerade für richtig oder falsch hält, noch kann er bestimmen, was erlaubt ist und was nicht. Würde man anderes zulassen, wäre eine verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung die Folge und ein Klima fehlender Rechtstreue geschaffen, Grundrechtsschranken würden ignoriert. Das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit und damit die öffentliche Ordnung als Grundlage des geordneten Zusammenlebens der Bürger in Freiheit würde beschädigt, die durch das Grundrecht aus Art. 2 GG garantiert ist (LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2001, 7 Ns 131/01, NStZ 2002, 604 Rn. 13 ff). Demzufolge besteht Kirchenasyl im historischem Sinne als gegenüber staatlichen Institutionen geltendes und zu beachtendes Recht nicht (mehr) (vgl. Radtke/Radtke, „Kirchenasyl“ und die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Kirchenvorstandes, ZevKR 42, 23ff [39]; von Münch,,Kirchenasyl“: ehrenwert, aber kein Recht, NJW 1995, 565 f).
Dieser Auffassung wird auch in der Vereinbarung vom 24. Februar 2015 Rechnung getragen. Dort wurde ausdrücklich festgehalten, dass die Beteiligten (BAMF sowie Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche) darin übereinstimmen, dass das Kirchenasyl,,kein eigenständiges, neben dem Rechtsstaat bestehendes Institut” ist, sich jedoch als christlich – humanitäre Tradition etabliert hat (UA S. 5).
Wird durch die Gewährung oder Inanspruchnahme von Kirchenasyl gegen geltende Gesetze verstoßen, so handelt es sich tatbestandsmäßig also um eine bewusste und gewollte, mindestens billigend in Kauf genommene Gesetzesverletzung, also um Unrecht, (vgl. Münch, aaO, [566]), für das auch kein Rechtfertigungsgrund erkennbar ist (vgl. Radtke/Radtke, aaO, [46 ff]). Ob gegenüber Kirchenvorständen und anderen Pfarreiverantwortlichen bei Gewährung von Kirchenasyl ein Schuldvorwurf wegen der tatbestandsmäßig und rechtswidrig begangenen Beihilfehandlung nicht erhoben werden kann, weil diese sich aus religiöser Überzeugung und aus einem unauflösbaren Gewissenskonflikt heraus auf ihr Grundrecht der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Grundgesetz berufen können und deshalb in einem entschuldigenden Notstand handeln, kann vorliegend dahingestellt bleiben, da der Angeklagte als Kirchenasyl in Anspruch nehmender Ausländer nicht zu diesem Personenkreis zählt.
Der Staat ist folglich durch das Kirchenasyl an sich weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen, Kirchenasyl verbietet dem Staat kein Handeln und zwingt ihn auch nicht zum Dulden. Er verzichtet lediglich bewusst darauf, das Recht durchzusetzen, solange ein Ausreiseverpflichteter sich in kirchlichen Räumlichkeiten im Kirchenasyl aufhält. Es existiert somit kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Der Umstand, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden davor zurückschrecken oder aus Respekt vor christlich-humanitären Traditionen und wegen der gegenüber profanen Räumlichkeiten gesteigerten Friedensfunktion von Kirchenräumen davon absehen, die ihnen zur Verfügung stehenden Rechte und Möglichkeiten bei Personen im Kirchenasyl auszuschöpfen, also insbesondere auch unmittelbaren Zwang in kirchlichen Räumen anzuwenden, macht die Überstellung nicht unmöglich (VG München Urteil vom 6. Februar 2017, M 9 K 16.50076, zitiert über juris Rn.11; VG München, Urteil vom 27. März 2017, M 22 K 16.502220, zitiert über juris Rn.17; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11. November 2016, L 8 AY 28/16 B ER, zitiert über juris Rn. 35; LG Osnabrück, Urteil vom 2. November 2001, 7 Ns 131/01, NStZ 2002, 604 Rn. 13 ff; Radtke aaO, S. 48).
bb) Jedoch liegt in strafrechtlicher Hinsicht ein zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung führendes tatsächliches Abschiebehindernis durch die Handlungsweise des BAMF i.V.m. der Vereinbarung zwischen dem BAMF und den Bevollmächtigten der evangelischen und katholischen Kirchen vom 24. Februar 2015 vor, solange die Behörde – wie im vorliegenden Fall – nicht eindeutig gegenüber dem Angeklagten und der zuständigen Kirchenleitung zum Ausdruck gebracht hat, dass die in der Vereinbarung vom 24. Februar 2015 zugesagte nochmalige Einzelfallüberprüfung negativ für den Angeklagten entschieden worden ist.
