Aktenzeichen 1 A 3/18
§ 11 Abs 5 AufenthG
§ 60 Abs 5 AufenthG
§ 11 Abs 1 AufenthG
§ 11 Abs 2 AufenthG
§ 58a Abs 1 S 2 AufenthG
§ 58a Abs 1 S 1 AufenthG
§ 60 Abs 1 AufenthG
§ 60 Abs 2 AufenthG
Art 14 Abs 3 EURL 2017/541
Art 3 EURL 2017/541
Art 9 Abs 1 EURL 2017/541
Art 6 Abs 1 GG
Art 8 Abs 1 MRK
Art 3 MRK
§ 50 Abs 1 Nr 3 VwGO
Leitsatz
Eine terroristische Gefahr im Sinne des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt eine unmittelbare räumliche Beziehung zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Bundesrepublik Deutschland nicht voraus.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein 21 Jahre alter türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Anordnung seiner Abschiebung in die Türkei.
2
Er ist als zweitjüngstes von fünf Kindern seiner Eltern im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Seine Eltern und seine beiden Schwestern leben im Bundesgebiet, seine beiden älteren Brüder waren zuletzt in der Türkei aufhältig, in der auch weitere Verwandte leben. Er besuchte nach der Grundschule zunächst die Hauptschule. Zur siebten Klasse wechselte er auf eine Förderschule. Nach deren Abschluss und der Absolvierung eines Berufsvorbereitungsjahres erwarb er den qualifizierten Hauptschulabschluss. Den Besuch einer Berufsfachschule beendete er vorzeitig. Hiernach war er in der Zeit von März 2016 bis Ende 2016 als Aushilfe und in der Zeit von März 2017 bis Dezember 2017 als Kurierfahrer und Lagerarbeiter tätig. Im November 2013 wurde ihm eine Niederlassungserlaubnis erteilt.
3
Der Kläger wurde am 18. Dezember 2017 am Flughafen bei der Ausreise festgenommen. Mit nicht rechtskräftigem Urteil vom 4. Juni 2018 sprach ihn das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – im Zusammenhang mit der von ihm beabsichtigten Ausreise vom Vorwurf der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a Abs. 2a StGB frei. Über die seitens der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung ist noch nicht entschieden worden.
4
Mit einer ohne Briefkopf ausgefertigten Verfügung vom 24. Oktober 2018 ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport – gestützt auf § 58a AufenthG – die Abschiebung des Klägers in die Türkei an. Noch am gleichen Tag wurde dieser festgenommen und gegen ihn zur Sicherung seiner Abschiebung Haft angeordnet. Am 2. November 2018 stellte das Hessische Ministerium des Innern und für Sport dem Kläger und seinem Prozessbevollmächtigten eine mit Briefkopf ausgefertigte inhaltsgleiche Verfügung vom gleichen Tag zu. Darin ordnete es erneut die Abschiebung des Klägers in die Türkei an (Ziffer I). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1, 2, 3, 5 und 7 AufenthG, die seiner Abschiebung in die Türkei entgegenstehen könnten, nicht vorlägen (Ziffer II) und dass das mit seiner Abschiebung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG unbefristet gilt und keine Ausnahme hiervon zugelassen wird (Ziffer III). Zur Begründung der von dem Kläger ausgehenden besonderen Gefahrenlage führte es aus, dieser identifiziere sich mit dem jihadistischen Islamismus, pflege enge Kontakte zu wenigstens gleichgesinnten Personen, sei bereit, nach Syrien oder in den Nordirak auszureisen, um sich an der Waffe ausbilden zu lassen und dort in einem vermeintlich religiösen Krieg zu kämpfen, und heiße den Märtyrertod gut. Er habe umfangreiches Ton- und Videomaterial besessen, das als Propagandamaterial jihadistischer (Terror-)Organisationen bewertet worden sei, und nicht nur ein reges Interesse, sondern eine Begeisterung für und den Willen zur Teilnahme an dem Jihad entwickelt. Er habe beabsichtigt, zum Zwecke der Teilnahme an einem solchen Kampf nach Syrien oder in den Nordirak auszureisen. Der Freispruch von dem Vorwurf der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat widerstreite der Annahme eines entsprechenden beachtlichen Risikos nicht, da sich die gefahrenabwehrrechtlichen Prüfungsmaßstäbe von denen des Strafrechts unterschieden. Die persönliche und charakterliche Entwicklung des Klägers sei von einer zunehmenden Radikalisierung geprägt. So sei er Mitglied des Vereins “Die wahre Religion” gewesen und habe sich im Jahr 2016 wiederholt an der Koranverteilaktion “LIES!” beteiligt. Die Mitgliedschaft in dem Verein “Ansaar International e.V.” habe er angestrebt. Er habe religiöse Vorträge unter anderem des salafistischen Predigers Pierre Vogel besucht und die Aufmerksamkeit von Bernhard Falk, einer bundesweit bekannten Größe in der salafistischen und islamistischen Szene, auf sich gezogen. Intensiven Kontakt habe er mit einem Koranlehrer gepflegt, der ihn als “geistiger Führer” mit seinem zumindest fundamentalistischen Islamverständnis und salafistischer Religiosität beeinflusst habe. Über seinen Facebook-Account habe er im Internet ein Zitat eines D. D. kundgetan, dass, wer den Propheten beleidige, getötet werden müsse. Er habe zeitweise einen Salafistenbart getragen und wiederholt den Tauhid-Finger gezeigt. Das Ausmaß seiner Radikalisierung lasse es als hinreichend wahrscheinlich erscheinen, dass er seiner Überzeugung Taten folgen lassen und im Einklang mit dieser Überzeugung zu jihadistischen, mithin terroristischen Maßnahmen auch im Bundesgebiet greifen werde. Seine Unterweisung in einem Ausbildungslager etwa im Umgang mit Schusswaffen oder Sprengvorrichtungen lasse für den Fall einer Rückkehr eine massive Bedrohungslage für die innere Sicherheit besorgen.
