Versicherungsrecht

Berufsunfähigkeit – Pflicht des Versicherers zur Anerkennung der Leistungspflicht bei unwiderleglich vermuteter Berufsunfähigkeit

Aktenzeichen  23 O 12413/15

Datum:
20.4.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
r+s – 2017, 537
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) § 2 Abs. 2, § 6, § 8

 

Leitsatz

1. War der Versicherte einer Berufsunfähigkeitsversicherung sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50% außerstande, seinen Beruf oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit (hier: konkrete Verweisungsmöglichkeit) auszuüben und wird deshalb nach § 2 Abs. 2 BUZ die Dauerhaftigkeit der Berufsunfähigkeit nicht widerlegbar vermutet, so ist der Versicherer verpflichtet zu erklären, dass und ab wann er seine Leistungspflicht anerkennt (Anschluss an OLG Düsseldorf BeckRS 2001, 30204176).  (redaktioneller Leitsatz)
2. Unterlässt der Versicherer die nach § 6 BUZ gebotene Erklärung, so ist er so zu behandeln, als habe er den Anspruch umfassend anerkannt, und kann sich von dem zu unterstellenden bedingungsgemäßen Anerkenntnis nur im Wege des Nachprüfungsverfahrens lösen (Anschluss an OLG Düsseldorf BeckRS 2001, 30204176; vgl. zum Wegfall bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit während des Deckungsprozesses bei unterbliebenem Anerkenntnis des Versicherers auch BGH BeckRS 2016, 21382 Rn. 8 mwN). (redaktioneller Leitsatz)
3. Einem selbständigen Steuerberater und GmbH-Geschäftsführer, der seine Steuermandate selbst betreut und die Geschäftsführertätigkeit allein und höchstpersönlich auszuüben hat, kann eine Umorganisation nicht angesonnen werden (vgl. zu den Anforderungen an die Zumutbarkeit einer betrieblich sinnvollen Umorganisation BGH BeckRS 9998, 02496 unter II 3 b bb). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 221.079,77 € zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
ab dem 18.02.2014 aus 133.676,14 €
ab dem 01.03.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.04.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.05.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.06.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.07.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.08.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.09.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.10.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.11.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.12.2014 aus 5.141,39 €
ab dem 01.01.2015 aus 5.141,39 €
ab dem 01.02.2015 aus 5.141,39 €
ab dem 01.03.2015 aus 5.141,39 €
ab dem 01.04.2015 aus 5.141,39 €
ab dem 01.05.2015 aus 5.141,39 €
ab dem 01.06.2015 aus 5.141,39 €
ab dem 01.07.2015 aus 5.141,39 €
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab dem 01.08.2015 aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (Versicherungs-Nr. 24442337) eine monatliche Rente von 5.141,39 € zu zahlen, längstens bis zum 01.01.2026, zahlbar im Voraus bei Beginn eines Monats.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 17.780,85 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 26.08.2015 zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin ab dem 01.08.2015 von ihrer Beitragspflicht in der Risikolebensversicherung und der eingeschlossenen Berufsunfähigkeitsversicherung (Versicherungs-Nr. 24442337) zu befreien.
5. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.437,39 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 26.08.2015 zu zahlen.
6. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
7. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
8. Der Streitwert wird auf 473.150,90 € festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
I.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung der monatlichen Berufsunfähigkeitsrente seit Januar 2012 aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrag.
Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass der Ehemann der Klägerin, der Zeuge … seit Dezember 2011 infolge Krankheit voraussichtlich dauernd außerstande war, seinen Beruf oder eine Verweisungstätigkeit auszuüben. Auf die Frage, ob diese eingetretene Unfähigkeit seinen Beruf auszuüben, später wieder entfallen ist, oder aufgrund der geltend gemachten psychischen Erkrankung fortbesteht, kommt es nicht an, da das Dauermoment gemäß § 2 Ziffer 2. BUZ unwiderleglich vermutet wird.
