Aktenzeichen M 17 K 17.31269
Leitsatz
1 Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden schlechten humanitären Bedingungen davon auszugehen, dass eine extreme Gefahrenlage besteht, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 3 EMRK führt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei einer Trennung der Familienangehörigen im Asylverfahren ist bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle eine Abschiebung in den Heimatstaat drohen, regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen (ebenso BayVGH BeckRS 2015, 41010). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Januar 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger ¾, die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 15. Mai 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagtenseite nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist, soweit sie aufrecht erhalten wurde, zulässig und begründet, da die Beklagte verpflichtet ist, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 – juris Rn. 53 m.w.N.). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen. Ein derartiger Ausnahmefall ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich das Gericht anschließt, regelmäßig bei einer Familie mit minderjährigen Kindern im Hinblick auf die zu erwartenden schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan anzunehmen (vgl. z.B. U.v. 21.11.2014 – 13 a B 14.30285 – juris).
2. Im vorliegenden Verfahren ist von einem besonderen Ausnahmefall im o.g. Sinn auszugehen.
2.1 Zwar handelt es sich bei dem Kläger um einen jungen Mann, dieser ist aber nicht alleinstehend. Vielmehr ist er nicht nur nach – in Afghanistan grundsätzlich maßgeblichen – religiösen Riten verheiratet, sondern er hat auch mit seiner Frau zwei gemeinsame Kinder, für die nach den vorgelegten Urkunden die gemeinsame Sorge der Eltern besteht. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan müsste der Kläger für seine Ehefrau und seine Kinder sorgen. Er hat insoweit auch glaubhaft dargelegt, dass die noch in Afghanistan lebenden Verwandten nicht in der Lage seien, auch noch den Kläger und seine Familie in ausreichender Weise zu unterstützen. Angesichts der Lebensbedingungen in Afghanistan und der Tatsache, dass seine Kinder noch sehr klein und betreuungsbedürftig sind, dürfte der Kläger daher zur Sicherung der Existenz seiner Familie nicht im Stande sein. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger und seine Familie eine adäquate Unterkunft finden und medizinische Hilfe, die gerade bei zwei kleinen Kindern von besonderer Bedeutung ist, wäre wohl ebenfalls nicht zu erreichen bzw. zu bezahlen (vgl. BayVGH, .v. 21.11.2014 – 13 a B 14.30285 – juris Rn. 20, 24 f.).
2.2 Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Beklagte die Verfahren des Klägers einerseits und der Ehefrau und des erstgeborenen Kindes andererseits aus nicht nachvollziehbaren Gründen getrennt und hinsichtlich Letzterer ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt hat. Insbesondere kann der Kläger aufgrund dieser Abschiebungsverbote nicht als alleinstehender Mann behandelt werden und deswegen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG verneint werden (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30929 – juris Rn. 2). Denn unter Einbeziehung der Bedeutung, welche die deutsche Rechtsordnung dem Schutz von Ehe und Familie beimisst (Art. 6 GG), ist bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle eine Abschiebung in den Heimatstaat drohen, regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13 a B 14.30285 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die einzelne und isolierte Rückkehr eines Familienmitglieds ist weder realistisch noch von Rechts wegen einzufordern (vgl.a. VG München, U.v. 9.3.2017 – 26 K 16.35269 – UA S. 7). Hätte die Beklagte über die gleichzeitig gestellten Anträge der Familie auch gleichzeitig in einem Bescheid entschieden, hätte der gesamten Familie ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG zugestanden. Der Kläger kann nicht schlechter gestellt werden, nur weil hier – aus welchen Gründen auch immer – zwei getrennte Bescheide ergingen.
Hinzukommt, dass der Kläger mittlerweile Vater eines zweiten Kindes geworden ist, für das er – neben der Mutter – das Sorgerecht hat. Für dieses Kind wurde aber bisher kein Abschiebungsverbot festgestellt, so dass zumindest insoweit nicht von einer getrennten Rückführung ausgegangen werden kann.
Nach alledem war der Klage daher hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben (Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids). Dementsprechend waren auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO (soweit die Klage teilweise zurückgenommen wurde) und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.