Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot aufgrund fehlender Überlebensmöglichkeiten eines im Iran aufgewachsenen Afghanen

Aktenzeichen  W 1 K 18.30098

Datum:
1.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1022
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet, wobei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich ist. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Gerade in der Kumulation der geschilderten negativen Einzelumstände der fehlenden Überlebensmöglichkeiten eines im Iran aufgewachsenen Exil-Afghanen ohne schulische und berufliche Bildung und ohne unterstützungsbereite Verwandtschaft in Afghanistan liegt eine besondere humanitäre Ausnahmesituation vor. (Rn. 21 – 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4., 5. und 6. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2017 verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten durch Schriftsatz vom 30. Januar 2018 bzw. allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 ihr Einverständnis hierzu erteilt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist – soweit sie noch Gegenstand dieses Verfahrens ist – begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 21. April 2017 (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zwar macht der Kläger nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern beruft sich auf die allgemein schlechte Lage in seinem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall jedoch eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (vgl. etwa BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878).
Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O., juris – Rn. 16ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19). Eine solche ist jedoch bei dem Kläger gegeben.
Die aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familienbzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Aus der Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes für Afghanistan vom 28. Juli 2017 ergibt sich insoweit nichts grundlegend Abweichendes: In fast allen Regionen werde von der Bevölkerung die Arbeitslosigkeit als das größte Problem genannt. Die Zahl der neu hinzugekommenen Binnenvertriebenen sei im ersten Halbjahr 2017 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 25% gesunken. Die afghanische Regierung habe unter Beteiligung der internationalen Geberschaft sowie internationaler Organisationen mit der Schaffung einer Koordinierungseinheit zur Reintegration der Binnenflüchtlinge und Rückkehrer reagiert. Ein Großteil der internationalen Geberschaft habe zudem beschlossen, die Finanzmittel für humanitäre Hilfe im Rahmen eines Hilfsappells des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Angelegenheit OCHA aufzustocken. Trotz internationaler Hilfe übersteige der derzeitige Versorgungsbedarf allerdings das vorhandene Maß an Unterstützungsmaßnahmen seitens der Regierung.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Si-cherheitslage vom 14.09.2017, Seite 27 ff.) führt aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt bleibe, wobei der Anteil der notleidenden Bevölkerung im Verlaufe des Jahres 2016 um 13% angestiegen sei; 2017 benötigten 9,3 Millionen Afghanen dringend humanitäre Hilfe. Die Arbeitslosenquote sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte rasant angestiegen und inzwischen auch in städtischen Gebieten hoch. Gleichzeitig seien die Löhne in Gebieten, welche von Rückkehrströmen betroffen seien, signifikant gesunken. Nach wie vor seien die meisten Menschen in der Land- und Viehwirtschaft oder als Tagelöhner tätig. Die zunehmenden Rückkehrströme hätten zu einem enormen Anstieg an Unterkunftsbedarf geführt, weshalb sich insbesondere in der Hauptstadt Kabul die Wohnraumsituation extrem verschärft habe. Rund 68% der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu adäquaten Sanitätsinstallationen und ca. 45% keinen Zugang zu aufbereitetem Trinkwasser. Rund 40% der Bevölkerung sei von Lebensmittelunsicherheit betroffen. Die Zahl der von ernsthafter Lebensmittelunsicherheit betroffenen Menschen steige an und umfasse inzwischen 1,6 Millionen Personen. In Gebieten, die von hohen Rückkehrströmen betroffen waren, seien die Lebensmittelpreise stark angestiegen. Etwa 9 Millionen Menschen, in besonderem Maße Frauen und Kinder, hätten keinen oder nur beschränkten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, welchen es auch an angemessener Ausstattung mangele. Im Jahr 2016 sei der Druck zur Rückkehr auf afghanische Flüchtlinge im Iran und in Pakistan dramatisch angestiegen; Kabul sowie die Provinzen im Norden, Nordosten und Osten des Landes seien in besonderem Maße betroffen gewesen. Rückkehrende fänden oft keine adäquate Unterkunft; sie lebten oft in notdürftigen Behausungen mit schlechten Sanitäranlagen. Der eingeschränkte Zugang zu Land, Nahrungsmitteln und Trinkwasser und die begrenzten Möglichkeiten zur Existenzsicherung stellten eine enorme Herausforderung für diesen Personenkreis dar. Aufgrund der äußerst schwierigen Lebensbedingungen würden Rückkehrende oft zu intern Vertriebenen, deren Zahl Ende 2016 auf etwa 1,4 Millionen Menschen geschätzt worden sei und deren Lage sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert habe. Auch für Flüchtlinge aus Europa gestalte sich eine Rückkehr schwierig. Die Bevölkerung Kabuls solle sich binnen nur sechs Jahren verdreifacht haben. Dort lebten etwa 75% der Bevölkerung in informellen und behelfsmäßigen Behausungen, die oft weder ans Wasserversorgungsnetz noch an die Kanalisation angeschlossen seien. Der Zugang zu Lebensmitteln habe sich rasant verschlechtert, was unter anderem auf die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen sei. Armut sei weit verbreitet. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung Kabuls könne sich keine medizinische Behandlung leisten. Die große Zahl der Rückkehrenden und intern Vertriebenen führe zur Überlastung der bereits äußerst stark beanspruchten Infrastruktur zur Erbringung der Grunddienstleistungen in der Hauptstadt Kabul aber auch andernorts, insbesondere in den wichtigsten Provinzstädten und Bezirken.
