Aktenzeichen 11 B 16.1619
FeV § 3 Abs. 1, Abs. 2, § 13 S. 1 Nr. 2 lit. b, lit. c
Leitsatz
Ein medizinisch-psychologisches Gutachten, das die Fahreignung zum Gegenstand hat, ist bezüglich der Frage, ob der Begutachtete hinreichend sicher von einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum zu trennen vermag, unschlüssig, wenn es auf Vorfälle gestützt wird, die zum Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung und Gutachtenserstellung nach den geltenden Tilgungsbestimmungen nicht mehr vorgehalten werden können. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
AN 10 K 15.1777 2016-03-14 Urt VGANSBACH VG Ansbach
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 14. März 2016 und der Bescheid des Landratsamts Nürnberger Land vom 5. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Mittelfranken vom 14. September 2015 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung des Klägers ist begründet. Der Bescheid vom 5. Mai 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 14. September 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Fahreignungsgutachten vom 2. April 2015, auf dem der Bescheid beruht, trägt die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge schon deshalb nicht, weil es sich maßgeblich auf die beiden Verurteilungen aus den Jahren 2000 und 2004 stützt, die dem Kläger schon zum Zeitpunkt der Gutachtensanordnung am 7. Januar 2015 nach den Tilgungsvorschriften für die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden durften.
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 21. Dezember 2016 (BGBl I S. 3083), hat die Fahrerlaubnisbehörde das Führen von Fahrzeugen oder Tieren zu untersagen, wenn sich jemand als ungeeignet oder nur noch bedingt geeignet dafür erweist. Gemäß der Verordnungsbegründung zu § 3 FeV gilt diese Vorschrift für Personen, die kein fahrerlaubnispflichtiges Kraftfahrzeug führen, sondern in anderer Weise am Straßenverkehr teilnehmen, z.B. für Fahrrad- und Mofafahrer und Lenker von Fuhrwerken (vgl. BR-Drs. 443/98, S. 237; Hahn/Kalus in Münchner Kommentar Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, Bd. 1 § 3 FeV Rn. 1; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Verkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 3 FeV Rn. 10; Ternig in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 1. Aufl. 2014, § 3 FeV Rn. 1).
Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass der Führer eines Fahrzeugs oder Tieres zum Führen ungeeignet oder nur noch bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 2 FeV). Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV ist zur Klärung von Eignungszweifeln bei Alkoholproblematik ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen, wenn der Betreffende ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr oder einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l oder mehr führt. Darunter fällt auch die Fahrt mit einem Fahrrad (BVerwG, B.v. 20.6.2013 – 3 B 102.12 – NJW 2013, 2696 Rn. 5 ff; BayVGH, B.v. 22.12.2014 – 11 ZB 14.1516 – juris). Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen worden sind.
2. Die Anordnung eines Fahreignungsgutachtens kann aber nur auf Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gestützt, die dem Betreffenden noch entgegen gehalten werden dürfen. Werden Umstände berücksichtigt, die nach den Tilgungsbestimmungen nicht mehr zum Nachteil des Betroffenen verwendet werden dürfen, ist die Anordnung nicht zulässig. Ein solcher Fall liegt hier vor.
Nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. November 2016 (BGBl I S. 2722), werden Entscheidungen, die nach § 28 Abs. 3 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden sind, bis zum Ablauf des 30. April 2019 nach den Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung getilgt und gelöscht. Nach § 29 Abs. 8 Satz 2 des Straßenverkehrsgesetzes in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung (StVG a.F., entspricht § 29 Abs. 7 Satz 2 StVG n.F.) darf eine Eintragung im Fahreignungsregister über eine gerichtliche Entscheidung, die einer zehnjährigen Tilgungsfrist unterliegt, nach Ablauf eines Zeitraums, der einer fünfjährigen Tilgungsfrist entspricht, nur noch für die Durchführung von Verfahren, die eine Erteilung oder Entziehung einer Fahrerlaubnis zum Gegenstand haben oder zum Ergreifen von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystems nach § 4 Abs. 5 StVG an die nach Landesrecht zuständige Behörde übermittelt und dort genutzt werden.
Die Tilgungsfrist für die Verurteilung vom 2. November 2000 betrug dabei nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVG a.F. zehn Jahre, da dem Kläger mit diesem Urteil die Fahrerlaubnis entzogen worden war. Unabhängig davon, ob bei Feststellung des fünfjährigen Zeitraums nach § 29 Abs. 8 Satz 2 StVG a.F. die Anlaufhemmung des § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG a.F. zu berücksichtigen ist, waren daher spätestens am 2. November 2010 und damit auch zum Zeitpunkt der Gutachtensanordnung am 7. Januar 2015 fünf Jahre der Tilgungsfrist verstrichen und dieses Urteil konnte für die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge nicht mehr herangezogen werden.
Auch das Urteil vom 28. Dezember 2004, das nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a StVG a.F. nur einer fünfjährigen Tilgungsfrist unterlag, da damit weder die Fahrerlaubnis entzogen noch eine isolierte Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB festgesetzt worden war, konnte für die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge nicht mehr verwertet werden. Zum Zeitpunkt der Gutachtensanordnung war ein Zeitraum abgelaufen, der einer fünfjährigen Tilgungsfrist entspricht, unabhängig davon, ob der Ablauf der Tilgungsfrist nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. durch die Eintragung der Verurteilung aus dem Jahr 2000 ggf. bis 2. November 2010 gehemmt war.
Zwar war die Verwertung der beiden Straftaten aus den Jahren 2000 und 2004 für die Frage, ob das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum hinreichend sicher getrennt werden kann, noch zulässig. Die Frage danach war aber insgesamt nicht rechtmäßig, da der Kläger weder eine Fahrerlaubnis besitzt noch eine beantragt hat und daher kein Anlass bestand, dieser Frage nachzugehen.
Es ist demgegenüber unerheblich, dass die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 3 Abs. 2 i.Vm. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV zur Klärung, ob der Kläger das Führen von fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen von einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum hinreichend sicher trennen kann, auch alleine auf die letzte Straftat aus dem Jahr 2014 gestützt werden könnte (vgl. insoweit BVerwG, B.v. 20.6.2013 a.a.O. Rn. 5), denn das Landratsamt hat seine Anordnung nicht nur auf diesen Vorfall, sondern auch auf die älteren Vorkommnisse gestützt.
3. Grundsätzlich kann zwar die Verwertbarkeit eines vom Fahrerlaubnisinhaber vorgelegten Eignungsgutachtens auch bei einem Verstoß der Gutachtensanforderung gegen innerstaatliches Recht bejaht werden. Ein Kraftfahrer, der das von ihm geforderte Gutachten vorgelegt hat, kann nicht einwenden, die Behörde habe ihre Erkenntnisse rechtswidrig erlangt. Gleiches gilt im Falle der Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge bei Vorlage des Gutachtens. Das Ergebnis des Gutachtens schafft grundsätzlich eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat (vgl. BayVGH, U.v. 8.8.2016 – 11 B 16.595 – juris Rn. 24 m.w.N.; BVerwG, U.v. 28.4.2010 – 3 C 2.10 – BVerwGE 137, 10 Rn. 32). Das vom Kläger vorgelegte Gutachten beruht zwar auf einer unzulässigen Fragestellung, ist deshalb aber nicht zwangsläufig unverwertbar.
4. Das Gutachten ist jedoch hinsichtlich der Frage, ob der Kläger das Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge hinreichend sicher von einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum trennen kann, nicht nachvollziehbar i.S.d. Nr. 2 Buchst. a der Anlage 4a zur FeV. Die Nachvollziehbarkeit eines Gutachtens betrifft dessen Schlüssigkeit und verlangt sowohl die Wiedergabe aller wesentlichen Befunde als auch die Darstellung der zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen (vgl. OVG NW, B.v. 19.2.2013 – 16 B 1229/12 – juris Rn. 9). Das Gutachten ist hier nicht schlüssig, da es sich auch auf Vorfälle stützt, die zum Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung und damit auch der Gutachtenserstellung für die Untersagung des Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge dem Kläger nach den Tilgungsbestimmungen nicht mehr vorgehalten werden durften. Informationen bezüglich dieser Vorgänge dürfen von der Fahrerlaubnisbehörde nach § 29 Abs. 7 Satz 2 StVG nicht genutzt werden. Der Kläger hat diese Vorkommnisse auch nicht ohne Anlass selbst offenbart, sondern der Gutachter befragte ihn eingehend dazu, weil die diesbezüglichen Unterlagen sich in der Behördenakte befunden haben und für die Frage des fehlenden Trennungsvermögens beim Führen von Kraftfahrzeugen auch noch verwertbar waren.
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der Kläger durch die Vorlage des Gutachtens auf die Anwendung der Tilgungsbestimmungen zu seinen Gunsten verzichten wollte. Die Tilgungsbestimmungen des Fahreignungsregisters gründen sich auf den Gedanken der Bewährung (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.1976 – VII C 28.74 – BVerwGE 51, 359 Rn. 39). Nach einem längeren Zeitraum sollen dem Betroffenen keine Nachteile mehr aus lange zurückliegendem Verhalten entstehen. Dabei dürfen nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG sowohl die Tat als auch die Entscheidung dem Betroffenen nicht mehr vorgehalten werden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger diesen Gedanken nicht für sich nutzbar machen wollte, sondern er führte bei der Befragung hinsichtlich der lange zurückliegenden Taten auch aus, dass dies alles schon sehr lange her sei.
Das Gutachten wäre hinsichtlich der Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge daher nur dann nachvollziehbar, wenn die darin gezogenen Schlussfolgerungen auch ohne Berücksichtigung der Angaben zu den beiden Straftaten aus den Jahren 2000 und 2004 in sich schlüssig und nachvollziehbar wären.
Das Gutachten stützt sich aber auch hinsichtlich der Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge tragend auf diese Verurteilungen indem es zum einen feststellt, der Kläger habe nicht ausreichend mitgewirkt, da er sich bezüglich seines aus drei aktenkundigen Alkoholdelikten im Straßenverkehr abzuleitenden problematischen Trinkverhalten nicht hinreichend offen zeige. Zum anderen geht das Gutachten davon aus, die Angaben des Klägers seien nicht frei von Widersprüchen, da die Angaben zu dem Trinkverhalten auch vor dem Jahr 2005 die nachgewiesene Alkoholtoleranz nicht hinreichend erklärten. Darüber hinaus stellt das Gutachten fest, der Kläger müsse auch hinsichtlich des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge zwingend Alkoholabstinenz einhalten, da mehrere Trunkenheitsfahrten sowie eine Trunkenheitsfahrt am Nachmittag vorlägen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass das Gutachten hinsichtlich der Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es die beiden Vorfälle aus den Jahren 2000 und 2004 nicht berücksichtigt hätte.
5. Das Gutachten leidet auch an weiteren Mängeln, da es die Frage, ob der Kläger das Führen von fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann, mit der Frage vermischt, ob ein ausreichendes Trennungsvermögen beim Führen eines Kraftfahrzeugs besteht. Die Anforderungen an diese beiden Fragestellungen sind jedoch unterschiedlich, da das Führen eines fahrerlaubnisfreien Fahrzeugs bis zum Erreichen eines Wertes von 1,6 ‰ BAK keine Straftat nach § 316 StGB und auch keine Ordnungswidrigkeit darstellt, während mit einem Kraftfahrzeug schon ab einem Wert von 0,5 ‰ BAK eine Ordnungswidrigkeit vorliegt. Deshalb müssen ggf. auch bei den erforderlichen Strategien des Betreffenden, die dazu dienen, ein zukünftiges Fehlverhalten zu vermeiden, andere Maßstäbe angesetzt werden. Angesichts dieser Mängel kann offen bleiben, ob hinsichtlich der Forderung nach Alkoholabstinenz, ohne dass Alkoholabhängigkeit vorliegt, für fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge und Kraftfahrzeuge der gleiche Maßstab gelten kann.
6. Da das Gutachten die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge nicht trägt, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, ob bei der Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge als Dauerverwaltungsakt für die Frage der Eignung der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz entscheidungserheblich ist, da mit der Untersagung keine Erlaubnis entzogen wird (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.1976 – VII C 28/74 – NJW 1977, 1075), und ggf. die nunmehrige Tilgung der Eintragungen im Fahreignungsregister ohnehin eine neue Bewertung der Fahreignung erforderlich machen würde.
7. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709 ZPO. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war angesichts der schwierigen Rechtsfragen und des dadurch entstandenen Beratungsbedarfs für den rechtsunkundigen Kläger notwendig (Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG).
8. Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.