In der Vereinbarung vom 24. Februar 2015 wurde u.a. in Ziffer 2. 1 festgehalten, dass zentraler Bestandteil die bis voraussichtlich bis Spätherbst 2015 laufende Pilotphase ist, in der die Strukturen für die Zusammenarbeit aufgebaut werden sollen. Vorgesehen hierfür ist die Benennung kirchlicher Ansprechpartner (…), die ausschließlich Prüffälle zum Kirchenasyl entgegennehmen und dies mittels Dossiers an das Bundesamt weiterleiten (…). Nach der Registrierung, einer schriftlichen Eingangsbestätigung an den Kirchenvertreter und Meldung an die zuständige Ausländerbehörde sowie die Bundespolizei wird der Fall gesichtet, mit einem Votum versehen, das einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen (Ausübung des Selbsteintritts oder Feststellung des Ablaufs der Überstellungsfristen in Dublin-Fällen, Möglichkeit einer positiven Entscheidung) beinhaltet und an das zuständige Fachreferat abgegeben werden. Stimmt dieses dem Votum zu, erfolgt die entsprechende Benachrichtigung der Kirchen-Ansprechpartner (…), (UA. S. 5/6).
Aus dieser Textpassage ergibt sich eine konkrete Vereinbarung, wie die Kirchenvertreter und das BAMF in den Fällen des Kirchenasyls zusammenarbeiten. Zudem verzichtete die Ausländerbehörde auf Geheiß der Regierung von Oberbayern und des BAMF aufgrund des Aufenthalts des Angeklagten im Kirchenasyl auf die Vollziehung des Bescheids vom 28. Januar 2016 (UA S. 3).
Aufgrund des Umstands, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden konkrete Vereinbarungen hinsichtlich der Behandlung von Kirchenasylfällen getroffen haben, ist für den Zeitraum der nochmaligen Überprüfung des konkreten Einzelfalls, belegt durch das Bestätigungsschreiben des BAMF vom 4. August 2016 an die Pfarrei St. X, von einem Anspruch des Angeklagten auf Duldung bzw. von einem faktisch bestehenden Vollzugshindernis aufgrund einer politischen Entscheidung auszugehen (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11. November 2016, L 8 AY 28/16 B ER, zitiert über juris Rn. 35) mit der Folge, dass dem Angeklagten für die Zeit, in der er sich im Kirchenasyl befand und die Ausländerbehörde aufgrund der mit den Kirchenvertretern getroffenen Vereinbarung in eine erneute Überprüfung des Falls eingetreten war, eine Duldung hätte erteilt werden müssen.
Der die Strafbarkeit entfallen lassende Anspruch auf Erteilung einer Duldung besteht unabhängig davon, ob der Ausländer die Entstehung des Abschiebungshindernisses oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung durch Vernachlässigung der Mitwirkungspflicht (§ 70 AuslG) durch die Inanspruchnahme des Kirchenasyls zu vertreten hatte oder nicht (BVerwGE 105, 232 ff, zitiert über juris Rn. 16 ff; BVerwGE 111, 62 ff, zitiert über juris Rn. 12 ff). Wenn die Ausländerbehörde gleichwohl keine Duldung erteilte, aber auch nicht abschob, dann ist eine strafrechtliche Ahndung schlechterdings unvertretbar. Denn ansonsten würde es dem freien Ermessen der Ausländerbehörden (durch Erteilung oder Nichterteilung einer Duldung) überlassen bleiben, ob und in welchem Umfang sich ein Ausländer strafbar macht, was eine widersprüchliche Verwaltungspraxis nach sich ziehen würde (BVerfG Beschluss vom 6. März 2003, 2 BvR 397/02 zitiert über juris Rn. 37, 38, 39).
Die Ausreisepflicht bleibt davon unberührt, § 60a Abs. 3 AufenthG; die Duldung bewirkt insoweit nur eine zeitweise Aussetzung der Abschiebung (BeckOK AuslR/Kluth, 17. Ed. 1.11.2017, AufenthG § 60a Rn. 45).
