Verkehrsrecht

Rechtswidrige Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtvorlage eines ärztlichen Gutachtens bei rechtswidriger Gutachtensanordnung

Aktenzeichen  M 26 K 17.5033

Datum:
13.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 14410
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 3 Abs. 1
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 6, Abs. 8, § 46, Anl. 4

 

Leitsatz

1. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis kann in Anwendung des § 11 Abs. 8 S. 1 FeV nur erfolgen, wenn die Gutachtensanordnung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war und der Betroffene nicht aus anderen Gründen berechtigt war, die Erstellung oder Vorlage des Gutachtens zu verweigern (Anschluss an BVerwG BeckRS 2005, 29713 mwN). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Gutachtensanordnung genügt auch dann nicht den an sie zu stellenden Anforderungen hinsichtlich der Anlassbezogenheit der Fragestellung iSv § 11 Abs. 6 S. 1 und 2 FeV, wenn der Betroffene an zahlreichen Krankheiten und gesundheitlichen Einschränkungen leidet, die jede für sich genommen bereits Bedenken gegen seine körperliche Eignung und damit die Anordnung eines fachärztlichen Gutachtens rechtfertigen, hinsichtlich einzelner Erkrankungen dagegen keine belastbaren Anhaltspunkte vorliegen. Erstreckt sich in einem solchen Fall die Gutachtensanordnung auch auf diese Erkrankungen, führt dies nicht nur zur Rechtswidrigkeit der Fragestellung insoweit, sondern zur Rechtswidrigkeit der Gutachtensanordnung insgesamt (Bestätigung von VG München BeckRS 2018, 7567 Rn. 26; siehe auch VGH München BeckRS 2013, 47537 Rn. 19). (Rn. 31 – 37) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 29. September 2017, Az. … * … wird aufgehoben. Der Beklagten wird aufgegeben, den Führerschein wieder an den Kläger herauszugeben oder ihm einen neuen Führerschein auszustellen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Infolge der Rechtswidrigkeit der Gutachtensaufforderung vom … Mai 2017 durfte die Beklagte nicht gem. § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen. Die Nichteignung des Klägers steht auch nicht aus anderen Gründen fest (§ 11 Abs. 7 FeV), so dass die Beklagte dem Kläger die Fahrerlaubnis nicht gem. § 3 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz – StVG – i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hätte entziehen dürfen.
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis diese zu entziehen, wenn er sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur FeV vorliegen. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder nur bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 entsprechend Anwendung, § 46 Abs. 3 FeV. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann dann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Entziehung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Betreffenden anordnen, § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV), worauf der Betroffene bereits bei der Anordnung des Gutachtens hinzuweisen ist (§ 11 Abs. 8 Satz 2 FeV). Die Entziehung einer Fahrerlaubnis in Anwendung des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV kann jedoch nur erfolgen, wenn die Gutachtensaufforderung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig, war und der Betreffende nicht aus anderen Gründen berechtigt war, die Erstellung oder Vorlage des Gutachtens zu verweigern (vgl. nur BVerwG, U.v. 9.6.2005 – 3 C 21.04 – NJW 2005, 3340 ff. m.w.N).
Der Betroffene soll durch die Darlegung der Gründe, die Zweifel an der Fahreignung begründen, ebenso wie durch die Mitteilung der zu begutachtenden Fragen und der Fragestellung, die bereits in der an ihn gerichteten Beibringungsanordnung zu erfolgen hat, in die Lage versetzt werden, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob die Aufforderung zu dessen Beibringung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist.
2. Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall erweist sich die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids vom 29. September 2017 enthaltene Entziehung der Fahrerlaubnis als rechtswidrig, weil die Gutachtensaufforderung vom 10. Mai 2017 ihrerseits bereits rechtswidrig war. Auch wenn beim Erlass der Gutachtensaufforderung ausreichend Tatsachen vorgelegen haben, die geeignet waren, Bedenken gegen die Fahreignung des Klägers zu begründen, genügt die Gutachtensanforderung nicht vollständig den an sie zu stellenden Anforderungen hinsichtlich der Anlassbezogenheit der Fragestellungen (§ 11 Abs. 6 Sätze 1 und 2 FeV).