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Am 30. November 2018 hat der Kläger bei dem Bundesverwaltungsgericht Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, die in der Verfügung vom 2. November 2018 zur Begründung der Abschiebungsanordnung angeführten Tatsachen rechtfertigten nicht die Prognose, von seiner Person gehe eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr aus. Sämtliche Erkenntnisse datierten aus dem Zeitraum 2016 und 2017. Die Aktion “LIES!” habe er nur einmalig beziehungsweise für die Dauer von zwei Monaten beziehungsweise fünf bis sechs Mal unterstützt. An der Aktion “We love Mohammed” habe er sich niemals beteiligt. Über Gespräche und Kontakte mit den in der Abschiebungsanordnung bezeichneten Personen sei er in die salafistische Szene hineingeraten. Zu der Person des Bernhard Falk habe es nur einen einmaligen Kontakt gegeben, der zudem nicht von ihm ausgegangen sei und in dessen Rahmen er diesen um die Benennung eines geeigneten Rechtsanwalts gebeten habe. In diese Zeit sei auch die Äußerung “Wer den Propheten beleidigt, muss getötet werden” einzuordnen. Diese stamme nicht von ihm, sondern sei der Titel eines Vortrages. Er habe bekundet, dass die betreffende Aussage falsch sei. Ihm sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei dem Tauhid-Finger um ein Symbol für den islamischen Monotheismus handle. Von radikalen salafistischen Kräften habe er sich abgegrenzt; von dem Terrorismus distanziere er sich; die Terrororganisation IS lehne er ab. Ein Foto, welches ihn gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern mit einer Langwaffe seines Großvaters zeige, sei ein Familienfoto. Nur ein Teil der abgehörten Telefonate sei in das Verfahren eingeführt worden. Kommunikationen, die er vor der Polizei habe verheimlichen wollen, habe er ohnehin über andere Dienste geführt. Die Befürchtung seiner Eltern, er habe im Dezember 2017 beabsichtigt, nach Syrien zu reisen, sei unbegründet gewesen. Mit der Behauptung, er werde “zum Jihad gehen”, habe er lediglich seine Mutter provozieren wollen. Er sei noch nie in Syrien gewesen. Der in Telefonaten verwendete Begriff “Honig” habe als Umschreibung seines seinerzeit regelmäßigen Besuchs bei Prostituierten beziehungsweise dazu gedient, die Polizei zu verwirren. Der Umstand, dass er mit einem One-Way-Ticket in die Türkei habe fliegen wollen, rechtfertige nicht die Annahme, er habe sich seinerzeit nach Syrien begeben wollen. Auch bei einem Türkei-Aufenthalt im Jahr 2016 habe er sein Rückflugticket in der Türkei erworben. Sein Ankunftsort N. liege mehr als 550 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Mit dem bei dem Ausreiseversuch im Dezember 2017 mitgeführten Bargeld habe er seinen Unterhalt bestreiten, Geschenke für seine Familienmitglieder kaufen, Unterkünfte bezahlen, das Rückflugticket erwerben und sich gegebenenfalls von der Einziehung zum Militärdienst freikaufen wollen. Seiner Einordnung als radikaler Salafist widerstreite auch, dass er einen Hund halte, der ihm äußerst wichtig sei. Er sei im Bundesgebiet in das Leben seiner Familie integriert. Seine Eltern beabsichtigten nicht, ihr Hausgrundstück zu verkaufen, um in die Türkei zurückzukehren. Er habe sich nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in Kooperation mit der Arbeitsverwaltung um eine Weiterbildung zum LKW-Fahrer bemüht. Zudem gebe er Sportunterricht für Jugendliche. In der Abschiebungshaft führe er sich vorbildlich. Aufgrund seines beanstandungsfreien Verhaltens seien ihm Vergünstigungen zugestanden worden. Die Türkei kenne er allein aus Urlaubsreisen und Besuchsaufenthalten bei seinen Verwandten.
6
Der Kläger beantragt,
die Verfügung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 2. November 2018 aufzuheben.
7
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
8
Er verteidigt die angegriffene Verfügung.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich nicht an dem Verfahren.
10
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beteiligten eine Liste mit Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand Januar 2019) zur Kenntnis gebracht.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte dieses und des Verfahrens BVerwG 1 VR 12.18, den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten, die Ausländerakte, die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft (im Folgenden: Ermittlungsakte) und die Gefangenenpersonalakte.