Aktenzeichen 13a B 16.30007
Leitsatz
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist für Afghanistan festzustellen, wenn der Asylsuchende an schwerwiegenden psychischen Erkrankungen (u.a. einer posttraumatischen Belastungsstörung) leidet, die sich bei seiner Rückkehr verschlimmern würden. Denn eine ausreichende psychiatrische Behandlung ist in Afghanistan (Kabul) nicht verfügbar. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
RN 8 K 15.31594 2015-10-07 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg
Tenor
I.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. Oktober 2015 wird wie folgt geändert: Unter Änderung der Nr. 4 und Aufhebung der Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juli 2015 wird die Beklagte verpflichtet, bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte. Von den Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht trägt der Kläger ¾, die Beklagte ¼.
III.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheits-leistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Verwaltungsstreitsache ist trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif. Nach § 102 Abs. 2 VwGO konnte auch ohne sie verhandelt und entschieden werden.
Die (nur) die Feststellung eines national begründeten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG betreffende Berufung ist zulässig und begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1‚ § 128 Satz 1 VwGO). Insoweit ist der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 10. Juli 2014 rechtswidrig und das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. Oktober 2014 abzuändern. Das Bundesamt ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) verpflichtet festzustellen‚ dass bei dem Kläger das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt. Einer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es nicht, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U. v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden‚ wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib‚ Leben oder Freiheit besteht. Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solche ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG; siehe BVerwG‚ U. v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 66 = DVBl 2003, 463; U. v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – BVerwGE 105‚ 383 = NVwZ 1998‚ 524 m. w. N.). Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert‚ weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ die dazu führen‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann‚ wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht‚ dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können (BVerwG‚ U. v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – BVerwGE 127‚ 33 = NVwZ 2007‚ 712). Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ genügt nicht die bloße theoretische Möglichkeit‚ Opfer von Eingriffen in Leib‚ Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ angelegte‚ wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für „diesen“ Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG‚ U. v. 17.10.1995 – 9 C 9.95 – BVerwGE 99‚ 324 zu § 53 Abs. 6 AuslG; vgl. auch B. v. 17.6.2010 – 10 B 8.10 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff AufenthG Nr. 40). Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist damit in Krankheitsfällen, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, U. v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – BVerwGE 142, 179 = InfAuslR 2012, 261; B. v.17.8.2011 – 10 B 13.11 – juris).
Wegen seiner Erkrankung droht dem Kläger bei Rückkehr in die Heimat eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr. Der vom ihm im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorgelegte psychiatrische Befundbericht eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 10. September 2015 kommt zu dem Ergebnis‚ dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer ängstlichen depressiven Störung und einer Somatisierungsstörung leidet, gekennzeichnet nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) mit F43.1, F41.2 und F45.0. Gegen diese Diagnose und die Sachkunde des Arztes bestehen keine Bedenken. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie besitzt er unstreitig die notwendige Sachkunde. Das Ergebnis ist zwar kurz, aber nachvollziehbar und in sich widerspruchsfrei dargelegt (BVerwG‚ B. v. 26.6.1992 – 4 B 1.92 u. a. – NVwZ 1993‚ 572). Es beruht auf einer persönlichen Untersuchung des Klägers, die zunächst – wie in der mündlichen Verhandlung vorgetragen – unter Einschaltung eines Dolmetschers erfolgte. Die Folgekonsultation erfolgte ohne Dolmetscher. Zusammenfassend stellt der Facharzt fest‚ das psychiatrischerseits ein komplexes Krankheitsbild bestehe und bei einer Rückführung ins Heimatland mit einer Verschlechterung des psychischen Zustandsbildes zu rechnen sei. Gleichzeitig initiierte er eine kombinierte antidepressive Behandlung mit Citalopram und Quetiapin.
