Verkehrsrecht

Neuerteilung einer Fahrerlaubnis – Eignungszweifel wegen Straftat des sexuellen Missbrauchs von Kindern

Aktenzeichen  M 26 K 17.3289

Datum:
17.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28054
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6, Abs. 8, § 20
StVG § 2 Abs. 2, Abs. 4, Abs. 8
VwGO § 75

 

Leitsatz

Bei sexuellem Missbrauch von Kindern kann es, wenn das Delikt ohne hohes Aggressionspotential und nicht unter Benutzung eines Pkw begangen wurde, an den Voraussetzung für die Anordnung eines Gutachtens wegen einer Straftat fehlen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Fahrerlaubnis in den Klassen B, BE, L, S und M zu erteilen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleitung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
1. Die Klage ist zulässig.
Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage im Sinne des § 75 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig. Der Beklagte hat über den Antrag des Klägers auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis in Gestalt des auf die Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1 beschränkten Antrags vom 1. Februar 2017 bislang nicht entschieden und begründet dies im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung damit, der Kläger müsse erst ein medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU-Gutachten) auf der Grundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Fahrerlaubnisverordnung – FeV – beibringen, was sie zuletzt mit Schreiben vom … August 2017 unter Setzung einer 3-Monats-Frist für die Vorlage des Gutachtens von ihm verlangt hat.
Der Kläger ist der Ansicht, die Behörde sei nicht berechtigt, von ihm ein solches Gutachten zu fordern, sondern müsse vielmehr ohne weiteres seinen Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis positiv verbescheiden.
Im Verhalten der Fahrerlaubnisbehörde, die nach mehreren Korrekturen zuletzt die Gutachtensanordnung vom … August 2017 erlassen und seitdem nicht über den Antrag entschieden hat, ist aus Sicht der Kammer die konkludente Weigerung der Beklagten zu sehen, den Antrag nach Maßgabe des § 11 Abs. 8 FeV nach vorheriger Anhörung abzulehnen. Nicht zuletzt im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist es in einer solchen Fallkonstellation als sachdienlich anzusehen, die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage in Form einer Untätigkeitsklage anzunehmen, zumal es vorliegend von der Beantwortung einer materiell-rechtlichen Frage abhängt, ob die Behörde zu Recht untätig geblieben ist oder ob sie nicht den Antrag des Klägers mit der Begründung hätte ablehnen müssen, dieser weigere sich, das von ihm zu Recht zu fordernde MPU-Gutachten beizubringen.
2. Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 des Straßenverkehrsgesetzes – StVG – einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Fahrerlaubnis, weil die gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen. Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Erteilung der Fahrerlaubnis vorliegend zu Unrecht von der Beibringung eines positiven MPUGutachtens abhängig gemacht hat.
2.1. Die Voraussetzungen für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangenem Entzug der Fahrerlaubnis entsprechen gemäß § 20 Abs. 1 FeV denen einer Ersterteilung. Diese setzt nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 StVG u.a. voraus, dass der Bewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Geeignet in diesem Sinne ist nach § 2 Abs. 4 StVG u.a., wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV erfüllt ein Bewerber diese Anforderungen insbesondere dann nicht, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4, 5 oder 6 vorliegt, oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Bewerber um eine Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder bedingt geeignet ist, so sind die in § 2 Abs. 8 StVG, §§ 11 bis 14 FeV geregelten Aufklärungsmaßnahmen zu treffen. Unter anderem kann nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen, die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zur Klärung von Eignungszweifeln angeordnet werden.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, so darf sie bei ihrer Entscheidung gem. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Voraussetzung ist allerdings insoweit, dass die Untersuchungsanordnung rechtmäßig ist und die Weigerung ohne ausreichenden Grund erfolgt (siehe Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., Rdnr. 22 und 24 zu § 11 FeV; BVerwG vom 30.12.1999, NZV 2000, 345; OVG Bremen vom 08.03.2000, NJW 2000, 2438; BayVGH vom 29.06.1999, NJW 2000, 304;).
2.2. Vorliegend ist der Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu Unrecht gemäß § 20 Abs. 1 FeV, § 11 Abs. 8 FeV, § 2 Abs. 2 Nr. 3 StVG von der Vorlage eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung abhängig gemacht worden.