Der UNHCR weist in seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016 darauf hin, dass sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe, was damit einher gehe, dass sich der Konflikt in Afghanistan im Laufe des Jahres 2016 weiter ausgebreitet habe und die Zahl der zivilen Opfer im ersten Halbjahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um weitere 4% gestiegen sei. Die Zahl der intern Vertriebenen habe im Jahr 2016 auf Rekordniveau gelegen; zudem sei auch aus den Nachbarländern Pakistan und Iran eine große Zahl von Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt, was zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten der Provinzen und Distrikte in Afghanistan geführt habe. Dies gelte auch für die Stadt Kabul, wo nur begrenzte Möglichkeiten der Existenzsicherung, eine extrem angespannte Wohnraumsituation sowie mangelnder Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen bestehe, sodass die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Umfeld eines dramatisch verschärften Wettbewerbs um den Zugang zu knappen Ressourcen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Antragstellers geprüft werden müsse.
Dies zugrunde gelegt steht einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung im Regelfall davon ausgeht, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein Abschiebungsverbot festzustellen ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 3.11.2017 – 13a ZB 17.30625 – juris). Denn abweichend von den Verhältnissen im Regelfall befindet sich der hiesige Kläger nach Überzeugung des Gerichts in einer besonderen Ausnahmesituation.
Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan dort ohne familiären Rückhalt oder verwandtschaftliche Strukturen ganz auf sich allein gestellt wäre. Der Kläger hat insoweit vor dem Bundesamt glaubhaft angegeben, dass er im Iran geboren wurde und sich ausschließlich im Alter von zwei Jahren knapp ein Jahr lang mit seinen Eltern in Afghanistan aufgehalten habe. Fortan habe er wieder im Iran gelebt bis zu seiner Ausreise im Alter von 15 Jahren, mithin im Jahre 2011. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger in Afghanistan nicht über Verwandte verfügt, die ihm Unterstützung angedeihen lassen würden. Der Kläger hat insoweit vor dem Bundesamt glaubhaft erklärt, dass er zwei Onkel mütterlicherseits in Herat habe, er jedoch noch nie Kontakt mit diesen gehabt habe. Konkretisierend hat er nunmehr im gerichtlichen Verfahren angegeben, dass er nicht einmal wisse, ob diese überhaupt noch in Afghanistan lebten. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass familiäre Bindungen in Afghanistan im Allgemeinen stärker ausgeprägt sind als dies in Deutschland der Fall ist, kann unter den hier gegebenen Umständen nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger auf Hilfeleistungen durch diese beiden Onkel, sollten sie sich überhaupt noch in Afghanistan aufhalten, wird hoffen können. Denn diese Umstände sind dadurch geprägt, dass zwischen dem Kläger und seinen Onkeln zu keiner Zeit Kontakt bestanden hat, nicht einmal deren genauer Aufenthaltsort bekannt ist und in Afghanistan außerordentlich schwierige wirtschaftliche Lebensbedingungen herrschen, die relevante Unterstützungsleistungen ohnehin nur im Ausnahmefall realistisch erscheinen lassen, wofür im Falle der beiden Onkel nichts ersichtlich ist. Diese Einschätzung wird offensichtlich auch durch das Bundesamt nicht in Abrede gestellt (vgl. S. 8 des Bundesamtsbescheides). Erschwerend ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass der Kläger lediglich über eine elementare Grundbildung verfügt, indem er im Iran aus finanziellen Gründen lediglich zwei oder drei Jahre lang die Abendschule besuchen konnte. Er hat sich damit keine Bildung aneignen können, die es ihm ermöglicht