Damit legt das Gutachten zur Überzeugung des Senats dar‚ dass der Kläger an mehreren psychischen Beschwerden leidet. Die Beklagte ist diesem Befund weder im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht noch im Berufungsverfahren entgegengetreten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof vom 17. März 2016 hat der Kläger seine Beschwerden persönlich geschildert, die von ihm eingenommenen Medikamente vorgezeigt und ausgeführt‚ dass er weiterhin in ärztlicher Behandlung sei. Die psychischen Probleme seien erst nach dem Tod des Vaters in Afghanistan aufgetreten. Auch insoweit wird dem nichts entgegengesetzt. Der Kläger hat zudem bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 12. September 2014 auf seine psychischen Probleme hingewiesen. Die dann dort vorgelegte ärztliche Bescheinigung eines Facharztes für Allgemeinmedizin vom 16. September 2014, wonach er gesund und frei von ansteckenden Krankheiten sei, kann den Befund bereits deswegen nicht in Frage stellen, da sie sich mangels Kompetenz des Bescheinigungsausstellers nicht auf psychische Beschwerden erstrecken und nur die fachärztliche Stellungnahme maßgeblich sein kann. Im Übrigen gibt es für die hier entscheidungserheblichen medizinischen Fachfragen (Diagnose von Art und Schwere der Erkrankung, Einschätzung des Krankheitsverlaufs bzw. der gesundheitlichen Folgen je nach Behandlungs- sowie Therapiemöglichkeiten im Heimatland) grundsätzlich keine eigene Sachkunde des Richters (BVerwG, B. v. 17.08.2011 – 10 B 13.11 – juris; B. v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – NVwZ 2007, 345).
Dem psychiatrischen Befundbericht vom 10. September 2015 zufolge besteht Behandlungsbedarf. Eine fachkompetente medikamentöse psychiatrische Behandlung ist geboten. Diese ist in Afghanistan nicht gewährleistet. Bereits im Befundbericht ist ausgeführt‚ dass davon auszugehen sei‚ dass das Krankheitsbild des Patienten in Afghanistan nicht angemessen behandelt werden könne. In seiner rechtskräftigen Entscheidung vom 3. Juli 2012 (13a B 11.30064 – juris) hat der Senat festgestellt, dass eine rezidivierende depressive Störung mittelgradiger Ausbildung in Afghanistan nicht ausreichend behandelbar ist und zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt. Nach einer vom Gericht in jenem Verfahren eingeholten und den Parteien dieses Verfahrens bekannten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 3. Juli 2011 bestehen zwar in Kabul einige psychiatrische Kliniken. Allerdings müssten Familienangehörige verfügbar sein‚ die den Patienten versorgten. Dass sich an dieser Situation etwas geändert haben könnte, ist nicht ersichtlich. Vielmehr leidet nach dem aktuellen Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 6. November 2015 (Lagebericht – LB) die medizinische Versorgung in Afghanistan trotz der erkennbaren und erheblichen Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattungen der Kliniken‚ insbesondere aber an fehlenden Ärzten und Ärztinnen sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – finde‚ abgesehen von einzelnen Pilotprojekten‚ nach wie vor nicht in einem ausreichenden Maß statt. Traditionell mangele es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke (LB IV.1.2.).
Nach all dem ist nach Überzeugung des Gerichts mit ausreichender Sicherheit anzunehmen‚ dass dem Kläger eine deutliche Verschlechterung seiner psychischen Erkrankung in Afghanistan droht. Er befände sich bei einer Rückkehr dorthin in einer aussichtslosen Lage. Dabei geht die Beurteilung von der Situation aus‚ die den Kläger in seiner Heimat erwarten würde. Nur solche zielstaatsbezogenen Umstände sind bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen. Dies ist hier der Fall‚ denn eine Verschlechterung der psychischen Erkrankungen des Klägers tritt vorliegend wegen der fehlenden Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan ein.
Die Beklagte war daher unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 7. Oktober 2015 zu verpflichten‚ unter Änderung der Nr. 4 und Aufhebung der Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juli 2015 bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan festzustellen. Nachdem nur insoweit die Berufung zugelassen war‚ verbleibt es im Übrigen bei der erstinstanzlichen Klageabweisungsentscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen‚ da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.