Als Beruf des Zeugen … ist dessen Tätigkeit als selbständiger Steuerberater und als alleiniger Geschäftsführer der … Verwaltungs-GmbH sowie Kommanditist der … KG in ihrer konkreten Ausgestaltung zu betrachten. Welche Tätigkeiten in welchem Umfang der Zeuge … zuletzt ausgeübt hatte, ist seinen Angaben im Rahmen der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung vom 13.05.2016 (Bl. 57/62) zu entnehmen, die nachvollziehbar und plausibel sind. Auch eine Umorganisation kommt danach nicht in Betracht, da der Zeuge seine Leistungen höchstpersönlich erbringt, insbesondere seine Steuermandate selbst betreut und die Geschäftsführertätigkeit allein und höchstpersönlich auszuüben hat. Das eine Umorganisation gerade nicht möglich war, ergibt sich insbesondere auch daraus, dass die Mitgesellschafter der … KG den Zeugen dazu gedrängt und aufgefordert haben seine Geschäftsführertätigkeit aufzugeben und seinen Kommanditanteil auf einen neuen Gesellschafter zu übertragen, was er letztlich auch getan hat. An der Richtigkeit der Angaben des Zeugen bestehen keine Zweifel.
Für diese Tätigkeit war der Zeuge … ab dem im April 2012 diagnostizierten Bandscheibenvorfall, welcher mit Schmerzen bereits seit November 2011 bestand, bis zur Operation im März 2015 und damit länger als sechs Monate zu mindestens 50% berufsunfähig. Die Fortdauer dieses Zustandes über sechs Monate hinaus hat gemäß § 2 Ziff. 2 BUZ Berufsunfähigkeit ausgelöst.
Die Unfähigkeit, der o.g. Tätigkeit zu mindestens 50% nachzugehen, wurde durch den Sachverständigen Prof. Dr. M. bestätigt. Der Sachverständige kommt nach Auswertung der vorgelegten Unterlagen sowie eigener Untersuchung des Zeugen … zu dem Ergebnis, dass seit dem Bandscheibenvorfall im Jahr 2011 Berufsunfähigkeit von mehr als 50% vorlag. Danach kam es bei dem Zeugen … Ende des Jahres 2011 zu einem Discusprolaps (umgangssprachlich Bandscheibenvorfall) in der Lendenwirbelsäule mit erheblichen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, die mehrfach auch stationär behandelt wurden. Aufgrund der eingeschänkten Sitz- und Stehfähigkeit, der Einschränkung ein Fahrzeug zu führen und der damit einhergehenden massiven Einschränkung in der Mobilität sowie der Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und des Schlafes durch die Schmerzen und die erforderliche Medikamenteneinnahme liegt Berufsunfähigkeit vor. Eine Verbesserung ist erst durch die Operation im April 2015 eingetreten, so dass etwa drei Monate nach dieser Operation eine Berufsunfähigkeit aus orthopädischer Sicht nicht mehr vorlag.
Das Gericht schließt sich den Ausführungen des Sachverständigen an und macht sich diese zu eigen. Der Sachverständige hat seine Diagnosen und das von ihm gefundene Ergebnis nachvollziehbar begründet. Der Sachverständige hat insbesondere im Rahmen der Anhörung seine Beurteilung erneut dargelegt und erläutert, insbesondere erklärt, dass die Tätigkeit des Zeugen … im Gemeinderat der Annahme einer Berufsunfähigkeit nicht entgegensteht. An der Sachkunde des gerichtsbekannt erfahrenen Sachverständigen bestehen keine Zweifel.
Eine weitere Frist zur Vorlage eines weiteren Privatgutachtens durch die Beklagte war nicht mehr zu gewähren, da die Vorlage zur Verzögerung des Rechtsstreits geführt hätte. Das im Schriftsatz vom 25.01.2017 im Rahmen der Aufzählung der an den Sachverständigen im Termin zur Anhörung zu stellenden Fragen erstmals genannte orthopädische Gutachten des Universitäts-Klinikums Ulm vom 23.09.2013 wurde zu keinem Zeitpunkt vorgelegt und auch nicht als Beweismittel angeboten. Die Benennung als Beweismittel erfolgte erstmals im Termin zur mündlichen Anhörung des Sachverständigen am 30.03.2017. Darüber hinaus hat der Sachverständige zum Inhalt des Gutachtens, soweit dieses Teil des letzten Sachvortrags im Schriftsatz vom 25.01.2017 war, Stellung genommen und nachvollziehbar erklärt, dass das Ergebnis des Gutachtens mit einer Berufsunfähigkeit von 30% zu Beginn und später 20% aufgrund der gleichzeitig getroffenen Feststellungen, der Zeuge könne leichte körperliche Tätigkeiten mit regelmäßigem Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen bis zu vier Stunden am Tag ausführen nicht nachvollziehbar sei. Insoweit wäre bei einer Ausübung der Tätigkeit für vier Stunden pro Tag bei einer Arbeitszeit von acht Stunden täglich wohl eher von einer 50%-igen Berufsunfähigkeit auszugehen, zumal sich die ausübbare Tätigkeiten auf leichte körperliche Tätigkeiten beschränke.