hätte, seine beruflichen Chancen bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu erhöhen. Auch einen Beruf hat der Kläger nicht erlernt, sondern sich finanziell damit über Wasser gehalten, dass er als Kind und Jugendlicher Weizen als Taubenfutter an Touristen verkauft habe; er hat hierbei zudem stets in seinem Familienverbund gelebt und war dort nicht auf sich allein gestellt. Vor diesem Hintergrund sähe sich der Kläger in Afghanistan aufgrund der Erkenntnismittellage in erheblicher Weise mangelnden Erwerbsmöglichkeiten gegenüber. Der Kläger hat überdies die prägende Zeit seines Lebens nicht in Afghanistan, sondern im Iran und nunmehr bereits rund 7 Jahre in Europa verbracht und war daher nicht in der Lage, sich entscheidende Kenntnisse über die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan anzueignen und Strategien für ein Überleben in Afghanistan, etwa in Kabul, zu entwickeln. Die Verhältnisse im Iran sind zudem nicht mit den wesentlich schlechter entwickelten und schwierigeren Strukturen in Afghanistan zu vergleichen. Schließlich ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger weder von den beiden etwaig in Afghanistan verbliebenen Onkeln (vgl. hierzu bereits oben) noch den im Iran befindlichen Familienmitgliedern finanzielle Unterstützung erwarten kann. Denn der Kläger hat hierzu glaubhaft erklärt, dass die wirtschaftliche Lage der Familie im Iran schlecht gewesen sei; das Geld habe nur für das Essen gereicht. Schon früh habe der Kläger aus finanziellen Gründen nicht mehr zur Schule gehen können und habe Taubenfutter verkaufen müssen. Der Vater sei als einfacher Teppichflechter tätig gewesen; er habe zudem die Familie verlassen und sich einer neuen Frau zugewandt. Deshalb habe der Kläger auch seit mehreren Jahren nunmehr keinen Kontakt mehr zum Vater, so dass eine Unterstützung von dieser Seite nach Überzeugung des Gerichts ausgeschlossen erscheint. Auch eine Unterstützung durch die im Iran bei ihrem Bruder lebende Mutter sei nicht möglich, was unter den beschriebenen finanziellen Verhältnissen im Iran in jeder Hinsicht realistisch erscheint. Überdies verfügt der Kläger weder im Inland noch im Ausland über Grundbesitz oder Ersparnisse, welche ihm eine Rückkehr nach Afghanistan erleichtern könnten.
Der vorstehenden Einschätzung des Gerichts, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner individuellen Lebensgeschichte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die dortigen allgemeinen Lebensverhältnisse gegenüber sähe, steht auch nicht entgegen, dass der Kläger im Iran im Familienverbund sein Überleben (noch) sicherstellen konnte. Denn es ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Lebensverhältnisse im Iran und in Afghanistan nicht miteinander vergleichbar sind, was allein daran festzumachen ist, dass der Iran im Human Development Index 2016 weltweit auf Platz 69 zu finden ist (und damit über dem weltweiten Durchschnitt), während Afghanistan mit Rang 169 einen der hintersten Plätze weltweit einnimmt (vgl. https://en.wikipedia.org/ wiki/List_of_countries_by_Human_Development_ Index). Dass es damit in Afghanistan ungleich schwerer ist, den Lebensunterhalt sicherzustellen, liegt auf der Hand.
Nach alledem wird ersichtlich, dass bei dem Kläger vielfältige und schwerwiegende negative Gesichtspunkte im Hinblick auf eine Überlebensmöglichkeit in Afghanistan kumuliert zusammentreffen. Gerade in der Kumulation der geschilderten negativen Einzelumstände liegt hier aber eine besondere Ausnahmesituation begründet. Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK gleichkommt und diesem nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides festzustellen.
Nach alledem war der Klage, soweit sie Gegenstand dieses Verfahrens ist, stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen