Aktenzeichen Au 5 K 17.32906
Leitsatz
1 Subjektive, selbst geschaffene Nachfluchtgründe sind nur dann beachtlich, wenn sie als notwendige Konsequenz einer dauernden, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen Lebenshaltung erscheinen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt erreicht jedenfalls in Kabul als innerstaatlicher Fluchtalternative kein solches Niveau, dass praktisch jede Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
3 Das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG setzt voraus, dass der Betroffene bei einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre, wenn es ihm also insbesondere nicht mehr gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu befriedigen. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4 Dem minderjährigen Kläger, der im Iran geboren ist und dort – bis auf kurzzeitige Aufenthalte in Afghanistan im Alter von zwei bzw. drei Jahren – mit seiner Familie gelebt hat, kann eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zugemutet werden, weil er ohne familiäre Unterstützung in eine existenzielle Notlage geraten würde. (Rn. 40 – 44) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Mai 2017 wird in Nrn. 4 bis 6 insoweit aufgehoben, als die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage ist nur zum Teil begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Soweit der Kläger mit seiner Klage darüber hinausgehend die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes begehrt, erweist sich die Klage hingegen als unbegründet.
Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 war daher in dessen Nrn. 4 bis 6 aufzuheben. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen im Fall des Klägers nicht vor.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Gemessen an diesen Maßstäben konnte der Kläger eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen. Eine solche scheidet – bezogen auf den Zielstaat Afghanistan – bereits deshalb aus, weil der Kläger keine Vorverfolgung in Afghanistan erlitten hat. Der Kläger, der im Iran geboren ist, hat sich in Afghanistan allenfalls im Alter von zwei bzw. drei Jahren kurzzeitig (für die Dauer von sechs Monaten bzw. längstens eineinhalb Jahre) aufgehalten und ist nach der dauerhaften Rückkehr der Familie in den Iran auch nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Das diesbezügliche Vorbringen des Klägers begegnet keinen Glaubwürdigkeitsbedenken. Da sich der Kläger seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr in seinem Heimatland aufgehalten hat, sind keine Anhaltspunkte für eine individuelle Vorverfolgung bezogen auf den Zielstaat Afghanistan ersichtlich.
Soweit der Kläger auf eine eventuell zu einem späteren Zeitpunkt beabsichtigte Konversion verweist, bleibt dieser Vortrag unbeachtlich. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2018 selbst ausgeführt, dass er noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten sei und noch Zeit benötige, um die entsprechenden Informationen einzuholen. Der Entscheidung ist jedoch die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 14. Mai 2018 zugrunde zu legen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Danach hat die bloße Möglichkeit einer späteren Konversion des Klägers zum Christentum im jetzigen Zeitpunkt der Entscheidung unberücksichtigt zu bleiben.
Ebenfalls nicht geeignet, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu begründen, ist der Vortrag der Bevollmächtigten des Klägers, dass dieser aufgrund seines zwischenzeitlich fast dreijährigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland einen westlichen Kleidungs- und Lebensstil angenommen habe. Subjektive, selbst geschaffene Nachfluchttatbestände können regelmäßig nur dann in Betracht gezogen werden, wenn die selbst geschaffene Nachfluchttatbestände sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellen, mithin als notwendige Konsequenz einer dauernden, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen Lebenshaltung erscheinen (§ 28 Abs. 1 AsylG). Hieran fehlt es vorliegend offensichtlich. Zum anderen knüpfen die geltend gemachten Tatbestände, die eine Rückkehr des Klägers nach Afghanistan ausschließen sollen, gerade nicht an ein in §§ 3, 3b AsylG genanntes Merkmal an. Mithin besteht kein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im hier maßgeblichen Zeitpunkt und war die Klage diesbezüglich daher abzuweisen.
2. Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der Kläger hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Es ist nicht zu erwarten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 AsylG) drohen könnten. Der Kläger hat hierzu bereits keine Tatsachen vorgetragen bzw. glaubhaft gemacht. Hierzu ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen.
Zudem wäre der Kläger insofern auf eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative (Kabul) zu verweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG).
b) Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor, weil dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt landesweit drohen. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen zur Sicherheitslage in Afghanistan (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4) erreicht der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt jedenfalls in Kabul als innerstaatlicher Fluchtalternative kein solches Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 13a ZB 17.30099 – juris; B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – juris; B.v. 10.6.2013 – 13a ZB 13.30128 – juris; U.v. 15.3.2013 – 13a B 12.30406 – juris; U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30394 – juris). Individuelle, gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts in der Person des Klägers führen, sind nicht ersichtlich.
Auch führt die Lage in Afghanistan nicht dazu, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2018 – 13a ZB 17.30687 – nicht veröffentlicht; B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris; B.v. 8.11.2017 – 13a ZB 17.30615 – juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris).
Dem Kläger steht – unabhängig von seiner strafrechtlichen Verurteilung – kein subsidiärer Schutzstatus zu. Ob der Kläger also eine schwere Straftat (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG) begangen hat oder ob er nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, kann vorliegend daher offenbleiben.
3. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Nach dieser Bestimmung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II Seite 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt dabei voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13A B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197).
Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen im Fall des Klägers vor. Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sein Existenzminimum nicht mehr gesichert wäre.
In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel ist zwar nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4; vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13A ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Insbesondere für alleinstehende volljährige, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht in aller Regel die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Afghanistan aufzubauen (stRspr. des BayVGH, vgl. u.a. B.v. 30.7.2015 – 13A ZB 15.30031 – juris Rn. 10; U.v. 15.3.2012 – 13A B 11.30439 – juris Rn. 25). Ob jedoch wegen besonderer individueller Umstände des Ausländers eine Ausnahme vorliegt, lässt sich hingegen nicht allgemein beantworten.
Im vorliegenden Fall ist aufgrund des Alters des Klägers, der noch minderjährig ist und den Gesamtumständen seines bisherigen Lebens nach Überzeugung des Gerichts ein solcher Ausnahmefall gegeben. Wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan ist davon auszugehen, dass der Kläger ohne Hilfe nicht in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. Das Gericht ist aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Auffassung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde.
Der Kläger, der im Iran geboren ist, hat sich lediglich im Alter von zwei bzw. drei Jahren kurzzeitig in Afghanistan aufgehalten. Er ist daher mit den Lebensumständen in Afghanistan nicht vertraut. Zudem kann der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben nicht auf eine familiäre Unterstützung in Afghanistan zurückgreifen, da sich seine nahen Familienangehörigen ausschließlich im Iran aufhalten. Über Verwandtschaft, die dem Kläger bekannt wäre, verfügt der Kläger in Afghanistan nicht. Dem Kläger war in der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2018 auch nicht geläufig, ob bzw. welche entfernten weiteren Verwandten in Afghanistan an welchen Orten eventuell vorhanden sind. Nach seinen Angaben hätten auch seine Eltern, die sich ebenfalls im Iran aufhalten, wohl keinen Kontakt zu entfernten Verwandten in Afghanistan bzw. sei ihm ein solcher nicht bekannt.
Zwar ist im Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich davon auszugehen, dass ein spezielles „Vertrautsein“ mit den Verhältnissen in Afghanistan in der Regel nicht erforderlich ist und junge alleinstehende Männer auch ohne familiäre Unterstützung in der Lage sind, sich ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 13A ZB 16.30600 – juris Rn. 7). Dies bezieht sich im Wesentlichen auf volljährige junge Männer, denen grundsätzlich eine eigenständige Lebensführung zugemutet werden kann. Es hängt jedoch wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab, wann allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot führen. Daher erfordert diese Beurteilung eine Prüfung der Umstände im konkreten Einzelfall. Anhand dieser Prüfungskriterien ist vorliegend in einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen, davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall vorliegt.
Vorliegend ist das Gericht aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen einer Gesamtschau in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen. Zum einen ist der Kläger gerade erst einmal 16 Jahre alt und erschwerend kommt für ihn hinzu, dass er spätestens seit seinem 3. Lebensjahr erneut ausschließlich im Iran gelebt hat. Darüber hinaus verfügt der Kläger nach seinen durchaus glaubwürdigen Angaben über keinerlei Familienangehörige in Afghanistan mehr, die ihn finanziell oder in sonstiger Weise bei einer unterstellten Rückkehr unterstützen könnten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass in der Provinz Kunduz, aus der die Familie des Klägers ursprünglich stammt, noch Grundbesitz vorhanden ist. Auch ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass der Kläger aufgrund der von ihm geschilderten allenfalls geringfügigen Beschäftigungen – dem Verkauf von selbst erworbenen Waren auf dem örtlichen Basar –zu einer eigenständigen Lebensführung bei einer unterstellten Rückkehr nach Kabul in der Lage wäre. Auf eine solche Unterstützung dürfte der Kläger jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan zwingend angewiesen sein. Grundbesitz der Familie ist in Afghanistan ebenfalls wohl keiner mehr vorhanden. Hinzu kommt, dass der Kläger zwar im Iran eine (private) Schulausbildung durchlaufen hat, jedoch über keinerlei qualifizierte Berufsausbildung bzw. -erfahrung verfügt. Der Kläger hat bislang lediglich durch geringfügige Gelegenheitsarbeiten zum Familieneinkommen beigetragen. Den Haupt-Unterhalt der Familie hat er hingegen nicht sichergestellt. Dass der Kläger zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage sein könnte, ist für das Gericht nicht im Ansatz erkennbar. Der noch minderjährige Kläger wäre deshalb bei einer Rückkehr nach Afghanistan darauf angewiesen, im als gerichtsbekannt hart umkämpften Arbeitsmarkt als ungelernte Kraft sein Existenzminimum sicherzustellen. Dies dürfte im Hinblick auf die vermehrt schwierige Wohnungssituation und die Tatsache, dass es sich beim Kläger um eine ungelernte Kraft handeln würde, dem Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen. Als allein auf sich gestellter Minderjähriger dürfte der Kläger weitergehende Schwierigkeiten habe, eine angemessene Unterkunft zu finden bzw. auf dem Arbeitsmarkt, in den viele zurückkehrende Flüchtlinge drängen, Fuß zu fassen. Ausgehend von der Rechtsprechung entspricht der Kläger daher gerade nicht dem Regelfall des jungen, volljährigen und alleinstehenden Afghanen, dem eine Rückkehr in sein Heimatland durchaus zugemutet werden kann. In einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen – der Kläger befindet sich auch aktuell jedenfalls noch bis zum Erreichen der Volljährigkeit im Rahmen eines Jugendhilfeprogramms –, ist davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall gegeben ist.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für den Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 EUR für Erwachsene vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 EUR gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger haben dürfte, überhaupt eine adäquate Unterbringung in Kabul zu finden bzw. als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die über dies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12. August 2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben des Klägers in Afghanistan ohne familiären Rückhalt und Unterstützung zu gewährleisten.
Es ist daher davon auszugehen, dass es dem minderjährigen Kläger nicht gelingen wird, sich in Afghanistan im Kampf um die wenigen Arbeitsplätze, um Wohnmöglichkeiten oder beim Zugang zu Hilfeleistungen Dritter gegenüber denjenigen durchzusetzen, die ihrerseits rücksichtslos für ihre eigenen Interessen kämpfen.
Die strafrechtliche Verurteilung des Klägers steht der Feststellung eines Abschiebungsverbotes auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht entgegen. Dies ergibt sich bereits auf der Grundlage des § 60 Abs. 9 Satz 2 AufenthG, wonach selbst in den Fällen des Abs. 8 die Abs. 2 bis 7 des § 60 AufenthG unberührt bleiben. Überdies bleibt zu berücksichtigen, dass selbst eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren (hier nicht gegeben) aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann zum Ausschluss von Asyl- und Abschiebungsschutz führt, wenn im Einzelfall eine konkrete Wiederholungsgefahr festgestellt wird. Die Anwendung des § 60 Abs. 5 AufenthG bleibt indessen stets unberührt.
Schließlich lässt sich ein anderes rechtliches Ergebnis auch nicht mit der Vorschrift des § 58 Abs. 1a AufenthG begründen, wonach sich die Behörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers zu vergewissern hat, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird. Vorliegend fehlt es bereits bezogen auf den Rückkehrstaat Afghanistan an der Möglichkeit einer Übergabe an aufnahmebereite Familienangehörige.
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten des Klägers vor. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
4. Der Klage war daher teilweise stattzugeben. Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheides war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 aufzuheben, soweit dem Kläger darin die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde. Die Bezeichnung des Zielstaats in der Abschiebungsandrohung erweist sich im Hinblick auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris) und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).Die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen bleibt hierdurch unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Aufgrund der festgestellten Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung nach Afghanistan war auch das in Nr. 6 des Bescheides verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 AufenthG) aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei dem unterschiedlichen Gewicht des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).