Der freiwillige Verzicht auf eine Rücküberstellung im Fall des Kirchenasyls und dem Wiedereintritt in die Einzelfallprüfung ist somit nicht anders zu bewerten, als die Fälle, in denen eine Rücküberstellung mangels entsprechender Vollzugskapazitäten oder anderer in der Sphäre des Staates liegender Umstände nicht möglich ist.
Ein in der Sphäre des Angeklagten liegendes und zu beachtendes Hindernis für den Vollzug der Rücküberstellung, wie im Fall der Flucht, ist ebenfalls nicht gegeben (VG München Urteil vom 6. Februar 2017, M 9 K 16.50076, zitiert über juris Rn.11; VG München, Urteil vom 27. März 2017, M 22 K 16.50220, zitiert über juris Rn.17). Die Sachlage ist bei einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person, deren Aufenthalt bekannt ist, nicht mit jener vergleichbar, die bei einer flüchtigen Person vorliegt (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 25. Januar 2012, 3-1/12 (REV),1 Ss 196/11, zitiert über juris Leitsatz Ziffer 1; BGH Urteil vom 6. Oktober 2004, 1 StR 76/04 Ziffer II 2 c), da aufgrund des bekannten Aufenthalts die Zustellung von Verwaltungsakten, z.B. einer Duldung, ebenso möglich ist, wie ein Vollzug der Abschiebung.
Die Inanspruchnahme von Kirchenasyl durch den Ausländer kann auch nicht deshalb mit einer Flucht gleichgesetzt werden, weil er aufgrund der in Deutschland üblichen Tolerierungspraxis sicher damit rechnen konnte, dass ein Zugriff durch die Ausländerbehörden nicht erfolgen würde. Die Vereinbarung vom 24. Februar 2015 sieht ein mehrstufiges Prüfungsverfahren mit offenem Ausgang vor, der Aufenthaltsort des Ausländers ist den Behörden bekannt und ein Zugriff wäre faktisch jederzeit möglich, sodass anders als im Fall des Untertauchens kein sich der staatlichen Gewalt Entziehen gegeben ist.
Eine Strafbarkeit scheidet somit für den fraglichen Zeitraum aus (BVerfG aaO, Orientierungssatz Ziffer 1d), zumal nach Ablauf der Überstellungsfrist nach Italien am 3. September 2016 ein zusätzlicher Duldungsgrund dadurch entstanden ist, dass eine Zurückschiebung nach Italien wegen Zeitablaufs nicht mehr möglich war.
Anders wäre der Fall nur dann zu bewerten, wenn die Behörde das Verweilen im Kirchenasyl von Anfang an nicht oder nach Abschluss der erneuten Einzelfallprüfung nicht mehr akzeptiert hätte und zu keiner Duldung des Angeklagten durch entsprechendes Verwaltungshandeln bereit gewesen wäre. Dann läge lediglich ein Verzicht auf gewaltsame Durchsetzung der Vollstreckung, aber kein Abschiebeverzicht und kein Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung vor, solange sich der ausreisepflichtige Ausländer in den Kirchenräumen aufhält (vgl. Radtke/Radtke aaO, S. 41, 48). In diesen Fällen wäre eine Strafbarkeit gegeben.
2. Das Amtsgericht hat in der Hauptverhandlung die Strafverfolgung auf den Zeitraum des Kirchenasyls beschränkt. Eine Wiedereinbeziehung ausgeschiedener Gesetzesverletzungen gemäß § 154a Abs. 3 Satz 1 StPO durch das Amtsgericht ist nicht erfolgt, obwohl dies bei einem Freispruch erforderlich gewesen wäre. Insoweit wurde jedoch keine zulässige Verfahrensrüge durch die Staatsanwaltschaft erhoben. Die Sachrüge reicht insoweit nicht aus (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, 4 StR 370/95, zitiert über juris Rn. 18 ff; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 154a Rn. 27 sowie § 264 Rn. 12). Das Urteil des Amtsgerichts hat somit in vollem Umfang Bestand.
Die Revision der Staatsanwaltschaft war deshalb als unbegründet zu verwerfen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.