2.1 Unstreitig leidet der Kläger an zahlreichen Krankheiten und gesundheitlichen Einschränkungen, die jede für sich genommen bereits Bedenken gegen seine körperliche Eignung und damit die Anordnung eines fachärztlichen Gutachtens rechtfertigen. So ergibt sich aus den vorliegenden ärztlichen Berichten aus dem Jahre 2016, hinsichtlich deren Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit grundsätzlich keine Zweifel bestehen, dass der Kläger jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt an einem Diabetes mellitus Typ II (Ziffer 5 der Anl. 4 zur FeV), an einer affektiven Psychose im Sinne einer schweren Episode einer Depression (Ziffer 7.5 der Anl. 4 zur FeV), an Herz- und Gefäßkrankheiten (Ziffer 4 der Anl. 4 zur FeV), an Tagesschläfrigkeit (Ziffer 11.2 der Anl. 4 zur FeV), an Hypertonie (Ziffer 4.2 der Anl. 4 zur FeV), sowie an Bewegungsbehinderungen (Ziffer 3 der Anl. 4 zur FeV) litt.
2.2 Dagegen lagen nach Auffassung des erkennenden Gerichts keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Altersdemenz (Ziffer 7.3 der Anl. 4 zur FeV) sowie für eine Lungen- und Bronchialerkrankung (Ziffer 11.3 der Anl. 4 zur FeV) des Klägers vor, was nicht nur die entsprechenden Fragestellungen, sondern die Gutachtensanordnung insgesamt rechtswidrig macht.
Die Annahme, der Kläger könnte an Altersdemenz in Form von Alzheimer erkrankt sein, findet in den vorliegenden Unterlagen keine tragfähige Stütze. Sie basiert allein auf der brieflichen Angabe des Klägers gegenüber dem Regierungspräsidium in A* …, wo der Kläger über sich selbst sagt, dass er in eine Spirale von „Krankenhaus, Ambulanz und weitere Hirnfälligkeiten“ gekommen sei. Jetzt sei er „bei Alzheimer angekommen“. Er gehe jetzt seine „fortschreitende Alzheimer-Krankheit“ an. Diese Aussage des Klägers über sich selbst, der in erster Linie brieflich darlegen wollte, dass ihm alles „über den Kopf gewachsen ist“, bietet aber für sich genommen nicht genügend Anhaltspunkte für ein Erforschen der Gesundheit des Klägers in dieser Hinsicht. Außerdem liegen keine objektiven medizinisch belastbaren Anhaltpunkte für eine derartige Erkrankung des Klägers vor, da die Berichte der Kliniken, in denen sich der Kläger in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Selbstaussage, er habe Alzheimer, aufgehalten hat, über eine Alzheimererkrankung nichts aussagen. Dies wäre aber angesichts der Tatsache, dass der Kläger während seiner stationären Aufenthalte in den Kliniken jeweils eingehend, insbesondere auch psychologisch, untersucht worden, ist, unbedingt zu erwarten gewesen.
Außerdem liegen keine hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger auch aktuell noch unter der aufgetretenen Lungenembolie mit akutem Cor pulmonale leidet. Die entsprechenden Komplikationen sind bereits 2010 aufgetreten, so dass es auch diesbezüglich an aktuellen Anhaltspunkten für ein Fortwirken oder ein Wiederauftreten der Erkrankung in der Gegenwart fehlt. Der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne hätte hier geboten, dem Kläger zunächst einen aktuellen ärztlichen Bericht über den aktuellen Verlauf der Erkrankung auf freiwilliger Basis abzuverlangen. Dass die Beklagte das nicht getan hat, sondern auch insofern sofort zu dem Gefahrerforschungsinstrument des ärztlichen Gutachtens gegriffen hat, stellt sich somit auch als unverhältnismäßig dar.
Da somit die Gutachtensanordnung in Bezug auf die zwei genannten Erkrankungen rechtswidrig ist, ist sie insgesamt rechtswidrig; der Kläger war damit berechtigt, das Gutachten insgesamt nicht erstellen zu lassen. Denn die scharfe Sanktion des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV setzt grundsätzlich eine vollständig rechtmäßige Gutachtensanordnung voraus. Es kann dem Betroffenen in der Regel nicht zugemutet werden, selbst entsprechende rechtliche Differenzierungen vorzunehmen (vgl. VG München, B.v. 13.10.2015, M 6b S 15.3163, RdNr. 30 – juris; B.v. 19.04.2018, M 26 S 18.234).
Die Entziehung der Fahrerlaubnis in Anwendung des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV war damit, wie dargelegt, ebenfalls rechtswidrig. Dieses rechtliche Ergebnis wird freilich den Kläger nicht davor bewahren, einer nach dieser Maßgabe einwandfreien Gutachtensanordnung in Bezug auf seine übrigen Erkrankungen Folge zu leisten.
3. Die sonstigen Verfügungen im streitgegenständlichen Bescheid, die zur Entziehung der Fahrerlaubnis selbst akzessorisch sind, sind vor diesem Hintergrund ebenfalls rechtswidrig und daher aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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