Der Klage war auch trotz des späteren Wegfalls der Berufsunfähigkeit auf orthopädischem Gebiet vollumfänglich stattzugeben. Auf die Frage, ob auch drei Monate nach der Operation im April 2015 noch Berufsunfähigkeit aufgrund der geltend gemachten psychischen Erkrankung vorliegt, kommt es nicht mehr an. Die Berufsunfähigkeit ist nach § 2 Abs. 2 der Versicherungsbedingungen im Jahr 2011 eingetreten, da der Zeuge … länger als sechs Monate dauerhaft nicht in der Lage war, die zuletzt ausgeübte Tätigkeit zu mehr als 50% auszuüben.
War der Versicherte – wie hier – sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50% außerstande, seinen Beruf oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit auszuüben und wird deshalb die Dauerhaftigkeit der Berufsunfähigkeit unwiderleglich vermutet, so ist der Versicherer verpflichtet zu erklären, dass und ab wann er seine Leistungspflicht anerkennt. Unerlässt der Versicherer diese Erklärung, so ist er so zu behandeln, als habe er den Anspruch umfassend anerkannt, und kann sich von dem zu unterstellenden bedingungsgemäßen Anerkenntnis nur im Wege des Nachprüfungsverfahrens lösen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.09.2001, Az. 4 U 206/00).
Wie sich der Gesundheitszustand des Zeugen … in der Folgezeit entwickelt hat, ist wegen der nachgewiesenen fiktiven Berufsunfähigkeit irrelevant, insbesondere kommt es nicht mehr darauf an, ob sich auch aus den weiteren Beschwerden auf psychiatrischem Gebiet eine Berufsunfähigkeit ergibt und für welchen Zeitraum diese vorlag bzw. ob diese noch vorliegt.
Auf der Grundlage ihrer Vertragsbedingungen wäre die Beklagte gemäß § 6 BUZ verpflichtet gewesen zu erklären, dass und ab wann sie ihre Leistungspflicht anerkennt. Diese Erklärungspflicht trifft die Beklagte auch dann, wenn es (nur) um die „fiktive“ Berufsunfähigkeit geht (vgl. BGH VerR 1989, 1182; VersR 1997, 436/437). Diese nach den Versicherungsbedingungen gebotene Erklärung hat die Beklagte nicht abgegeben. Von einem hier zu unterstellenden bedingungsgemäßen Anerkenntnis hätte sich die Beklagte nur im Wege des Nachprüfungsverfahrensgemäß § 8 BUZ lösen können. Dieses Verfahren ist an bestimmte Formalien geknüpft, insbesondere an eine förmliche Mitteilung, dass dieses Verfahren eingeleitet worden ist, samt Gegenüberstellung des vom Versicherer angenommenen Ist-Zustand gegenüber dem zur Zeit des Anerkenntnisses zugrundegelegten Zustand. In dieses Nachprüfungsverfahren ist die Beklagte ersichtlich nicht eingetreten, da sie – auch im Rahmen des Leistungsprozesses bis zuletzt – die ursprüngliche Berechtigung des Anspruchs bestreitet.
Die Klägerin hat somit Anspruch auf Zahlung der eingeklagten rückständigen Renten in Höhe von 221.079,77 € und auf Zahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 5.141,39 € ab dem 01.08.2015 bis längstens 01.01.2026.
Der Zinsanspruch hinsichtlich der rückständigen Berufsunfähigkeitsrente ergibt sich aus §§ 288, 286 BGB. Die Beklagte befand sich aufgrund ihrer Leistungsablehnung vom 18.02.2014 ab diesem Zeitpunkt in Verzug.
II.
Der Anspruch auf Rückerstattung der seit Eintritt der Berufsunfähigkeit geleisteten Beiträge ergibt sich aus § 812 Abs. 1 S. 1 BGB.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288, 291 ZPO.
III.
Mit dem Rentenanspruch aus der Berufsunfähigkeitsversicherung ist bedingungsgemäß auch ein Anspruch auf Prämienfreiheit nach § 1 Ziff. 1 a.), Ziff. 3. der Versicherungsbedingungen verbunden. Ein Feststellungsinteresse besteht.
IV.
Der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten ergibt sich als Verzugsschaden aus §§ 230, 286 BGB. Zum Zeitpunkt der Einschaltung eines Rechtsanwalts, der mit Schreiben vom 08.07.2014 die Beklagte erneut zur Leistung aufforderte, befand sich die Beklagte im Verzug. Dieser ist mit der Ablehnung vom 18.02.2014 eingetreten.
Die Zinszahlungspflicht folgt aus §§ 288, 291 ZPO
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.

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