2.2.1. Die Gutachtensanordnung konnte nicht auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV gestützt werden. Danach kann zur Klärung von Eignungszweifeln ein medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet werden bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen oder die erhebliche Straftat unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen wurde. Der Begriff „erheblich“ ist nach der Begründung der Änderungsverordnung zur Fahrerlaubnis-Verordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl I S. 1338, BR-Drs. 302/08 S. 61) nicht ohne weiteres mit „schwerwiegend“ gleichzusetzen, sondern bezieht sich auf die Kraftfahreignung (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage 2017, § 11 FeV Rn. 5 d). Der Bezug zur Kraftfahreignung setzt nicht voraus, dass für die Bejahung des Begriffs „erheblich“ ein Pkw als Mittel zur Straftat benutzt worden ist (BayVGH, B.v. 14.8.2012 – 11 C 12.1746 – juris). Vielmehr muss anhand konkreter Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, festgestellt werden, ob die Anlasstat tatsächlich Rückschlüsse auf die Kraftfahreignung zulässt (BayVGH, B.v. 5.7.2012 – 11 C 12.874 – juris Rn. 27; B.v. 6.11.2017 – 11 CS 17.1726 – juris).
Der vom Kläger begangene sexuelle Missbrauch, der sich nach Überzeugung des Gerichts so zugetragen hat, wie er Gegenstand der Anklageschrift und des Strafurteils, darüber hinaus auch der polizeilichen Aussage des Geschädigten zu entnehmen ist, ist danach nach seiner konkreten Begehungsweise und unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Klägers nicht als erheblich im Sinne der fahrerlaubnisrechtlichen Regelung anzusehen.
Ohne dass dem alleine entscheidende Bedeutung zukäme, spricht schon die niedrige zuerkannte Strafe von 8 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung gegen die Erheblichkeit der Tat.
Die Straftat wurde nicht unter Nutzung eines PKW begangen. Der Kläger ist mit dem Geschädigten lediglich mit seinem PKW zu sich nach Hause gefahren, wobei die Tat noch nicht das Versuchsstadium erreicht hatte. Nach der Tat hat er den Geschädigten, der aus der Wohnung gelaufen war, zunächst zu Fuß, dann mit dem PKW gesucht, ohne dass dies noch unmittelbar mit der Tat zusammenhängt.
Ein hohes Aggressionspotential kommt in der Tat nicht zum Ausdruck. Der Kläger hat mangels körperlichen oder verbalen Widerstands des Geschädigten keine Kraft zur Überwindung eines Widerstandes aufwenden müssen. Ob sich der Kläger bei hypothetischem Widerstand des Geschädigten (latent) aggressiv verhalten oder von seinem Plan Abstand genommen hätte, ist Spekulation. Weder sein Verhalten vor der Tat, als er den Geschädigten aufforderte, Sachen von ihm, dem Kläger, anzuziehen und sich in sein Bett zu legen, noch während der Tat, als er sich ihm näherte und an seinem Penis herumspielte, noch nach der Tat, als der Geschädigte aufstand und ins Bad ging, spiegeln eine besondere Aggressionsbereitschaft wieder. Im Lichte des Vorfalls, bei dem der Kläger sich dem Geschädigten zwei bis drei Wochen vor der Tat schon einmal auf ähnliche Weise, allerdings weniger intensiv, genähert hatte, stellt sich das Verhalten des Klägers nicht so sehr als aggressiv, sondern eher als „die Grenzen des Machbaren austestend“ dar. Als aggressiv und impulsiv hat ihn das Gericht auch bei der mündlichen Verhandlung und angesichts seiner umfangreichen schriftlichen Einlassungen nicht empfunden, eher als zurückhaltend-beharrlich.
Aus der singulär gebliebenen Tat lassen sich deshalb begründete Zweifel daran, dass der Kläger im motorisierten Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer nicht respektieren werde, nicht herleiten. Eine Neigung zu planvoller bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer und eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsiven Verhalten (Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Stand: 24. Mai 2018, Ziffer 3.16) ist nicht in einem fahrerlaubnisrechtlich relevantem Maße erkennbar.
Aus der von der Beklagten angeführten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung folgt nichts anderes. Einen allgemeinen Grundsatz, dass bei sexuellem Missbrauch stets die Erheblichkeitsschwelle erreicht wäre, lässt sich daraus nicht entnehmen. Maßgeblich sind vielmehr immer die Umstände des Einzelfalls. Den von der Beklagten angeführten Entscheidungen lagen jeweils andere Einzelfälle zugrunde. Der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Juli 2011 (M 6a K 10.5105) etwa lag ein Fall von sexuellem Missbrauch in mindestens 20 Fällen mit einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren auf Bewährung zugrunde, in denen die Geschädigte das Unterlassen der Handlung gefordert hatte. Dass die sexuelle Handlung selbst schon eine Form von Gewaltanwendung ist, mag zwar richtig sein, sagt aber nicht über die in ihr zum Ausdruck kommende Aggressionsbereitschaft in Bezug auf den Straßenverkehr aus.
2.2.2. Die Gutachtensanordnung kann stattdessen unstreitig auch nicht auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 oder Nr. 7 FeV gestützt werden, da deren tatbestandliche Voraussetzungen jeweils nicht vorliegen. Insbesondere ist die 2015 abgeurteilte vom Kläger verwirklichte Straftat der Trunkenheitsfahrt in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigungsfähig.
3. Da auch die übrigen Voraussetzungen für die Neuerteilung der begehrten Fahrerlaubnis – unstreitig (die ursprünglich gehegten Bedenken bestehen laut Beklagter nicht mehr) – vorliegen, insbesondere der Kläger die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt, war die Beklagte zur Erteilung der begehrten Fahrerlaubnis zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung hat ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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